20 Jahre nach dem ersten virtuellen Parteitag und ein halbes Jahr nach der großen Schaltkonferenz, dem digitalen Länderrat, tagte an diesem Wochenende die grüne Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) digital. Hashtag #dbdk20. Corona macht’s möglich – und gleichzeitig lässt sich feststellen: so eine digitale BDK ist fast genauso anstrengend wie zweieinhalb Tage in irgendeiner Messehalle zu sitzen, dort Reden zu lauschen, konzentriert abzustimmen und nebenbei noch den einen oder anderen Plausch zu halten. Die Hin- und Rückfahrt entfällt, aber das macht das fehlende Wochenende auch nicht wett.
Eigentlich sollte diese BDK in Karlsruhe stattfinden – mythenumrankter Gründungsort der Partei, die sich zum vierzigjährigen Jubiläum ein Programm für heute gibt. Dann hieß es irgendwann, Karlsruhe bleibt Austragungsort, die BDK selbst wird aber ins Netz verlegt. Und schließlich die Entscheidung angesichts des November-Lockdowns: der Parteivorstand und das Team drumherum, die Technik, die Presseleute, Netzbegrünung und Verdigado, die Journalist:innen – bleiben in Berlin, im immer wieder für wichtige Parteitage genutztem Tempodrom. Nebenbei war angesichts einer Debatte um eine Vorverlegung des Beginns am Samstag dann auch zu erfahren, das zum lokalen Hygienekonzept ein strenges Testregime gehört, das einen früheren Beginn am Samstag verunmöglicht. Aber es war auch so schon lang genug. Freitag wurde bis spät am Abend getagt, Samstag erst kurz vor Mitternacht abgebrochen (und dann noch ein Konzert von Die Höchste Eisenbahn gestreamt), und Sonntag ging’s nicht wie geplant von 10 bis 14 Uhr, sondern erst deutlich nach 17 Uhr dankte Micha Kellner allen Beteiligten und verabschiedete die Delegierten.
Die hatten da einen Bildschirm-Marathon hinter sich. Meine digitale BDK – und die war vermutlich für jede:n anders – fand am heimischen Schreibtisch statt. Auf zwei Monitoren breitete sie sich über fünf Kanäle aus, daneben hatte ich noch ein Dokument für Notizen und die Antragsliste offen.
Erstens: Zentraler Ort dieser dezentralen BDK war bdk.gruene.de, eine Netz-App (oben rechts zu sehen), die fast alle wichtigen Funktionen für den Parteitag vereinte: Stream aus der Halle (für den ich dann später auf zweitens den Youtube-Stream umgeschaltet habe, nachdem sich der grüne Server als wackliger als gedacht erwies), Funktionen zum Management der Stimmberechtigung, zum Abstimmen selbst, dazu Möglichkeiten, sich für Reden zu melden, Geschäftsordnungs-Anträge zu stellen und virtuell Applaus zu geben. Letzteren erkennt, wer genau hinsieht: ein Strom kleiner Herzchen und Sonnenblumen, die – je nach Zahl der gleichzeitig applaudierenden 800 Delegierten – mal stärker und mal schwächer aufstiegen. So ganz erschloss sich der Zusammenhang zwischen Klick auf den Applaus-Knopf und Reaktion auf dem Bildschirm jedoch nicht. Also: das Grundgerüst für den Parteitag.
