Nach der verlorenen Bundestagswahl 2005

Beim Ent­rüm­peln und Weg­wer­fen alter BDK-Unter­la­gen sind mir auch die Dele­gier­ten­un­ter­la­gen von der grü­nen Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz 2005 in Olden­burg wie­der in die Hän­de gefal­len. Ich habe sie wie vie­les ande­re end­lich ins Alt­pa­pier gewor­fen, aber nicht, ohne vor­her den Leit­an­trag einzuscannen. 

Wir erin­nern uns: 2005 – nach vor­ge­zo­ge­nen Wah­len nach einem bewusst her­bei­ge­führ­ten Miss­trau­ens­vo­tum Ger­hard Schrö­ders kommt es zur Gro­ßen Koali­ti­on unter Kanz­le­rin Ange­la Mer­kel. Grü­ne stür­zen von 8,7 auf 8,1 Pro­zent ab („sehr gutes Ergeb­nis erkämpft“), und wer­den – was 2005 noch nicht abseh­bar ist – lan­ge in der Oppo­si­ti­on bleiben. 

Der Par­tei­tag dient vor allem dem Wun­den­le­cken nach der ver­lo­re­nen Wahl. Ent­spre­chend – fast trot­zig – klingt die­ser Leit­an­trag. „Wir GRÜNE haben uns schon seit der Ent­schei­dung des Bun­des­kanz­lers für Neu­wah­len … auf Oppo­si­ti­on als rea­lis­ti­sche Opti­on ein­ge­stellt. Oppo­si­ti­on ist kein ‚Mist‘ – son­dern wir ach­ten den Auf­trag zur Oppo­si­ti­on als unver­zicht­ba­re demo­kra­ti­sche Aufgabe.“

Schuld waren die ande­ren: der Bun­des­kanz­ler mit sei­nen blö­den vor­ge­zo­ge­nen Neu­wah­len, die Absa­ge von SPD und PDS an ein Links­bünd­nis, die feh­len­den inhalt­li­chen Schnitt­men­gen mit der FDP, die „Jamai­ka“ oder eine „Ampel“ ver­hin­der­ten (hört, hört), und nicht zuletzt die Tat­sa­che, „dass die Uni­on nicht bereit oder in der Lage war, aus dem Schei­tern ihrer markt­ra­di­ka­len und anti-öko­lo­gi­schen Stra­te­gie grund­le­gen­de Kon­se­quen­zen zu ziehen.“

Der Rest des Papiers wid­met sich der (dif­fe­ren­zier­ten) Bewer­tung der grü­nen Erfol­ge in der Koali­ti­on 1998–2005 und der anste­hen­den „Auf­ga­ben“. Die Arbeits­markt­po­li­tik (Hartz IV) wird noch nicht so kri­tisch betrach­tet, wie das eini­ge Jah­re spä­ter der Fall sein wird.

Ins­ge­samt ein inter­es­san­tes Zeit­do­ku­ment – auch mit Blick auf heute.

> Leit­an­trag „Grün macht den Unter­schied“

Zum Kanzler*innenwechsel

Zur Ver­ab­schie­dung von Kanz­le­rin Mer­kel mit dem „Gro­ßen Zap­fen­streich“ – ursprüng­lich wohl schlicht der Hin­weis, den Sol­da­ten kein Bier mehr aus­zu­schen­ken, jetzt ein Ritu­al, das ohne die Mer­kel­sche Musik­aus­wahl, die durch­aus zu Fan­ta­sien anreg­te (wie wäre es, die­se Mili­tär­ka­pel­le eine läng­li­che Trance-Hym­ne oder das Syn­the­si­zer­stück Axel F. spie­len zu las­sen?), das ohne die­se Musik­aus­wahl also arg mili­tä­risch und aus der Zeit gefal­len gewirkt hät­te, und das ganz klar Wei­ter­ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten bie­tet, etwa in Rich­tung kom­ple­xer geo­me­tri­scher Figu­ren – zu die­ser Ver­ab­schie­dung geis­ter­te ein Dia­gramm durch die sozia­len Net­ze, das die Amts­zeit der Kanz­le­rin im Ver­gleich zu den Per­so­nal­wech­seln an der Spit­ze ande­rer euro­päi­scher Staa­ten zeig­te. Mer­kel ist hier ganz klar die Gewin­ne­rin. Von Öster­reich wol­len wir gar nicht reden.

