Über Infrastruktur, und wie wir sie erhalten können

Ich gebe zu, dass ich bei dem The­ma etwas vor­ein­ge­nom­men bin. Eine von den Din­gen, die ich wirk­lich aus mei­nem Sozio­lo­gie­stu­di­um mit­ge­nom­men habe, ist Pra­xis­theo­rie: gesell­schaft­li­che Regeln, Erwar­tun­gen usw. ver­fes­ti­gen sich, indem sie immer wie­der wie­der­holt wer­den – und damit Bah­nen schla­gen für genau die­se Regeln und Erwar­tun­gen. Es ist so, weil es schon immer so war. Sozia­le Struk­tur­bil­dung ist flui­de. Jetzt kommt Tech­nik ins Spiel: in Infra­struk­tur und Arte­fak­te gegos­se­ne Erwar­tun­gen sind sehr viel fes­ter als blo­ße sozia­le Erwar­tungs­bün­del und tra­gen dazu bei, die­se über die Zeit fest­zu­schrei­ben. Bis hin zu kon­tin­gen­ten Ent­schei­dun­gen, die heu­te extre­men Ein­fluss dar­auf haben, was wir glau­ben zu tun zu kön­nen und was nicht. Egal, ob es das Lay­out von Tas­ta­tu­ren ist oder die Spur­wei­te der Eisen­bahn oder die Ori­en­tie­rung gan­zer Städ­te auf das Auto. Mit Eliza­beth Sho­ve gespro­chen: sozia­le Prak­ti­ken bestehen aus einer Tri­as aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Arte­fak­ten. Was ich sagen will: das Wech­sel­spiel zwi­schen Infra­struk­tur und sozia­ler Struk­tur­bil­dung fas­zi­niert mich.

Genau da setzt Deb Chach­ras Buch How Infra­struc­tu­re Works. Insi­de the Sys­tems That Shape Our World (2023) an. Chach­ra – eine Pro­fes­so­rin für Mate­ri­al­wis­sen­schaft – beginnt (wie im gan­zen Buch mit einem sehr lako­ni­schen, anspie­lungs­rei­chen und auch vor Wort­spie­len nicht zurück­schre­cken­den Stil) mit einer Ein­füh­rung, was Infra­struk­tu­ren über­haupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infra­struk­tu­ren auf­ein­an­der auf­bau­en. Und schon ziem­lich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infra­struk­tur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne sozia­le Ein­bet­tung – und ohne sozia­le Wir­kung – über­haupt nicht denk­bar ist. Beson­ders an dem Buch ist zudem die viel­fäl­ti­ge Per­spek­ti­ve. Chach­ra ist die Toch­ter von nach Kana­da ein­ge­wan­der­ten Inder*innen, und sie lebt inzwi­schen in den USA, zwi­schen­zeit­lich in Groß­bri­tan­ni­en. Das sind die Kon­trast­fo­li­en, die immer wie­der auftauchen.

Was im ers­ten Teil eher wie eine gute geschrie­be­ne Ein­füh­rung in die Geschich­te von Was­ser, Gas, Elek­tri­zi­tät (und Ver­kehr) wirkt, wird dann schnell zu einem poli­ti­schen Buch. Die Infra­struk­tur, die wir als gege­ben hin­neh­men, und die ein Ergeb­nis (und eine Grund­la­ge) der Akku­mu­la­ti­on von Reich­tum in den west­li­chen Gesell­schaf­ten dar­stellt, ist ohne lan­ge Hand­lungs­ket­ten, ohne Aus­beu­tung des glo­ba­len Südens, nicht denk­bar. Infra­struk­tur ist in sozia­le und poli­ti­sche Sys­te­me ein­ge­bet­tet und per­p­etu­iert diese.

Oder, um es in zwei Zita­te zu packen: „Infra­struc­tu­ral net­works, by their natu­re, increase indi­vi­du­al free­dom coll­ec­tively.“ (S. 115) – „Infra­struc­tu­ral net­works could be fair­ly descri­bed as vast con­s­truc­tions who­se pur­po­se is to cen­tra­li­ze resour­ces and agen­cy to a small frac­tion of extre­me­ly pri­vi­led­ged humans and to dis­place the harms to many others.“ (S. 134)

