Hinter jedem Schild steckt eine Geschichte. Und ich frage mich, warum es notwendig war, dieses improvisierte Klimakrisendenkmal mit einem Betreten-Verboten-Hände-Weg-Schild auszustatten. Das zusammengefaltete, bei einem der letzten Stürme herabgewehte Kupferdach des Stuttgarter Opernhauses wird mitten im Eckensee vor dem Landtag präsentiert. Dahin kommt man also nur, wenn der See zugefroren ist. Es kann nicht darum gehen, dass das Kunstwerk nicht zerstört werden soll. Schließlich gibt es hier keine Künstler*in – das Dach wurde vom Wind zerbeult und heruntergeweht, und dann gab es die Entscheidung, es als Mahnmal liegen zu lassen. Vermutlich also – sehr deutsch – Haftungsfragen. Oder schlicht: Hände weg vom Klima!
Kurz: Frühling zu früh
Eine typische Handbewegung für die 2020er Jahre dürfte das Schulterzucken bei der Feststellung sein, dass es bereits Mitte/Ende Februar die ersten frühlingshaft warmen Tage gibt, dass die Schneeglöckchen und Narzissen, Krokusse und auch die ersten Obstbäume ungewöhnlich früh blühen. Schulterzucken deswegen, weil nicht so recht klar ist, wie damit umzugehen ist. Einerseits: großartig, eine wunderbare Jahreszeit beginnt Jahr für Jahr früher, und die Sonne scheint aufs Gesicht. Andererseits: Klimakrise, und mit der Verschiebung von Obstblüte und Vorfrühling nach vorne eben auch ein ganz klares und spürbares Zeichen, dass das mit diesen jetzt schon rund 1,5 Grad wärmeren Temperaturen eben Auswirkungen hat.
Auf den Demokratie-Demos kursierte das Lied der Mannheimer Musikerin Soffie, die von einem Land träumt, „in dem für immer Frühling ist“. Eingängige Melodie, schöner Text – und ein Land, in dem immer Frühling ist, hätte ja durchaus was. Nur: es ist recht wahrscheinlich, dass dem frühen Frühling ein früher und langer Sommer folgt. Und da hört der Spaß dann auf.
Über Infrastruktur, und wie wir sie erhalten können
Ich gebe zu, dass ich bei dem Thema etwas voreingenommen bin. Eine von den Dingen, die ich wirklich aus meinem Soziologiestudium mitgenommen habe, ist Praxistheorie: gesellschaftliche Regeln, Erwartungen usw. verfestigen sich, indem sie immer wieder wiederholt werden – und damit Bahnen schlagen für genau diese Regeln und Erwartungen. Es ist so, weil es schon immer so war. Soziale Strukturbildung ist fluide. Jetzt kommt Technik ins Spiel: in Infrastruktur und Artefakte gegossene Erwartungen sind sehr viel fester als bloße soziale Erwartungsbündel und tragen dazu bei, diese über die Zeit festzuschreiben. Bis hin zu kontingenten Entscheidungen, die heute extremen Einfluss darauf haben, was wir glauben zu tun zu können und was nicht. Egal, ob es das Layout von Tastaturen ist oder die Spurweite der Eisenbahn oder die Orientierung ganzer Städte auf das Auto. Mit Elizabeth Shove gesprochen: soziale Praktiken bestehen aus einer Trias aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Artefakten. Was ich sagen will: das Wechselspiel zwischen Infrastruktur und sozialer Strukturbildung fasziniert mich.
Genau da setzt Deb Chachras Buch How Infrastructure Works. Inside the Systems That Shape Our World (2023) an. Chachra – eine Professorin für Materialwissenschaft – beginnt (wie im ganzen Buch mit einem sehr lakonischen, anspielungsreichen und auch vor Wortspielen nicht zurückschreckenden Stil) mit einer Einführung, was Infrastrukturen überhaupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infrastrukturen aufeinander aufbauen. Und schon ziemlich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infrastruktur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne soziale Einbettung – und ohne soziale Wirkung – überhaupt nicht denkbar ist. Besonders an dem Buch ist zudem die vielfältige Perspektive. Chachra ist die Tochter von nach Kanada eingewanderten Inder*innen, und sie lebt inzwischen in den USA, zwischenzeitlich in Großbritannien. Das sind die Kontrastfolien, die immer wieder auftauchen.
Was im ersten Teil eher wie eine gute geschriebene Einführung in die Geschichte von Wasser, Gas, Elektrizität (und Verkehr) wirkt, wird dann schnell zu einem politischen Buch. Die Infrastruktur, die wir als gegeben hinnehmen, und die ein Ergebnis (und eine Grundlage) der Akkumulation von Reichtum in den westlichen Gesellschaften darstellt, ist ohne lange Handlungsketten, ohne Ausbeutung des globalen Südens, nicht denkbar. Infrastruktur ist in soziale und politische Systeme eingebettet und perpetuiert diese.