Zweitens: Youtube, mit permanentem Livestream aus der Halle. Irgendwer hat das mit einer mehrtägigen interaktiven Live-Fernsehshow verglichen, die die Partei da gestemmt hat, und das passt ganz gut. Diesmal ganz besonders, weil es unzählige vorproduzierte Videos und sehr coole und sehr professionelle Trailer zu Tagesbeginn und zu den einzelnen Programm gab – die Serie hätte ich mir sofort auf Netflix angeschaut. Und weil es eine extra Parteitagsmoderation gab, die aus einem zeitgenössischen Retrowohnzimmer heraus im Wechsel mit dem für den formalen Ablauf zuständigen Parteitagspräsidium Pausen überbrückte, prominente Köpfe ansagte und dergleichen mehr. Netter Smalltalk für Zwischendurch also. Auch Micha Kellner, Annalena Baerbock und Robert Habeck wurden in verschiedenen Zeitungsartikeln über diese BDK mit Entertainern verglichen, nicht ganz zu unrecht. (Best ofs und Einspieler lassen sich auf dem grünen Youtube-Kanal nachschauen, ebenso wie die großen politischen Reden. Und das mich mit Blick auf die Arbeit der letzten Jahre sehr nostalgisch stimmende Making of Grundsatzprogramm)
Dritter Kanal: Chatbegrünung, der mitgliederinterne Chat. Dort war richtig viel los – anfangs vor allem Menschen, die technische Probleme hatten oder Fragen zum Ablauf, was von einem mehrstufigen Support gut bearbeitet wurde, sofern nicht Mitglieder und Delegierte sich untereinander Tipps gaben. Ausloggen, einloggen – das war das eine Mantra. Und Gelassen bleiben – ab Samstag von meditativer Musik in den Auszählpausen unterstützt – warten, dem Server Zeit geben. Der stürzte dann trotzdem Samstagabend kurz vor Mitternacht, mitten in der Abstimmung, ab – „die Server müssen gekühlt werden“. Auch hier half der Support im Chat dabei, dass alle die Ruhe bewahrten, keine Panik ausbrach, und geordnet die Halle verlassen wurde. Samstag und Sonntag verschob sich der Schwerpunkt der Debatte dann zu hitzigen Überzeugungsversuchen für die eine oder andere Position. Vor- und Nachteile von Volksentscheiden, die (wahren) Kosten des Grundeinkommens, Hintergründe zur Gentechnik-Debatte oder engagierte Plädoyers für einzelne Anträge – all das fand ebenfalls im #bdk-Kanal der Chatbegrünung statt. Manchmal chaotisch, aber doch ein ganz guter Ersatz für die Gespräche und Zwischenrufe in der Halle.
Viertens: mit meinen Ko-Delegierten aus dem Kreisverband tauschte ich mich in einer WhatsApp-Gruppe aus; andere KVs machten das auf Chatbegrünung oder in eigenen parallelen Konferenzen. Wie sollen wir abstimmen, was kommt als nächstes, wie schmeckt der Kaffee … all solche Fragen wurden da besprochen, eben genau wie am Delegiertentisch in der Halle.
Der fünfte Kanal ist einer, der für mich auch bei den letzten Hallen-BDKs schon massiv an Bedeutung gewonnen hat. Twitter. Unter dem Hashtag #dbdk20 sammelten sich hier Paralleldebatten – unter Delegierten, aber auch mit den Journalist:innen, die den Parteitag beobachteten, und mit Mitgliedern und Sympathisant:innen. Spannend und sehr lebendig.
Für das richtige Parteitagsfeeling, so ein Gedanke während dieser drei Tage, braucht es drei Zutaten: 1/3 Show, 1/3 Nervenkitzel, wenn es um strittige Abstimmungen geht, und 1/3 mit Leuten quatschen. Und irgendwann war das alles da. Zwar auf Abstand, aber doch fast wie ein richtiger Parteitag in der Halle. Der Bonuslevel wäre dann die eigene Rede vor liebevoll gestaltetem Hintergrund gewesen – da bin ich leider nicht ausgelost worden, das war aber auch einer der hakeligsten Punkte, mit den meisten Problemen – trotz Corona seit Februar ist noch längst nicht jeder mit parteitagstauglicher Videokonferenztechnik ausgestattet, und selbst Profis hatten teilweise – ja, Jürgen – Schwierigkeiten, wenn es Echos gab, der Ton nicht funktionierte oder unklar war, wann sie zu reden beginnen sollten. Neben adretten Regenbogenfahnen und hübsch hergerichteten Wohnzimmern gab’s auch grob verrauschte Zuschaltungen mit mehr erahnbarer Tonspur. Gerade im Kontrast zum professionell gefilmten Hallenprogramm, zu den vorproduzierten Einspielern mit hoher Qualität ging das manchmal an die Nerven.
Doch auch das ist nicht unbedingt anders als in der Halle – nach zwölf Redner:innen lässt die Konzentration nach, und nicht jede:r ist geübt darin, seine oder ihre Argumente vor 800 Delegierten und der Bundespresse auszubreiten.