Chach­ra geht nun dar­auf ein, wie Infra­struk­tur „fails“ (fehl­schlägt, kaputt geht – ich fin­de, das lässt sich nicht so rich­tig gut über­set­zen). Das sind näm­lich nicht nur Ter­ror­an­schlä­ge etc., son­dern ins­be­son­de­re auch lang­sam anwach­sen­de War­tungs­pro­ble­me, weil zum Bei­spiel kein Geld da ist, um Brü­cken zu sanie­ren. Die­se Art von Pro­ble­men nennt Chach­ra in Abgren­zung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red ter­mi­tes“ – läs­tig, fast unsicht­bar, gut igno­rier­bar, und irgend­wann stürzt die Brü­cke dann ein. („Any suf­fi­ci­ent­ly advancded neg­lie­gence is indis­tin­gu­is­ha­ble from mali­ce.“ (S. 161))

Funk­tio­nie­ren­de Erhal­tung von Infra­struk­tur hat wie­der­um sehr viel damit zu tun, wie die­se poli­tisch ein­ge­bet­tet ist – geht es dar­um, einen Pro­fit zu erwirt­schaf­ten, oder steht das All­ge­mein­wohl im Vor­der­grund? Wie viel Geld wird zur Ver­fü­gung gestellt, und wie wird die schein­bar so lang­wei­li­ge Rou­ti­ne­ar­beit der Über­prü­fung und Instand­set­zung bewertet?

Neben Schwä­nen und Ter­mi­ten taucht dann auch ein „gray rhi­no“ auf – das graue Nas­horn, das längst im Raum steht, und ger­ne igno­riert wird, egal, wie es sich benimmt: der Kli­ma­wan­del. Das es die­sen gibt, hat viel mit Infra­struk­tur zu tun – im Bau und Betrieb von Infra­struk­tur steckt Ener­gie, und die ist für die letz­ten 200 Jah­re vor allem fos­si­le Ener­gie. Gleich­zei­tig führt der Kli­ma­wan­del dazu, dass Infra­struk­tur Pro­ble­men aus­ge­setzt ist, die bis­her unvor­her­ge­se­hen sind. Jahr­hun­dert­stür­me und ‑hoch­was­ser häu­fen sich, Tem­pe­ra­tu­ren schwan­ken über Berei­che hin­aus, für die Stra­ßen oder Strom­lei­tun­gen vor­ge­se­hen sind. Der Kli­ma­wan­del trägt also dazu bei, dass unse­re für selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­me­ne Infra­struk­tur schnel­ler und schnel­ler brö­ckelt und repa­riert und ange­passt wer­den muss.

Wie das gesche­hen kann – und damit schlägt Chach­ra dann den ganz gro­ßen Bogen – wird in den letz­ten Kapi­teln des Buchs aus­ge­führt, in dem sie eine Zukunfts­vi­si­on zeich­net. Die besteht nicht aus glit­zern­der High­tech, son­dern baut auf einer dezen­tra­li­sier­ten, fle­xi­blen und resi­li­en­ten Grund­la­ge auf. Das mag lang­wei­lig wir­ken, ist aber eine sehr viel kon­kre­te­re Uto­pie. Aus einer Ein­füh­rung in die Poli­tik der Infra­struk­tu­ren wird hier ein gut begrün­de­tes poli­ti­sches Mani­fest, das in sechs Hand­lungs­ma­xi­men mündet:

  1. Plan for Abun­dant Ener­gy and Fini­te Materials
  2. Design for Resilience
  3. Build for Flexibility
  4. Move Toward an Ethics of Care
  5. Reco­gni­ze, Prio­rit­ze, and Defend Non-mone­ta­ry Benefits
  6. Make It Public

Das schei­nen mir sehr gute Ori­en­tie­rungs­plan­ken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Ver­kehrs­sys­te­me, Städ­te­pla­nung, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­me, Elek­trik oder die Was­ser­ver- und ‑ent­sor­gung geht. Die Zusam­men­hän­ge, die Chach­ra zwi­schen Nach­hal­tig­keit im Sin­ne von Dau­er­haf­tig­keit, einer gewis­sen Nut­zungs­fle­xi­bi­li­tät und dem Fokus auf Resi­li­enz auf macht, erschei­nen sehr plau­si­bel. Dazu gehört auch der inhä­ren­te Wider­spruch zwi­schen Optimierung/Effizienz einer­seits und Resi­li­enz ande­rer­seits. Ein Sys­tem, das mit Ände­run­gen sei­ner Umwelt, mit Pro­ble­men und Stö­run­gen klar kom­men soll, braucht eine gewis­se Red­un­danz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das Sys­tem bis zum letz­ten Win­kel auf Effi­zi­enz getrimmt wird. 