Der Wech­sel der Kanz­le­rin mar­kiert also durch­aus einen län­ge­ren Ein­schnitt, inso­fern mag das mili­tä­ri­sche Zere­mo­ni­ell ange­mes­sen gewe­sen sein. Dass die Kanz­le­rin dem eher sto­isch als gerührt und viel­leicht sogar ein wenig ver­lo­ren bei­wohn­te, pass­te zu die­sen unprä­ten­tiö­sen sech­zehn Jah­ren. Aber immer­hin: „Fröh­lich­keit im Her­zen“, das bleibt, und die eine oder ande­re erfolg­reich gema­nag­te Kri­se. Gleich­zei­tig sehen wir mit Erstau­nen, wie luft­leer die Uni­on ohne Kanz­le­rin aus­sieht, und ahnen, dass das nicht gut ausgeht.

Wech­sel an der Spit­ze sind also bis­her eher eine Sel­ten­heit. Auch ich habe bewusst (Schmidt zählt nicht) bis­her erst Kanzler*innen erlebt: Hel­mut Kohl, pro­vin­zi­el­ler Patri­arch, an des­sen geis­tig-mora­li­sche Wen­de hin zum Mehl­tau eine poli­ti­sche Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on wie die in den 1990er Jah­ren ent­ste­hen­de Grü­ne Jugend sich wun­der­bar rei­ben konn­te – glei­ches gilt für die (neu­en sozia­len) Bewe­gun­gen, die zwar ihren Ursprung am Ende der Kanz­ler­schaft Hel­mut Schmidts nah­men, wenn ich das rich­tig weiß, aber in der Bun­des­re­pu­blik der 1980er erst so rich­tig zur Blü­te kamen, und glei­ches gilt wohl auch für die jun­ge grü­ne Par­tei. Kohl also, von dem die Ein­heit, der Sau­ma­gen, das Schwarz­geld und die Ver­stän­di­gung über den Rhein hin­weg in Erin­ne­rung bleiben.

Dann der als Erlö­sung gefei­er­te und umju­bel­te Wahl­sieg 1998. End­lich, end­lich wür­de alles bes­ser wer­den, wür­de umge­setzt, was lan­ge ver­bo­ten war. Doch Rot-Grün hat zwar das eine oder ande­re ange­sto­ßen, gesell­schafts- wie umwelt­po­li­tisch, stand aber unter kei­nem guten Stern. Die Wie­der­ent­de­ckung der Nati­on und der frem­de Osten, ver­bun­den mit den Ver­lo­ckun­gen einer neu­en, „neo­li­be­ral“ ein­ge­färb­ten Sozi­al­de­mo­kra­tie a la Blair, mit Bas­ta von oben durch­ge­setzt vom luxus­lie­ben­den Auf­stiegs­kanz­ler Ger­hard Schröder.

Der gro­ße pro­gres­si­ve Auf­bruch blieb aus. Aus dem rot-grü­nen Pro­jekt, für das 1998 so man­che Orts­ver­ei­ne und Orts­ver­bän­de noch Schul­ter an Schul­ter gekämpft hat­ten, wur­de gegen­sei­ti­ges Miss­trau­en; grü­ne Unzu­frie­den­heit mit der Kell­ner-Rol­le, der habi­tu­ell ange­pass­te Vize Josch­ka Fischer als heim­li­cher Par­tei­vor­sit­zen­der, zu vie­le Köche in der SPD-Sup­pen­kü­che, und am Ende „der Genos­se der Bos­se“, der eine Agen­da umset­ze, an der pro­gres­si­ve Kräf­te lan­ge litten.

Das bleibt vom Schrö­der in Erin­ne­rung. Und des­sen heu­ti­gen Wirt­schafts­ak­ti­vi­tä­ten samt Putin und Co. pas­sen ins Bild.

Vor­ge­zo­ge­ne Neu­wah­len, ein miss­glück­tes Manö­ver – und dann sech­zehn lan­ge Jah­re Mer­kel. Aus grü­ner Sicht: sech­zehn Jah­re Oppo­si­ti­on im Bund, sech­zehn Jah­re bes­se­re Regie­rung sein wol­len, sech­zehn Jah­re, in denen Impul­se nur über Ban­de gesetzt wer­den konn­ten und doch manch­mal etwas bewegten.

