Krähen sind ziemlich eindrucksvolle Vögel. Von nahem betrachtet, aber ebenso, wenn sie in koordinierten Schwärmen morgens und abends die Gegend durchkreuzen. Wie hier über dem Gundelfinger Bahnhof, an dessen Rand einige Nistbäume stehen.
Ein halbes Jahrhundert
In großer Regelmäßigkeiten blühen die Schneeglöckchen pünktlich zu meinem Geburtstag. Dieses Mal springt die vordere Ziffer auf die Fünf. Ein halbes Jahrhundert. So alt fühle ich mich nicht. Trotzdem: die Welt meiner Kinderheit und Jugend liegt jetzt längst in der Vergangenheit. Selbst die 1990er Jahre und der Beginn des neuen Jahrtausends werden inzwischen historisiert, archiviert, musealisiert und was der Begriffe dafür mehr sind, Dinge wegzuräumen und als etwas zu betrachten, das gewesen ist.
Einerseits also ein gewichtiger Marker. Andererseits: auch kein anderer Tag als andere Tage. Die ersten grauen Haare und das Sichtbarwerden des musterförmigen Haarausfalls sind schon eine ganze Weile her, und ich bringe beides eher mit den Kindersorgen als mit einer Zahl in Verbindung. Beim Blick in den Spiegel der Videokonferenz fallen Falten auf, deutlicher als früher. Markant, könnte man auch sagen. Und zwischen Kurzsichtigkeit seit der Jugend und einsetzender Altersweitsicht liegt aktuell die glückliche Phase, in der ich am Bildschim, zum Bücherlesen oder im Alltag keine Brille mehr, noch keine Brille brauche. Demnächst dann vermutlich Gleitsicht.
Haben 50-jährige andere Interessen? Gehört es dazu, mit dem Alter gelassener zu werden – oder doch eher wütender über die trotz aller Zukunftsversprechen weiterhin und beängstigend aufbrechenden Ungerechtigkeiten und Weltprobleme? Mondbasen, Unterwasserstädte, das Ende der Geschichte, solarpunkig-hippieske Utopien des besseren gemeinsamen Lebens, wie sie mal en vogue waren, sind eher nicht zu finden, da draußen in der Welt. Statt dessen fühlt es sich manchmal an, als würden die Cyberpunk-Romane mit den fiesen kapitalistischen Konzernen, den zerbröckelnden Staaten und dem Kampf gegen den neuen Faschismus von manchen nicht als Zeitdiagnose der späten 1980er gelesen, sondern als Anleitung für die späten 2020er Jahre.
No future, Atomkriegängste und Tschernobyl verschmelzen in der Erinnerung zu diesem angstvollen Gudrun-Pausewang-Gefühl, dass das Ende der Welt nicht weit weg sein kann. Rassismus und sich ins Licht wagende Nazis machten in den 1990er Jahren Angst. Jetzt also nochmal, oder schlimmeres? Die Pandemie. Der Krieg in der Ukraine. Ein Staatsstreich von innen in den USA. Der explodierende Nahe Osten. Und wieder Diskursverschiebungen nach rechts, ganz nach rechts.
Dazwischen immer wieder Phasen, in denen der Zeitgeist grün war. Ökos, Lohas, Bohos, New Work, selbstgestrickte Pullover und Gartenarbeit, Landlust und Landliebe, der grüne Erfolg in Baden-Württemberg und das Scheitern der Dosenpfand-Regierung mit Fischer, Trittin und Schröder. Am Ende eine Bierflasche zuviel in der Bonner Runde, oder war’s da schon Berlin, und dann Merkel. Eine Zeit, die bedächtig wirkte, nicht der Stillstand von Kohl und Mappus, eine Verschnaufpause? Ein Land, das dennoch „wir schaffen es“ zu seiner Maxime ausgerufen hat – und hintenherum Deals mit den Russen fortführte.
Das Politische und das Private. War das Private politisch? Öffentliches Tagebuchschreiben in Blogs und in der parasozialen Netzgemeinde, die richtig viel Zeit raubte. Ambivalente Erinnerungen an Twitter, Eskalationsspiralen, Politiksimulation, Bedeutung, Deutung, Deutungs- und Bedeutungsverlust. Froh, nach der Übernahme rausgeworfen worden zu sein. Die Fediverse-Nische Mastodon ist anders, aber auch schön. Das Blog lebt.