Oder, um es in zwei Zitate zu packen: „Infrastructural networks, by their nature, increase individual freedom collectively.“ (S. 115) – „Infrastructural networks could be fairly described as vast constructions whose purpose is to centralize resources and agency to a small fraction of extremely priviledged humans and to displace the harms to many others.“ (S. 134)
Chachra geht nun darauf ein, wie Infrastruktur „fails“ (fehlschlägt, kaputt geht – ich finde, das lässt sich nicht so richtig gut übersetzen). Das sind nämlich nicht nur Terroranschläge etc., sondern insbesondere auch langsam anwachsende Wartungsprobleme, weil zum Beispiel kein Geld da ist, um Brücken zu sanieren. Diese Art von Problemen nennt Chachra in Abgrenzung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red termites“ – lästig, fast unsichtbar, gut ignorierbar, und irgendwann stürzt die Brücke dann ein. („Any sufficiently advancded negliegence is indistinguishable from malice.“ (S. 161))
Funktionierende Erhaltung von Infrastruktur hat wiederum sehr viel damit zu tun, wie diese politisch eingebettet ist – geht es darum, einen Profit zu erwirtschaften, oder steht das Allgemeinwohl im Vordergrund? Wie viel Geld wird zur Verfügung gestellt, und wie wird die scheinbar so langweilige Routinearbeit der Überprüfung und Instandsetzung bewertet?
Neben Schwänen und Termiten taucht dann auch ein „gray rhino“ auf – das graue Nashorn, das längst im Raum steht, und gerne ignoriert wird, egal, wie es sich benimmt: der Klimawandel. Das es diesen gibt, hat viel mit Infrastruktur zu tun – im Bau und Betrieb von Infrastruktur steckt Energie, und die ist für die letzten 200 Jahre vor allem fossile Energie. Gleichzeitig führt der Klimawandel dazu, dass Infrastruktur Problemen ausgesetzt ist, die bisher unvorhergesehen sind. Jahrhundertstürme und ‑hochwasser häufen sich, Temperaturen schwanken über Bereiche hinaus, für die Straßen oder Stromleitungen vorgesehen sind. Der Klimawandel trägt also dazu bei, dass unsere für selbstverständlich hingenommene Infrastruktur schneller und schneller bröckelt und repariert und angepasst werden muss.
Wie das geschehen kann – und damit schlägt Chachra dann den ganz großen Bogen – wird in den letzten Kapiteln des Buchs ausgeführt, in dem sie eine Zukunftsvision zeichnet. Die besteht nicht aus glitzernder Hightech, sondern baut auf einer dezentralisierten, flexiblen und resilienten Grundlage auf. Das mag langweilig wirken, ist aber eine sehr viel konkretere Utopie. Aus einer Einführung in die Politik der Infrastrukturen wird hier ein gut begründetes politisches Manifest, das in sechs Handlungsmaximen mündet:
- Plan for Abundant Energy and Finite Materials
- Design for Resilience
- Build for Flexibility
- Move Toward an Ethics of Care
- Recognize, Prioritze, and Defend Non-monetary Benefits
- Make It Public
Das scheinen mir sehr gute Orientierungsplanken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Verkehrssysteme, Städteplanung, Kommunikationssysteme, Elektrik oder die Wasserver- und ‑entsorgung geht. Die Zusammenhänge, die Chachra zwischen Nachhaltigkeit im Sinne von Dauerhaftigkeit, einer gewissen Nutzungsflexibilität und dem Fokus auf Resilienz auf macht, erscheinen sehr plausibel. Dazu gehört auch der inhärente Widerspruch zwischen Optimierung/Effizienz einerseits und Resilienz andererseits. Ein System, das mit Änderungen seiner Umwelt, mit Problemen und Störungen klar kommen soll, braucht eine gewisse Redundanz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das System bis zum letzten Winkel auf Effizienz getrimmt wird.
Ganz nebenbei räumt Chachra hier in gelungener Weise mit dem Mythos auf, dass der individuelle Fußabdruck, wie ihn BP erfunden hat, ein hilfreiches Maß ist. Entscheidend sind die großen technischen Systeme, weil diese nicht nur unser Handeln ermöglichen und lenken, sondern in deren Bau und Betrieb auch der Löwenanteil unserer CO2-Emissionen steckt.
Insgesamt also ein rundum empfehlenswertes Buch, nicht nur für Nerds, sondern für alle, die eine Handlungsanleitung für den Umbau der technischen Welt, in der wir leben, brauchen können.
Kurz: Keine Überraschung, trotzdem schlecht
Die Tagesschau berichtet, dass der EU-Klimadienst Copernicus für Februar 2023 bis Januar 2024 zum ersten Mal durchgehend eine 1,5 Grad über dem vorindustriellen Schnitt liegende Temperatur festgestellt hat (das Jahr 2023 insgesamt lag mit 1,48 Grad knapp unter dieser Marke).
Oder anders gesagt: das 1,5‑Grad-Ziel wurde gerissen, und zwar schon ein paar Jahre vor dem dafür vorhergesagten Zeitpunkt. Politisch heißt das: selbst mit einem Rekordzubau an erneuerbaren Energien weltweit sind wir weit davon entfernt, unter 2 Grad Erderhitzung zu bleiben.