In die­ser Zeit hat sich, mehr gedul­det als aktiv gestal­tet, Deutsch­land mas­siv ver­än­dert. Vie­les davon durch äuße­re Kri­sen pro­vo­ziert – Wirt­schafts­kri­se, Fuku­shi­ma, Kli­ma­kri­se, Flücht­lings­kri­se, und jetzt die Pan­de­mie; man­ches, etwa die „Ehe für alle“, im End­ef­fekt vor­sich­ti­ge Moder­ni­sie­rung, um nicht all­zu sehr als reak­tio­nä­re Kraft anzu­ecken, son­dern schön in der Mit­te zu blei­ben. Gemäch­lich, ab und zu dann uner­war­tet schnell reagie­rend, um dann wei­ter zu sug­ge­rie­ren, dass im Kern alles bleibt, wie es immer schon war. Das ist, wie wir jetzt sehen, mehr Mer­kel als Uni­on. Zugleich ist die­ses Prin­zip in der Pan­de­mie an sei­ne Gren­zen gestoßen.

Wenn nicht eine der Par­tei­en – die grü­ne Urab­stim­mung läuft noch – noch einen Keil dazwi­schen rammt, dann also am 8.12. die Wahl des neu­en Kanz­lers Olaf Scholz, der vier­te, den ich bewusst erlebe.

Der Koali­ti­ons­ver­trag macht deut­lich, wie viel in der Ära Mer­kel lie­gen geblie­ben ist, wie viel zu tun ist, um bloß den sta­te of the art einer zeit­ge­mä­ßen libe­ra­len Gesell­schaft zu errei­chen, die sich ange­mes­sen um die Kli­ma­kri­se, die neue Geo­po­li­tik, und und und kümmert.

Aber die Ampel hat kei­nen Jubel her­vor­ge­ru­fen, bei kei­ner der Par­tei­en. Und viel­leicht ist das ganz gut so, mit Blick auf die 1998 geweck­ten Erwar­tun­gen, die nicht ein­ge­löst wur­den. Kein Pro­jekt, son­dern ein Zweck­bünd­nis für den Fortschritt.

Kei­nen Jubel hat auch der aus grü­ner Sicht arg ver­stol­per­te Start her­vor­ge­ru­fen. Es wur­de sehr deut­lich, was vor­be­rei­tet war und was nicht; dass eini­ges von dem neu­en Geist, den Robert Habeck und Anna­le­na Baer­bock eta­blier­ten hat­ten, doch sehr flüch­tig war. Als es dar­auf ankam, bei der Per­so­nal­aus­wahl, ende­te der Ver­such einer gemein­sam agie­ren­den, inte­grie­ren­den Par­tei. Ein Vize­kanz­ler Habeck, eine Außen­mi­nis­te­rin Baer­bock – mit die­ser Trans­for­ma­ti­on haben sich Spal­tun­gen auf­ge­tan und wur­den Wun­den auf­ge­ris­sen, die die im Janu­ar neu zu wäh­len­den Par­tei­vor­sit­zen­den umtrei­ben wer­den; hier geht es um ver­lo­re­nes Ver­trau­en – neben der Neu­erfin­dung als Regie­rungs­par­tei mit allem, was dazu gehört – und das ist nicht wenig.

Und, bei Lich­te betrach­tet, die­ses Gefühl der feh­len­den Vor­be­rei­tung bezieht sich nicht nur dar­auf, die Par­tei bei den Per­so­nal­ent­schei­dun­gen nicht mit­ge­nom­men zu haben, son­dern eigent­lich auf das gan­ze Wahl­jahr. Eine gut insze­nier­te, wenn auch ein­sa­me Kür der Kan­di­da­tin; dann ein Wahl­pro­gramm­pro­zess, der mit Über­for­de­rung ver­bun­den war, und ein Wahl­kampf, der nicht reflek­tier­te, jetzt in einer neu­en Lage zu sein. Ein Par­tei­ap­pa­rat, der sich ins Ziel schlepp­te – und über­rascht war, sich in Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen wie­der­zu­fin­den, in denen immer wie­der die Inter­es­sen der SPD und der FDP näher bei­ein­an­der lagen und auch so durch­ge­setzt wur­den, allen Sel­fies zum Trotz.