Ganz neben­bei räumt Chach­ra hier in gelun­ge­ner Wei­se mit dem Mythos auf, dass der indi­vi­du­el­le Fuß­ab­druck, wie ihn BP erfun­den hat, ein hilf­rei­ches Maß ist. Ent­schei­dend sind die gro­ßen tech­ni­schen Sys­te­me, weil die­se nicht nur unser Han­deln ermög­li­chen und len­ken, son­dern in deren Bau und Betrieb auch der Löwen­an­teil unse­rer CO2-Emis­sio­nen steckt.

Ins­ge­samt also ein rund­um emp­feh­lens­wer­tes Buch, nicht nur für Nerds, son­dern für alle, die eine Hand­lungs­an­lei­tung für den Umbau der tech­ni­schen Welt, in der wir leben, brau­chen können. 

Optimale Pfade

Das mag jetzt etwas abwe­gig klin­gen, und viel­leicht geht’s nur mir so. 

Ich fin­de das an Com­pu­ter-Pro­gram­men rum­bas­teln sehr ent­span­nend, das ist auch etwas, wo ich schnell die Zeit aus den Augen verliere. 

Ähn­lich geht es mir mit eini­gen Spie­len, die auf den ers­ten Blick wenig mit­ein­an­der zu tun haben: Ter­ra­forming Mars, Cities: Sky­li­nes, Turing Com­ple­te (letz­te­res eine Simulation/Tutorial für den Auf­bau eines PC aus­ge­hend von AND- und OR-Schal­tun­gen). Was die­sen Spie­len gemein­sam ist: es gibt – opti­mier­ba­re – Pfa­de hin zu einem erwünsch­ten End­zu­stand. Bei Ter­ra­forming Mars kommt’s dabei auch auf Glück an, die rich­ti­gen Kar­ten zu haben. Cities: Sky­li­nes als Städ­te­bau­si­mu­la­ti­on ist manch­mal opak. 

Turing Com­ple­te zeigt das in Rein­kul­tur: baue einen Schalt­kreis, der genau die­se Auf­ga­be mög­lichst effi­zi­ent erle­digt, z.B. die Mul­ti­pli­ka­ti­on zwei­er Binärzahlen.

Das Schö­ne an die­sen Spie­len ist das Erfolgs­er­leb­nis, durch Nach­den­ken und Aus­pro­bie­ren opti­ma­le Pfa­de zu fin­den. Wenn A und B, und dann C, dann auch D …

Har­ter Kon­trast zur wirk­li­chen Welt: die ist mit ihren gro­ßen Pro­ble­men natür­lich um ein paar Grö­ßen­ord­nun­gen kom­ple­xer als Pro­gram­me oder Wege durch Spie­le. Trotz­dem lässt sich so etwas wie die gro­ße Trans­for­ma­ti­on oder die Her­aus­for­de­rung der Kli­ma­kri­se als Netz­werk von Abhän­gig­kei­ten den­ken, durch den es einen opti­ma­len (oder über­haupt irgend­ei­nen) Pfad zu fin­den gilt. 

Neben der Grö­ßen­ord­nung gibt es aller­dings min­des­tens zwei wich­ti­ge Unter­schie­de, die die Suche nach opti­ma­len Pfa­den zu einer deut­lich weni­ger erfreu­li­chen Ange­le­gen­heit machen.

Zum einen fehlt die Mög­lich­keit des Tri­al und Errors; die gibt es bei poli­ti­schen Lösun­gen der Kli­ma­kri­se noch nicht ein­mal als Simu­la­ti­on. Ent­schei­dun­gen sind viel­fach irrever­si­bel. Fal­sche Abbie­gun­gen schlie­ßen gan­ze Äste aus. Gleich­zei­tig erscheint das, was als mög­li­cher Pfad für eine Lösung die­ser Fra­ge denk­bar ist, als sehr fra­gi­le Ange­le­gen­heit. Damit am Schluss ein Zwei-Grad-Sze­na­rio her­aus­kommt, müs­sen ganz vie­le Ent­schei­dun­gen an ganz vie­len Stel­len – vom Ver­kehrs­sys­tem bis zur Fra­ge der Methan­emis­sio­nen aus der Tier­hal­tung – welt­weit rich­tig getrof­fen wer­den. „Klei­nig­kei­ten“ wie die Fra­ge, wann das Hei­zungs­ge­setz in Deutsch­land sei­ne Wir­kung ent­fal­tet, kön­nen sich als poli­ti­sche Kipp­punk­te erwei­sen und ande­res ver­un­mög­li­chen. Alles hat Neben­wir­kun­gen und Seiteneffekte.