Und die Karriere? Ich bin nicht da gelandet, wo ich dachte, eines Tages zu sein – nämlich tief im Wissenschaftsbetrieb. Manchmal frage ich mich, was gewesen wäre, wenn 2011 in Baden-Württemberg anderes ausgegangen wäre, und ich nicht die Abzweigung Richtung Politik genommen hätte: mit einer Fraktion als Arbeitgeberin, die mir in den letzten 13 Jahren deutlich bessere Arbeitsbedingungen – und vermutlich auch deutlich spannendere Aufgaben – geboten hat, als das an der Uni je möglich gewesen wäre. Vereinbarkeit, Home-Office, Work-Life-Balance: nicht bloß Vokabeln, sondern gelebte Praxis. Und auch da ist das Private politisch, die Lebensstilentscheidungen, die Erziehungsentscheidungen, die Mobilitätsentscheidungen – die immer auch Entscheidungen gegen 120 Prozent waren, gegen Aufstiegsstrategien und einen taktischen Blick auf „den Job“.
Zum politisch-privaten Komplex gehören die Kinder. Das zweite wird bald ebenfalls erwachsen sein.
Was dann kommt, frage ich mich neugierig. Tragen die Routinen noch? Braucht es neue Projekte, die die Zeit füllen – oder bleibt eh nie genug, um all das umzusetzen, was in irgendwelchen Winkeln mehr oder weniger geduldig wartet, endlich einmal angegangen zu werden? Bleibt Zeit dafür, oder werfen Weltpolitik und Klimawandel eh alle Pläne über den Haufen?
Ein halbes Jahrhundert verdichtet sich zu einigen wenigen Ereignissen, Sinnbildern, Anmutungen. Und eigentlich: ein Tag wie jeder andere.
Science Fiction und Fantasy im Januar 2025
Die diversen Streaming-Abos hätte ich mir im Januar auch sparen können. Angeschaut habe ich genau zwei Filme – zum einen, auf Drängen einiger Familienmitglieder, ein Rewatch von Harry Potter and the Goblet of Fire (von DVD), zum anderen mit viel gespannter Erwartung Section 31 (Paramount+). Dieser als Star-Trek-Spinoff angekündigte Film war dann vor allem enttäuschend und wirkte – selbst mit den Links zum eh schon actionlastogen ST: Discovery – wie eine schlechte Mischung aus Cowboy Bebop , Guardians of the Galaxy und Star Wars.
Die Origin-Story der in unser Universum geflohenen terrestrischen Imperatorin machte deren Handeln auch nicht plausibler, der Geheimauftrag – Section 31 ist der Geheimdienst der Starfleet, ähnlich Special Circumstances in Banks Culture-Romanen – hatte nur eine geringe Plausibilität, das Protagonisten-Team war eher humoristisch zusammengestellt, deren Motivation unklar. Zeit und Raum (schnell, dringend, …, Tage in unterirdischen Höhlensystemen ganz woanders) verloren an Bedeutung. Dass eine Phasenverschiebung auf Quantenebene zwar das Durchdringen von Wänden und Körpern, nicht jedoch des Bodens der Raumstatiom mit sich brachte, war dann auch nicht mehr als ein weiteres unlogisches Element in einer langweilenden Aneinanderreihung unlogischer Elemente. Kurz: keine Empfehlung, jedenfalls nicht für Menschen, die Star Trek mögen.
Gelesen habe ich im Januar, warum auch immer sich das so ergeben hat, vor allem Fantasy. Weltfluchtpotenzial, möglicherweise.
Eine Ausnahme stellt in gewisser Weise John Dodds Ocean of Stars (2022) dar, insofern der Roman in der Zukunft spielt, der Mars (und Planeten ferner Sterne) besiedelt ist und die Protagonistin Catarina Solovias auf einem Raumschiff anheuert – das allerdings, soviel sei verraten, schon kurz darauf von einem Piratenschiff gerammt wird, mit gehissten Sonnensegeln, Technologie, die von Magie kaum zu unterscheiden ist und kargen Mahlzeiten in der Kombüse. Sagte ich schon, dass dann auch noch Zeitblasen und Seeungeheuer Weltraummonster gigantischen Ausmasses auftauchen? Dodd gelingt es, diese wilde Mischung plausibel erscheinen zu lassen, und uns mit Catarina mitfiebern zu lassen. Würde vermutlich auch als Doctor-Who-Folge funktionieren, wenn ich so drüber nachdenke.