Spontane Zwischenrufe fehlten hier – ebenso wie der Applaus-Simulator nur schwacher Ersatz für echten Applaus, mageres Klatschen oder jubelnde Begeisterungsstürme war.
1/3 Nervenkitzel bei den Abstimmungen: das gab es hier durchaus. Auch die Abstimmungen gehörten zum zumeist sehr cool und gelassen ertragenen Experiment. Manchmal dauerte es eine ganze Zeit, bis die eigene Stimmberechtigung erkannt wurde. Manchmal musste die Website neu geladen werden, bis die korrekte Abstimmung angezeigt wurde. Trotzdem gab es durchweg eine hohe Beteiligung an den insgesamt rund 40 oder 50 Abstimmungen. Wie bei Programmdebatten üblich, war der größte Teil der über tausend Änderungsanträge zum Grundsatzprogramm schon vor dem Parteitag verhandelt worden – mit Einigungen, modifizierten Übernahmen, zurückgezogenen Anträgen. Was übrig blieb, waren einerseits die großen Kontroversen (mit dem Nervenkitzel bei der Abstimmung), und andererseits Anträge, die in den Abstimmungen unter zehn Prozent Zustimmung bekamen, deren Antragsteller:innen – meist Antragsteller – sich aber nicht auf Kompromisse im Vorfeld einlassen wollten. Weil jede Abstimmung diesmal lange dauerte, war das bei diesem Parteitag ein bisschen ärgerlich.
Annalena und Robert machten auf diesem Parteitag sehr klar, dass das neue Grundsatzprogramm die grüne Antwort auf eine veränderte Weltlage ist. „Jede Zeit hat ihre Farbe“ war das Parteitagsmotto, und die Farbe der 20er Jahre ist grün, die Herausforderungen groß, und diejenigen, die den Anspruch erheben, diese Sachen anzupacken, sind wir. Wenn es so etwas wie eine Metabotschaft dieses Parteitags war, dann der Anspruch, führende Kraft zu werden und eigenständige Antworten für die ganze Gesellschaft zu geben.
Ein Teil dieses Anspruchs ist das neue Grundsatzprogramm. „Veränderung schafft Halt“ steht darüber, und ausgehend vom Mensch uns seiner Würde und Freiheit werden die grünen Grundwerte Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Demokratie und Frieden ausbuchstabiert und mit konkretisierten Haltungen und Vorhaben hinterlegt. Mir gefällt das im Ergebnis – von der einen oder anderen Entscheidung, bei der ich in der Minderheit war – sehr gut. Für mich strahlt dieses Programm tatsächlich die Haltung aus, ein Angebot zu machen, mit dem viele Menschen etwas anfangen können, und das dennoch glasklar ein grünes Programm ist. Das ist ein guter Kompass für die 20er Jahre – verwurzelt im Tatsächlichen, aber mit dem Mut, auch große politische Antworten zu geben.
Das 1,5‑Grad-Ziel und die planetaren Grenzen werden als harte politische Leitlinien definiert. Das klingt banal, ist aber alles andere als selbstverständlich, und ernst genommen ein klarer Auftrag für weiteichende Veränderungen in ganz unterschiedlichen Sektoren. Und dabei ist klar: die ökologische Transformation ist notwendig, aber sie wird nicht gelingen, ohne Menschen und auch die Wirtschaft mitzunehmen. Das heißt dann auch: da, wo es sinnvoll ist, politisch zu regulieren und zu steuern. (Und nicht alles auf den Schultern von Verbraucher:innen abzuladen – die großen Räder werden woanders gedreht …)
Wir buchstabieren eine Gesellschaft der Vielen aus – ja, gerade als immer noch weiße, akademische Mittelschichtspartei. Was heißt es, in einer Gesellschaft der Vielen zusammen zu leben – was bedeutet das für Demokratie, was bedeutet der Bezug auf Vielfalt, wenn es darum geht, einen gemeinsamen Kern zu erhalten? Stärker als früher werden dabei die Institutionen und die parlamentarische Demokratie betont – ergänzt durch neue Beteiligungsformen wie geloste Bürger:innenräte, und erweitert durch eine Ausweitung der Wahlberechtigen und eine Senkung des Wahlalters.