Im Mit­tel­punkt ein enig­ma­ti­scher Olaf Scholz. Der zukünf­ti­ge Kanz­ler ver­steckt sich hin­ter einer ham­bur­gi­schen Mer­ke­li­mi­ta­ti­on, sagt in freund­li­chem Ton­fall wenig, und schaut demü­tig solan­ge zu, bis sei­ne Agen­da sich durch­ge­setzt hat. So jeden­falls mein bis­he­ri­ger Ein­druck – rich­tig schlau wer­de ich dar­aus nicht.

Ob die­ses ver­steck­te Füh­rungs­ver­ständ­nis aus­reicht, in einer aus­ein­an­der­stre­ben­den Koali­ti­on tat­säch­lich Auf­bruch, Respekt, Kli­ma­schutz und Fort­schritt umzu­set­zen, Grü­ne, SPD und FDP zusam­men­zu­hal­ten – wir wer­den sehen.

Es bedarf jeden­falls mehr als des nai­ven Wun­sches, das rich­ti­ge zu wol­len, um in die­ser Kon­stel­la­ti­on zu punk­ten. Das betrifft dann auch die grü­nen Akteur*innen in die­sem neu­en Spiel. Da gehört macht­po­li­ti­sche Klug­heit dazu; genau­so das Gespür dafür, dass Par­tei und Wähler*innen Erfol­ge sehen wol­len, aber eben auch kei­ne Mär­chen erzählt bekom­men möchten.

Noch ist die Bun­des­kanz­le­rin geschäfts­füh­rend im Amt, der neue Kanz­ler noch nicht gewählt. Statt Jubel ist das vor­herr­schen­de Gefühl Span­nung. Kohl wur­de 1998 nicht ver­misst, Schrö­der nach 2005 auch bald nicht mehr. Wenn es schlecht läuft, wird das bei Mer­kel anders sein.

Etwas bricht auf, oder: das Ende der Ära Merkel

Unexpected rainbow I

Ges­tern hat sich der 20. Deut­sche Bun­des­tag kon­sti­tu­iert, beglei­tet von vie­len Sel­fies und Grup­pen­fo­tos. Und selbst auf die­sen lässt sich erah­nen, dass hier etwas neu­es beginnt. Ins­be­son­de­re ist der Bun­des­tag deut­lich jün­ger und bun­ter gewor­den. Durch die nun grö­ße­ren quo­tier­ten Frak­tio­nen ist er auch etwas weib­li­cher. Es gibt eine Bun­des­tags­prä­si­den­tin, und auch vier der fünf Vizepräsident:innen sind Frauen. 

Noch ist kei­ne neue Regie­rung gewählt; die Regie­rung Mer­kel ist wei­ter geschäfts­füh­rend im Amt. Trotz­dem fühlt sich das jetzt sehr nach Auf­bruch und Neu­be­ginn an. Mit etwas Glück und Ver­hand­lungs­ge­schick kom­men die lau­fen­den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zwi­schen den Ampel­frak­tio­nen tat­säch­lich noch vor Weih­nach­ten zu einem erfolg­rei­chen Abschluss. Und dann wür­de nach 16 Jah­ren erst­mals wie­der eine Regie­rung ohne Uni­on das Land len­ken. Auf­ga­ben und Wün­sche gibt es viele. 

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Die letzte Woche

Election 2021Ich fin­de Wah­len wich­tig, und ich ver­fol­ge nicht nur die baden-würt­tem­ber­gi­schen und die bun­des­wei­ten Wah­len, son­dern schaue gespannt auch auf die Wah­len in ande­ren Län­dern. Mal mit­fie­bernd und begeis­tert, mal eher ent­täuscht und ent­geis­tert ob der Ent­schei­dung der Wäh­len­den. Wahl­kampf ist dage­gen eher ein not­wen­di­ges Übel – klar, es ist wich­tig, die unter­schied­li­chen Per­so­nen und Posi­tio­nen bekannt zu machen, einen öffent­li­chen Dis­kurs dar­über zu ent­zün­den, zu mobi­li­sie­ren (oder, in Mer­kels Fall: auch mal zu demo­bi­li­sie­ren). Aber Begeis­te­rung lösen Wahl­kämp­fe bei mir nicht aus. 