Und auch die Kurzgeschichtensammlung Jamaica Ginger and Other Concoctions (2024) von Nalo Hopkinson enthält neben magischem Realismus mit karibischem Einschlag die eine oder andere Geschichte, die eher unter SF (oder zumindest Steampunk) einzusortieren wäre. Auf die Sammlung bin ich durch ein Interview in Clarkesworld aufmerksam geworden. Wie bei Kurzgeschichtensammlungen üblich, ist es schwierig, übergreifend etwas dazu zu sagen, ohne auf einzelne Geschichten einzugehen. Jedenfalls: fantastisch geschrieben, und mit einer Perspektive, die auf jeden Fall interessant ist.
Damit zur Fantasy i.e.S. Von T. Kingfisher (Ursula Vernon) habe ich endlich mal deren mit dem Hugo 2024 prämierte Novelle Thornhedge gelesen. Hätte ich mal früher tun sollen, den die Novelle war dann deutlich besser als das mentale Bild („Neuerzählung von Dornröschen“), das ich mir davon gemacht hatte. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der – bösen? – Fee. Kingfisher geht nicht nur der Frage nach, wieso da plötzlich eine Fee bei der Taufe der Königstochter auftaucht (Fairy ist nicht weit) – und dann über Jahrhunderte beim verwunschen Schloss samt Dornenhecke bleibt, sondern finden auch einen Weg, plausibel zu machen, dass der ewige Schlaf eine Heldentat ist. Und dann taucht nach Jahrzehnten der Einsamkeit ein wackerer Prinz auf, gekommen, die Prinzessin zu befreien. Die Fee (deren größter Zauber ist, sich in eine Kröte verwandeln zu können), steht damit vor einer Herausforderung. Denn sie muss verhindern, dass der Prinz seinen Plan in die Tat umsetzt. Das wird recht lesenswert beschrieben.
Im Anschluss habe ich Nettle & Bone (2022, ebenfalls von T. Kingfisher), gelesen. Der Titel der deutschen Übersetzung („Wie man einen Prinzen tötet“), nimmt eines der Motive des Romans vorweg. Marra ist die jüngste von drei Schwestern, Prinzessin in einem kleinen Königreich. Ganz realpolitisch wird die älteste Schwester mit dem Prinzen des großen Königreichs im Norden verheiratet. Sie stirbt, der Prinz heiratet die mittlere Schwester. Marra landet in einem Kloster, lernt Stickerei, Weben, mistet den Stall aus, unterstützt die Schwester Apothekerin – und erfährt von dem Leid und der Misshandlung ihrer Schwester am nördlichen Königshof. In ihr reift der Vorsatz, den Prinzen zu töten. Sie sucht ein Dust-Wife, eine Art Hexe, auf, bittet diese um Hilfe, muss unmögliche Aufgaben erledigen – und ab hier nimmt das Abenteuer dann Fahrt auf. Trotz des märchenhaften Settings spart Kingfisher die Realitäten von Heiratspolitik, Dynastik und Bündnissen – und Armut – nicht aus, sondern guckt durch Marras manchmal naiven, manchmal von Selbstzweifeln geplagten, aber immer empathischen Blick auf die Dinge. Hat mir gut gefallen, und ja – „brutal und compassionate“ trifft es ganz gut.
Auch bei Peter S. Beagle geht es bei I’m Afraid You’ve Got Dragons (2024) – der Beagle von „Das letzte Einhorn“ – um eine Prinzessin. Größtenteils folgen wir allerdings Robert Thrax, dem Drachenbekämpfer (as in: Ungezieferbekämpfung). Denn Drachen sitzen hier in alten Gemäuern, es gibt große und kleine, und überhaupt: sind sie eine Plage. Die Drachenbekämpfung hat Robert von seinem verstorbenen Vater übernommen, macht das hervorragend – dafür gibt es Gründe – nur: eigentlich würde er lieber keine Drachen töten. Prinzessin Cerise flieht vor den um ihre Hand anhaltenden Prinzen in den Wald, übt Lesen und Schreiben. Und dann gibt es da noch den Thronfolger des großen Nachbarlandes, von prinzenhafter Gestalt, mit prinzenhaften Manieren, auf der Suche nach einem Abenteuer. Ein großer Held, so scheint es jedenfalls, auch wenn sein Vater unzufrieden mit dem Ausbleiben von Rauflust etc. ist. Es kommt eins zum anderen, und Prinzessin Cerise, Robert und Prinz Reginald brechen auf, die gefährlichen Bergdrachen zu besiegen. Natürlich kommt es anders – mehr wäre zu viel verraten. Wie, beschreibt Beagle mit viel Humor.