Soziale Rechte nehmen in diesem Programm breiten Raum ein – vom Recht auf Bildung und dem freien Zugang dazu über das Recht auf Wohnen bis zum in einer strittigen Abstimmung ins Programm aufgenommenen grundsätzlichen Orientierung unserer Sozialpolitik an der Leitlinie eines Grundeinkommens. Auf dem Weg dahin sprechen wir uns für eine Garantiesicherung aus, die selbst schon einmal ein wichtiger Schritt ist, das Hartz-IV-System hinter uns zu lassen.
Wir beziehen uns positiv auf Wissenschaft, Fortschritt und Technologie – bei allen Hinweisen auch auf die Risiken. Das schlägt sich in der Haltung zur Gentechnik nieder, die zwar immer noch sehr vorsichtig ist, aber sich doch viel weiter öffnet als noch vor einigen Jahren, in einem generellen Bekenntnis zur Forschungsfreiheit, aber auch in der klaren Festlegung, dass Kassen Medikamente zahlen sollen, deren Wirkung wissenschaftlich erwiesen ist.
International machen wir uns für eine Förderale Republik Europa auf diesem Kontinent stark und wollen die multilateralen Institutionen weiter stärken. Gerade mit Blick auf Digitalisierung, auf Menschenrechte, auf Umweltstandards wird Europa dabei als eine politische Einheit gesehen, die stärker als bisher weltpolitisch aktiv werden muss und Standards setzen kann.
Ich bin mit diesem Grundsatzprogramm sehr zufrieden – und finde, dass dieser Parteitag, der ein komplexes Dokument und Verfahren mit über 800 Delegierten in großer Ruhe digital bewältigt hat (dank dafür nochmal an das großartige Präsidium!), auch selbst ein schönes Symbol dafür ist, dass Bündnis 90/Die Grünen sich auch nach vierzig Jahren mit großer Verve neuen Herausforderungen stellen und dabei und daran weiter wachsen!
Das gilt im Übrigen auch für das Vielfaltsstatut, das wir als Teil der Satzung beschlossen haben. Das schreibt einige Jahrzehnte nach dem grünen Frauenstatut doch ein bisschen Parteiengeschichte.
Und, weil ich gefragt wurde, was anders war als 2000 beim damaligen Virtuellen Parteitag der baden-württembergischen Grünen: fast alles. Video statt Textkommunikation als Hauptkanal. Synchrone Debatte und Abstimmungen statt Asynchronizität. Viel mehr Event, aber auch viel mehr Nebenbeikommunikation. Und schließlich eine richtig große Entscheidung, die dieser Parteitag im experimentellen Verfahren gefällt hat. Gleich bleibt die Feststellung, dass auch ein digitaler Parteitag Zeit und Kraft kostet – und ähnlich teuer ist wie ein Hallenparteitag. Und die Empfehlung, das einzelne Elemente – etwa das Abstimmungstool, das jederzeit zeigt, über was gerade abgestimmt wird – gut für Hallenparteitage verwendet werden können. Gleichzeitig zeigt diese digitale BDK, das mit gutem Willen einiges möglich ist und Parteitage nicht wegen Corona in die ferne Zukunft verschoben werden müssen. Bei Wahlen wird es schwierig – bisher sind Vorstandswahlen parteirechtlich nicht erlaubt, und es gibt auch grundsätzliche Probleme dabei, geheime Wahlen digital abzubilden. Dennoch wäre jetzt genau der richtige Moment, um die starren Regularien des Parteiengesetzes zu lockern – und auch jenseits von Pandemien und großen Krisen ein bisschen mehr Digitalität und damit auch Teilhabe zu ermöglichen.
P.S.: Die Netzbegrünung hat einen spannenden Blick hinter die Kulissen der digitalen BDK veröffentlicht – samt Fehleranalyse, wie es Samstagabend zum Absturz der Server kam.
Eine Antwort auf „Die erste digitale Bundesdelegiertenkonferenz – Abstimmungsmarathon um unsere Grundwerte“