Die­ser Wahl­kampf geht jetzt in sei­ne letz­te Woche. Am Sonn­tag hat­ten FDP und GRÜNE noch ein­mal Par­tei­ta­ge. Stär­ker als zu ande­ren Zei­ten sind die­se Par­tei­ta­ge Insze­nie­rung. Hier geht es nicht um inner­par­tei­li­che Mei­nungs­bil­dung und auch nicht um inter­ne Ver­net­zung – son­dern schlicht dar­um, noch ein­mal Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, um auf den letz­ten Metern Bot­schaf­ten in die Welt sen­den zu kön­nen. In die Welt drau­ßen, um die letz­ten noch unent­schlos­se­nen Wähler*innen zu errei­chen, und in die Welt drin­nen, um Geschlos­sen­heit her­zu­stel­len, den eige­nen Leu­ten zu dan­ken und die­se für den Schluss­sprint zu motivieren. 

Neben­bei: was ich an mei­ner Par­tei mag, ist die Tat­sa­che, dass wir auch im Gegen­wind und im Regen soli­da­risch blei­ben. Die Umfra­ge­wer­te sahen schon mal bes­ser aus, und die Angrif­fe auf die Per­son der Kanz­ler­kan­di­da­tin zu Beginn des Wahl­kampfs haben die Wahr­neh­mung von Anna­le­na Baer­bock in der Öffent­lich­keit nach­hal­tig beein­träch­tigt. Klar gab es eige­ne Feh­ler. Aber es fällt doch auf, mit was für unter­schied­li­chen Maß­stä­ben da teil­wei­se gemes­sen wird. Und wie immer wie­der die sel­ben Geschich­ten erzählt wur­den. Gegen die­se vor­her gefass­ten Urtei­le kom­men ihre extrem star­ken, kom­pe­ten­ten und empa­thi­schen Auf­trit­te in den Tri­el­len und auf den Markt­plät­zen nur schwer an. Das ist ein Wahl­kampf mit Gegen­wind und Regen­schau­ern. Und genau da fin­de ich es wich­tig, dass wir als Par­tei Hal­tung bewah­ren, dass wir wei­ter kämp­fen und alles dafür geben, zu über­zeu­gen. Nicht als Par­tei­sol­da­ten­tum, bei dem schön gere­det wird, aber eben auch nicht – da bli­cke ich auf die Uni­on – als Weg­rü­cken vom eige­nen Kan­di­da­ten. Und ich jeden­falls erle­be uns als eine Par­tei, in der Soli­da­ri­tät und Geschlos­sen­heit gelebt werden.

Ich mag Wahl­kämp­fe nicht, vor allem da nicht, wo sie – not­wen­di­ges Übel – in Rich­tung Show und Wer­bung abdrif­ten. In mei­ner nai­ven Ide­al­vor­stel­lung ent­schei­den Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler danach, wel­che poli­ti­schen Vor­ha­ben und wel­che Per­so­nen sie über­zeu­gen. Wahl­kampf erscheint mir all zu oft als ein Ver­such, das zu ver­ne­beln. Nicht umsonst erin­nern die Pla­kat­wän­de an die fal­schen Haus­fas­sa­den einer Wild­west­stadt, die nach Ende des Film­drehs zusam­men­ge­klappt und weg­ge­räumt wer­den. Natür­lich ver­mit­teln Pla­ka­te und Auf­trit­te ein Image. Natür­lich geht es dar­um, eine Geschich­te zu erzäh­len und zu hof­fen, dass ande­re mit­ma­chen und die­se Geschich­te eben­falls erzäh­len. Und die Instru­men­te, die ver­su­chen, Par­tei­pro­gram­me run­ter­zu­bre­chen, wie etwa der Wahl-o-mat, sind dann schnell unter­kom­plex. Ganz so ein­fach ist es mit dem Fokus auf die Inhal­te also auch nicht. Trotz­dem bin ich über­zeugt davon, dass ein kür­ze­rer und fokus­sier­te­rer Wahl­kampf die­ser Repu­blik gut tun würde.