Adieu, Wildnis vor der Haustür
Zwischen unserem Haus (also dem Haus, das meine Eltern 1990 gekauft haben, und in dem wir jetzt wieder wohnen, und das in einer Stichstraßen neben vielen identischen Reihenhäusern liegt) und dem Gundelfinger Schulzentrum liegt ein Privatgrundstück, das nicht bebaut ist.
Auf Fotos aus den 1990er Jahren ist das Grundstück eine Wiese, auf der ein paar Bäume stehen. Da sah das ungefähr so aus.
Das war, wie gesagt, 1990 – also jetzt etwa ein Dritteljahrhundert her. Wobei es das Wort Dritteljahrhundert vielleicht gar nicht gibt, passt hier aber gut. Eine Generation. Jedenfalls: beim Einzug lag eine Wiese vor dem Haus, ein paar wenige Bäume, das damals noch etwas kleinere Schulzentrum war zu sehen, und ebenso die Bahnlinie.
Im Lauf der Zeit sind aus den damaligen kleinen Bäumen große Bäume geworden. Weitere sind dazu gekommen. Und: Gestrüpp, Brombeerhecken, Schilf (warum auch immer), all sowas. Das Grundstück ist nach und nach zugewuchert.
Leider finde ich jetzt kein Foto, das diesen Zustand der Wildnis zeigt, fast schon ein kleiner Wald. Das liegt daran, dass auf allen Fotos spielende Kinder zu sehen sind. Denn ein kleiner Wald vor der Haustür eignet sich natürlich hervorragend, um sich zu verstecken – das fanden immer wieder auch Teenager von den Schulen gegenüber -, um Piratenschiffe und Baumhäuser zu imaginieren und so weiter.
Und neben Kindern und Katzen waren da beim Blick aus dem Küchenfenster auch Eichhörnchen und Elstern zu sehen. Einen Igel habe ich da schon getroffen, und natürlich die üblichen Stadtvögel – Meisen, Amseln, Krähen.
Das Grundstück blieb ein Privatgrundstück, das irgendwem gehörte. Warum es nicht bebaut wurde, weiß ich nicht. So lag es über Jahrzehnte brach. Ab und zu wurde der Randstreifen von der Gemeinde gemäht. Vor ein paar Jahren gab es eine Baustelle, ein Teil des Grundstücks wurde genutzt, um Baumaterial zu lagern. Im Großen und Ganzen blieb aber alles so, und wucherte weiter.
Ein kleiner Trampelpfad führte durch das Wäldchen. Wild ausgesät hatten sich nicht nur Haselnüsse, sondern auch Mirabellen, Pflaumen, Birnen, und – ich sagte es schon – Brombeeren. Alles gut gedüngt durch Grünschnitt der Anwohner*innen. Aus einem ausgesetzten Weihnachtsbaum (nicht von uns) wurde eine stattliche Tanne. Und Sicht- und Lärmschutz zur Schule, zur Bahnlinie, zur Straße bot dieses Grundstück auch.
Letzte Woche dann eine kleine Notiz in den Gundelfinger Nachrichten – das Landratsamt wird Bäume fällen, um Container für die Schulsanierung aufzustellen.
Ich hatte damit gerechnet, dass das ähnlich sein wird wie vor ein paar Jahren, beim Baum eines der vielen Anbauten für das Schulzentrum. Damals – auf dem Google-Satellitenfoto gut zu sehen – wurde etwa ein Drittel dafür genutzt. Aber nein: erst wurde gemäht, dann fuhr ein Roboterschaf durchs Unterholz, und gestern früh Motorsägengeräusche. In nicht mal einem Tag wurden unzählige Bäume gefällt, manche davon mit 30, 40 oder mehr cm Durchmesser. Ein Traktor mit Greifarm, ein Mann mit Kettensäge – und aus dem wilden Grundstück wurde ein leere Fläche, am Rand ein riesiger Haufen Stämme und Äste. Ein einziger Nussbaum ganz in der Ecke des Grundstücks durfte stehenbleiben.
Ich verstehe, dass eine Sanierung Platz für Container braucht, und abstrakt betrachtet eignet sich die Fläche dafür sicherlich. Trotzdem bin ich traurig darüber, dass dieser über Jahrzehnte gewachsene kleine Wald jetzt Geschichte ist. Gundelfingen hat leider keine Baumschutzsatzung. Ob die in dem Fall etwas geholfen hätte, weiß ich nicht. Vielleicht wäre es bei einer anderen Planung möglich gewesen, einzelne Bäume zu erhalten. Containerklassen zwischen Bäumen statt Schachtelstapel. Aber: zu spät.
Die Schule ist ein Kreisgymnasium, insofern war das Landratsamt und nicht die Gemeinde zuständig. Formal haben wir mit dem Grundstück direkt vor unserer Haustür nichts zu tun. Trotzdem hätte ich mich gefreut, wenn wir Anwohner*innen vorab informiert worden wären, was da passiert, statt machtlos mit anzusehen, wie nach und nach Baum um Baum und Hecke um Hecke abgeholzt werden.