Dann habe ich noch A Fellowship of Bakers and Magic (2023) von J. Penner gelesen. Nochmal Märchenland, eine junge Frau ganz ohne magische Begabungen wird ausererwählt, am großen Backwettbewerb der Elfen teilzunehmen. Großgezogen haben die junge Frau nach dem Unfalltod ihrer Eltern die beiden Nachbarn, ein schwules Ork-Paar, auf dem Weg und beim Backwettbewerb (den eigentlich immer Elfen gewinnen) freundet sie sich mit Mitbewerberinnen an – eine Zwergin und eine Füchsin, wenn ich das richtig gelesen habe. Und der Elf, der sie aus ihrer Kleinstadt zum Wettbewerb bringt, entfacht Fantasien. Das ganze wird als cozy romantic fantasy vermarktet, das passt auch. Mein einer Eindruck: silly, aber auf die gute Art. Der andere: bisschen viel Soap, und für ein Fantasy-Setting in den Köpfen der Protagonist*innen doch ziemlich viel 21. Jahrhundert. Also: nicht so ganz meins, aber vielleicht ein comfort read. Ein weiterer Band ist 2024 erschienen, zwei weitere sind angekündigt. Wer’s mag, wird hier also einiges zum Lesen finden.
Last but not least: Von Charles Stross ist neu A Conventional Boy (2025) erschienenen, ein kurzer Roman im Laundryverse, in dem wir die Hintergrundgeschichte des „Dungeon Masters“ Derek kennenlernen (ergänzt um bereits anderswo erschienene Kurzgeschichten). Eine DnD-Convention spielt eine Rolle, und jemand, der tiefer als ich mit DnD zu tun hat, dürfte noch mehr Freude an der einen oder anderen Anspielung haben. Es gibt wie immer im Laundryverse düstere Kulte und Dämonenbeschwörungen; wichtig zu wissen – das Rollenspiel-Regelwerk ist turingvollständig und eignet sich daher für magische Handlungen. Stross mixt die „satanic panic“ der 1980er Jahre, einen genauen Blick darauf, was passiert, wenn Menschen über lange Zeit institutionalisiert werden, eine (für seine Verhältnisse erstaunlich sweete) Liebesgeschichte im Autismus-Spektrum und ein paar Bezüge zu anderen Laundry-Romanen (hallo, Iris). Das ist schnell weggelesen, aber es wird auch deutlich, dass es Zeit wird, dass Stross sich einen anderen Spielplatz sucht.
Photo of the week: Eisblumen
Der Fall der Brandmauer
Weil gerade schon fleißig andere Geschichten in die Welt gesetzt werden, fange ich mit dem an, was geschehen ist. Herr Merz von der CDU hat einen (hart rechtsaußen positionierten) Fünf-Punkte-Plan aufgeschrieben. Er hat angekündigt, diesen im Bundestag als Antrag einbringen zu wollen. SPD und Grüne könnten ja mitstimmen – wenn nicht, würde er auch eine Mehrheit mit der AfD in Kauf nehmen. Aus emotionaler Erregung heraus. Und ganz im Gegensatz zu dem, was er ein paar Wochen zuvor noch als Angebot und „Brandmauer“ zur AfD verkündet hatte.
SPD und Grüne haben sinnvollerweise abgelehnt, hier mitzugehen. Herr Merz hat den Antrag eingebracht – und mit Hilfe der FDP und vor allem der AfD auch eine Mehrheit dafür erhalten. Damit ist das jetzt ein offizieller Appell des Bundestags an die Bundesregierung (die allerdings nicht verpflichtet ist), irgendwie darauf zu reagieren.
Nach der Abstimmung saß die CDU/CSU ziemlich bedröppelt da, die AfD feixte und freute sich. Und tapfere Jungunionist*innen verbreiteten schnell die Erzählung, Grüne und SPD hätten die Mehrheit ja verhindern können, wenn sie denn bloß vollzählig da gewesen wären. Und überhaupt: das alles sei ja bloß so eine Art Notwehr gewesen, weil SPD und Grüne bisher keine CDU-Politik machen wollten.
Handlungen haben Folgen. In diesem Fall: eine scharfe Rüge durch die Altbundeskanzlerin Merkel – mitten im Wahlkampf. Erste Austritte aus der CDU, Friedmann als bekanntester Name. Ankündigungen CDU-mitregierter Bundesländer, im Bundesrat gegen das scheußlich benannte „Zustrombegrenzungsgesetz“ zu stimmen, das Herr Merz als nächstes in den Bundestag einbringen will. Und, am wichtigsten: rund hunderttausend Menschen, die überall in der Republik, teilweise vor CDU-Zentrale, teilweise einfach so, auf die Straße gegangen sind. Um die Brandmauer zu verteidigen.