Die Legis­la­tur­pe­ri­ode des Bun­des­tags dau­ert vier Jah­re, das sind 48 Mona­te. Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und die Bil­dung einer Regie­rung neh­men inzwi­schen ger­ne ein hal­bes Jahr ein, blei­ben 42 Mona­te. Die Zeit, in der Poli­tik in Wahl­kampf kippt, ist je nach Par­tei unter­schied­lich. Das Par­tei­pro­gramm wur­de im Juni beschlos­sen – vier Mona­te vor der Wahl. Die Ent­schei­dung über die Kanz­ler­kan­di­da­tin fiel im April und der Pro­gramm­ent­wurf wur­de bereits im März vor­ge­stellt, damit sind wir schon sie­ben Mona­te vor der Wahl. Schon davor wur­de in den Par­tei­gre­mi­en dar­an gear­bei­tet, und mit den ers­ten Über­le­gun­gen für Lis­ten­kan­di­da­tu­ren sowie dann den ers­ten Lis­ten­wah­len in den Län­dern sind wir im Herbst und Win­ter 2020/2021. Net­to blei­ben viel­leicht 34, 35, 36 Mona­te, alle übri­gen Wah­len und Wahl­kämp­fe mal außen vor gelas­sen. So rich­tig viel Zeit ist das nicht.

Aber viel­leicht ist die­se Tren­nung ja auch eine künst­li­che. Viel­leicht wür­de ein kür­zer „ech­ter“ Wahl­kampf nur dazu füh­ren, dass die eigent­li­che par­la­men­ta­ri­sche Arbeit stär­ker als jetzt schon zu einem Wahl­kampf in Per­ma­nenz wird, immer dar­auf bedacht, viel zu versprechen.

Die­se Wahl ist eine ande­re als frü­he­re Wah­len. Es ist die ers­te Bun­des­tags­wahl, die auf­grund der Coro­na-Bedin­gun­gen und der Erfah­run­gen bei der Euro­pa­wahl und bei den Land­tags­wah­len eine hohe Zahl an Briefwähler*innen mit sich brin­gen wird. Und es ist, dar­über wur­de viel geschrie­ben, eine Wahl, in der die Kanz­le­rin nicht antritt. Und es ist die ers­te Wahl, in der die Kli­ma­kri­se rich­tig spür­bar ist. 

Dazu kom­men die kon­train­tui­ti­ven Ele­men­te des Wahl­rechts. Mög­li­cher­wei­se wird die­ser Bun­des­tag so groß wie nie zuvor, und mög­li­cher­wei­se führt das Zusam­men­spiel von Direkt­man­da­ten und Aus­gleich- und Über­hangs­man­da­ten gera­de bei einem schwä­che­ren grü­nen Ergeb­nis zu einer (in abso­lu­ten Zah­len) extrem gro­ßen grü­nen Frak­ti­on. Das dürf­te die Kandidat*innen auf den hin­te­ren Lis­ten­plät­zen freu­en – zur Arbeits­fä­hig­keit des Bun­des­tags trägt es nicht bei, und für eine star­ke grü­ne Regie­rungs­be­tei­li­gung ist eben­falls die rela­ti­ve Stär­ke wichtiger. 

Ob unter die­sen Bedin­gun­gen die alten Weis­hei­ten noch gel­ten – dass Wäh­len­de sich erst kurz vor dem Wahl­tag ent­schei­den; all das, was die Poli­tik­wis­sen­schaft über die Dyna­mik von Umfra­gen und Wahl­er­geb­nis­sen weiß – ist unklar. Ich jeden­falls bin extrem gespannt, was der nächs­te Sonn­tag für ein Ergeb­nis brin­gen wird, und was die Par­tei­en dann dar­aus machen wer­den. Allem Hadern mit „fal­schen“ Wahl­ent­schei­dun­gen und allen Unzu­läng­lich­kei­ten des Wahl­sys­tems zum Trotz bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem es eine ech­te Aus­wahl gibt, in dem Wah­len frei, gleich und geheim sind. Kämp­fen wir jetzt mit Über­zeu­gung und schau­en dem Sonn­tag mit Gelas­sen­heit entgegen.

Zeit des Virus, Update VIII

Blackforest landscape II

Im Okto­ber hat­te ich zuletzt über den All­tag in der Coro­na-Pan­de­mie geschrie­ben. Seit­dem ist viel pas­siert, und gleich­zei­tig fühlt es sich ein biss­chen so an, als sei­en wir wie­der genau an der glei­chen Stelle.