Zum ande­ren sind, wie hier schon deut­lich wur­de, sehr vie­le Akteur*innen betei­ligt, die für eine erfolg­rei­che Lösung koope­rie­ren müs­sen. Und das macht’s noch­mal deut­lich schwie­ri­ger – erst recht aus einer Per­spek­ti­ve des mini­ma­len Ein­flus­ses auf eini­ge weni­ge „Schal­ter“.

Bringt mir die­ser Ver­gleich jetzt etwas? Viel­leicht die Erkennt­nis, dass – ohne in sozio­tech­ni­sche Inge­nieursträu­me oder Plan­bar­keits­eu­pho­rie zu ver­fal­len – es gut wäre, wenn das Bewusst­sein dafür, dass es sich bei den gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen nicht um iso­lier­te Pro­ble­me han­delt, son­dern erfolg­rei­che Lösun­gen auf ein gan­zes Netz­werk aus Wir­kun­gen und Effek­ten ange­wie­sen ist, samt Feed­back­schlei­fen und Rückwirkungen.

Den einen opti­ma­len Pfad kennt nie­mand. Viel­leicht gibt es ihn nicht. Und viel­leicht sind wenig plan­ba­re Din­ge wie Märk­te und expo­nen­ti­el­le Tech­nik­durch­set­zun­gen – wie wir sie gera­de bei PV erle­ben, am Ende wichtiger. 

Trotz­dem wür­de ich mir mehr Bewusst­sein über all die­se Abhän­gig­kei­ten wün­schen. Gera­de bei denen, die entscheiden.

Und, ganz ande­rer Punkt: löse die Kli­ma­kri­se könn­te jen­seits aller Didak­tik (an der m.E. Ves­ters Öko­lo­po­ly schei­tert) eine gute Grund­la­ge für ein Simu­la­ti­ons­spiel sein.

Generationengraben

Gene­ra­tio­nen sind ja eine sozio­lo­gisch eher frag­wür­di­ge Grup­pen­bil­dung – längst nicht alle Men­schen (in einem Land) mit in etwa den sel­ben Geburts­jahr­gän­gen tei­len die sel­ben Wer­te und Ein­stel­lun­gen oder leben unter den sel­ben Bedin­gun­gen. Inso­fern sind Ein­tei­lun­gen wie „Boo­mer“, „Gene­ra­ti­on X“, „Gene­ra­ti­on Y“ oder „Gene­ra­ti­on Z“ mit Vor­sicht zu genie­ßen. Trotz­dem gibt es so etwas wie vor­herr­schen­de poli­ti­sche Stim­mun­gen, pop­kul­tu­rel­le und dis­kur­si­ve The­men, die genau­so wie Ereig­nis­se (Mau­er­bau, Mau­er­fall, 9/11, Coro­na, …) und Ände­run­gen der Lebens­be­din­gun­gen (ver­füg­ba­res Ein­kom­men, erleb­te Infra­struk­tur, …) in der Ado­les­zenz eine gemein­sa­me Prä­gung über ande­re sozio­de­mo­gra­fi­sche Merk­ma­le (Geschlecht, Klas­se, Schicht, Eth­ni­zi­tät, …) plau­si­bel erschei­nen las­sen. Soll hei­ßen: auch wenn die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Gene­ra­ti­on wenig über eine ein­zel­ne Per­son aus­sagt, scheint es doch nicht ganz unsin­nig zu sein, über Gene­ra­tio­nen im Plu­ral zu spre­chen, um Ver­än­de­run­gen der Lebens­be­din­gun­gen (in einem Land) abzubilden.

Mit dem Geburts­jahr­gang 1975 (den ich plus minus ein paar Jah­re mit vie­len Men­schen tei­le, die jetzt beruf­lich und fami­li­är „ange­kom­men“ sind), wäre ich dem­nach ein Mit­glied der „Gene­ra­ti­on X“ (1965–1980), eine Bezeich­nung, die mit Dou­glas Cou­p­lands gleich­na­mi­gem Buch popu­lär gewor­den ist – oder nach Flo­ri­an Illies für Deutsch­land: „Gene­ra­ti­on Golf“. Neben diver­sen pop­kul­tu­rel­len Eigen­hei­ten (Fern­seh­pro­gramm!) und einer gan­zen Rei­he von sozia­li­sa­ti­ons­re­le­van­ten Sub­kul­tu­ren zeich­net sich die Gene­ra­ti­on X, zumin­dest wenn der Wiki­pe­dia geglaubt wer­den darf, dadurch aus, 

„… dass ihr pro­phe­zeit wur­de, dass sie sich erst­mals ohne Kriegs­ein­wir­kung mit weni­ger Wohl­stand und öko­no­mi­scher Sicher­heit begnü­gen müs­se als die Eltern­ge­nera­tio­nen, aber ande­rer­seits für deren öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Sün­den büße.“