Viel pas­siert ist, weil im Novem­ber und Dezem­ber die Infek­ti­ons­zah­len steil nach oben gegan­gen sind. Der „Wel­len­bre­cher­lock­down“ ver­fehl­te sein Ziel, ziem­lich zer­knirsch­te Ministerpräsident:innen beschlos­sen dann nach und nach doch här­te­re Maß­nah­men, um schließ­lich im Dezem­ber die Weih­nachts­fe­ri­en vor­zu­zie­hen und den Prä­senz­un­ter­richt aus­zu­set­zen. Die Weih­nachts­pau­se – so jeden­falls mei­ne Inter­pre­ta­ti­on – half dann, die zwei­te Wel­le tat­säch­lich zu bre­chen. Im Janu­ar gin­gen die Zah­len nach unten. Ende Febru­ar waren sie fast wie­der auf dem Punkt vor der zwei­ten Wel­le. Wei­ter­hin gal­ten in Baden-Würt­tem­berg Aus­gangs­be­schrän­kun­gen. Trotz der Ankün­di­gung der CDU-Kul­tus­mi­nis­te­rin, dass sie unab­hän­gig von Inzi­den­zen die Schu­len öff­nen möch­te, blie­ben die­se zu. Dazu bei­getra­gen hat­ten auch die ers­ten Nach­wei­se für die gefähr­li­che­ren und anste­cken­de­ren Virus­mu­ta­tio­nen – inzwi­schen machen sie den Groß­teil der nach­ge­wie­se­nen Infek­tio­nen aus. Seit Ende Dezem­ber begann die Impf­kam­pa­gne, und auch wenn alle nei­disch nach Isra­el oder in die USA blick­ten, die prag­ma­ti­scher und schnel­ler impf­ten (und sich mehr Impf­stoff gesi­chert hat­ten als die EU), sah es ins­ge­samt doch so aus, als sei da Licht am Ende des Tun­nels, um ein belieb­tes Motiv aus den Son­der­sit­zungs­re­den zu zitie­ren. Schnell­tests für den Eigen­ge­brauch wur­den zuge­las­sen, Schnell­test­stra­te­gien aus­ge­rollt. Ent­spre­chend laut ertön­ten dann die Rufe nach Locke­run­gen durch den Ein­zel­han­del, die Gas­tro­no­mie, die Kul­tur­bran­che, durch eini­ge Eltern – und als Sprach­rohr: durch die Medi­en. Eine Mehr­heit in Mei­nungs­um­fra­gen gab es für Locke­run­gen nie, trotz­dem setz­te sich, auch mit Blick auf die Wah­len in Baden-Würt­tem­berg und Rhein­land-Pfalz die Hal­tung durch, dass jetzt die Zeit für Öff­nun­gen sei.

Des­we­gen ste­hen wir jetzt wie­der da, wo wir im Okto­ber stan­den. Die Zah­len gehen rapi­de nach oben. Die drit­te Wel­le hat längst begon­nen. Bis­her konn­ten sich die Ministerpräsident:innen nur zu halb­her­zi­gen Maß­nah­men durch­rin­gen; ein­zel­ne Län­der set­zen noch nicht ein­mal die ver­ab­re­de­te „Not­brem­se“ um, ande­re ver­kün­den, dass gan­ze Land (ja, Saar­land, du bist gemeint), zu einer Modell­re­gi­on für Öff­nun­gen zu machen. Der Ver­such, die Oster­pau­se zu ver­län­gern, schei­ter­te an schlech­ter Vor­be­rei­tung, schlech­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on und dem Kom­pe­tenz­wirr­warr zwi­schen Bund (Infek­ti­ons­schutz) und Län­dern (Fei­er­tags­ge­set­ze). Vor ein paar Tagen saß dann die Kanz­le­rin bei Anne Will und sprach ein Macht­wort, vor allem in Rich­tung ihrer eige­nen Minis­ter­prä­si­den­ten und Minis­ter. Ob’s was hilft – da gehen die Mei­nun­gen auseinander. 

Wenn ich mich so in mei­nem Umfeld umschaue, dann ist es com­mon sen­se, dass trotz Imp­fun­gen der älte­ren Bevöl­ke­rung und trotz Test­stra­te­gie ein wei­te­rer har­ter Lock­down zu erwar­ten ist. Bis­her bleibt es bei Appel­len an die Arbeitgeber:innen, doch bit­te Home-Office zu ermög­li­chen. Das ist die eine Schrau­be, an der gedreht wer­den kann. Im Instru­men­ten­kas­ten lie­gen ansons­ten noch Aus­gangs­sper­ren (über deren Wirk­sam­keit hef­tig gestrit­ten wird) und här­te­re Kon­takt­be­gren­zun­gen – der­zeit sind Tref­fen zwi­schen zwei Haus­hal­ten erlaubt. Und mit der stär­ke­ren Anste­ckungs­ra­te unter Kin­dern und Jugend­li­chen dank der Muta­ti­on B.1.1.7 gera­ten auch Schu­len und Kin­der­ta­ges­stät­ten noch ein­mal in den Blick. Ich hal­te es für wahr­schein­lich, dass die Öff­nun­gen hier zurück­ge­nom­men wer­den (vor Ostern waren in Baden-Würt­tem­berg die Klas­sen 1–6 sowie die Abschluss­klas­sen in Prä­senz im Unter­richt), bzw. dass sie nur dort erlaubt wer­den, wo die Inzi­denz­wer­te nied­rig genug sind (100, 200?) und wo eine umfang­rei­che Test­stra­te­gie zumin­dest dazu bei­trägt, infi­zier­te Schüler:innen schnell zu fin­den. Das hat in Öster­reich aller­dings auch nur so halb geklappt. 

Mit Blick auf mei­ne eige­nen Kin­der bin ich da durch­aus zwie­ge­spal­ten. Mei­nem jün­ge­ren Kind hat es gut getan, ein paar Wochen Prä­senz­un­ter­richt gehabt zu haben. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es viel ein­fa­cher ist, sich auf den Unter­richt zu kon­zen­trie­ren, wenn Mine­craft und Fort­ni­te (das sind die Orte, wo mein Kind sich mit sei­nen Freund:innen trifft) nicht nur einen Maus­klick ent­fernt sind. Und das älte­re Teen­ager­kind war jetzt seit Weih­nach­ten das ers­te Mal wie­der in der Schu­le, um eine Mathe­ar­beit zu schrei­ben – und hoch­be­glückt dar­über, end­lich ein­mal den Rest der Klas­se wie­der­zu­se­hen und nicht allei­ne zu ver­sump­fen. Sie ver­misst mehr oder weni­ger alles, was Fünf­zehn­jäh­ri­ge so machen.

Und gleich­zei­tig – trotz Pflicht, medi­zi­ni­sche Mas­ken im ÖPNV, in der Schu­le (und auch beim Ein­kau­fen) zu tra­gen: da sind immer auch die Sor­gen dabei. 

Mit dem Imp­fen dau­ert es noch eine gan­ze Wei­le. Und die Berich­te meh­re­ren sich, dass die här­tes­ten Fäl­le auf den Inten­siv­sta­tio­nen jetzt eher bei jün­ge­ren Alters­grup­pen, also z.B. den 40–50-jährigen, auf­tre­ten. Gleich­zei­tig wird hef­tig über Long Covid und die mög­li­chen Lang­zeit­fol­gen auch bei den wie­der Gene­sen­den diskutiert. 

Mei­ne Hoff­nun­gen lie­gen in der Oster­pau­se, die ver­mut­lich nicht lang genug ist, aber den Anstieg der Infek­tio­nen viel­leicht doch bremst – und in der poli­ti­schen Ver­nunft, ange­sichts stei­gen­der Infek­ti­ons­zah­len und mit Zeit­ver­satz dann voll­lau­fen­den Inten­siv­sta­tio­nen doch auf här­te­re Maß­nah­men zu set­zen. Por­tu­gal wird dafür als Bei­spiel ange­führt. Und immer wie­der schwirrt auch das Was-wäre-wenn durch den Raum – wenn es doch schon im Okto­ber einen ech­ten Lock­down gege­ben hät­te, hät­ten dann Tote und schwer Erkrank­te ver­mie­den wer­den können?