Das ist das „no future“, das in ver­schie­dens­ten Aus­prä­gun­gen seit der Jugend der Gene­ra­ti­on X über unse­ren Häup­tern schwebt – Angst vor dem Atom­krieg, die Atom­un­fall­angst nach Tscher­no­byl, ein zyni­sches Ver­hält­nis zur Blüm­schen Ren­ten­si­cher­heit, usw. … 

Aus heu­ti­ger Sicht scheint der gro­ße Gene­ra­tio­nen­gra­ben aller­dings zwi­schen Baby­boo­mern und Gene­ra­ti­on X auf der einen Sei­te und allen nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen – begin­nend mit den Ange­hö­ri­gen der Millenial-„Generation Y“ – zu ver­lau­fen. Wirt­schaft­lich hat das Ende des Kal­ten Kriegs und der Inter­net­boom noch­mal ein biss­chen Auf­schub ver­schafft, die har­ten öko­lo­gi­schen Fol­gen wer­den erst jetzt spür­bar. Damit ist die Gene­ra­ti­on X bei aller Skep­sis und bei aller selbst­iro­ni­schen Ver­lie­rer­be­schrei­bung aktu­ell Teil der­je­ni­gen, die die „gute alte Zeit“ wei­ter­tra­gen will, die am Ein­fa­mi­li­en­häus­chen­ide­al fest­hält, die tief im Inne­ren doch an Wachs­tum und ein bes­se­res Mor­gen glaubt. Nicht unbe­dingt die bes­ten Vor­aus­set­zun­gen dafür, jetzt die wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Wei­chen rich­tig zu stellen.

Der Gene­ra­ti­on Y, und erst recht der jetzt ins Berufs- und Erwach­se­nen­le­ben ein­tre­ten­den Gene­ra­ti­on Z, wer­den ganz ande­re Wer­te zuge­schrie­ben. Selbst­ver­wirk­li­chung, selbst­ver­ständ­lich gewor­de­ne digi­ta­le Medi­en, der Rück­zug ins Pri­va­te, die neue Poli­ti­sie­rung, Fach­kräf­te­man­gel und Welt­ver­bes­se­rung. Die hart auf­schla­gen­de Kli­ma­kri­se, Fri­days for Future, die Pan­de­mie, ein Ende des Endes der Geschich­te, neue geo­po­li­ti­sche Situa­tio­nen, der rus­si­sche Krieg und die brö­ckeln­de wirt­schaft­li­che Glo­ba­li­sie­rung bei selbst­ver­ständ­li­chem indi­vi­du­el­lem Welt­bür­ger­tum … all das könn­te die Lebens­welt beschrei­ben, in der die Ange­hö­ri­gen die­ser Alters­ko­hor­ten erwach­sen werden. 

Aus der Zukunft betrach­tet, neh­men wir das Jahr 2050 oder 2070: Für die Ange­hö­ri­gen „mei­ner“ Gene­ra­ti­on sind die 2020er Jah­re eine Zei­ten­wen­de, ein Ende der Gewiss­heit. Für uns hört etwas auf, bricht etwas ab. Eigent­lich soll all die­sen Umbrü­che zum Trotz alles so wei­ter­ge­hen wie bis­her – bit­te! Und es gibt vie­le, die sich an die­se Hoff­nung klam­mern, bis hin zur Ver­drän­gung der Katastrophe.

Für die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen waren die 2020er Jah­re ein Beginn, der Anfang von etwas Neu­em, das erst ent­steht und auf­ge­baut wer­den muss. Die­ses Neue geht von der radi­ka­len Akzep­tanz der Kli­ma­kri­se aus. Dadurch – und durch das Erle­ben der Kri­sen­jah­re – ver­schie­ben sich Prio­ri­tä­ten. Wer sei­ne Ado­les­zenz zwi­schen 2000 und 2020 ver­bracht hat, lebt in einer fra­gi­le­ren Welt. Nicht nur das Kli­ma ist zer­brech­lich. Die Coro­na-Pan­de­mie hat sozia­len Zusam­men­halt und die Arbeits­welt erschüt­tert. Die Abhän­gig­keit von glo­ba­len Lie­fer­ket­ten ruft Fra­ge­zei­chen her­vor. Ein „das war schon immer so“ ist in die­ser neu­en Situa­ti­on nicht mehr akzep­ta­bel – egal, ob es um Beruf, um Bil­dung, um Geschlech­ter­ver­hält­nis­se oder anders geht. Extrem gut gebil­de­te, selbst­ver­ständ­lich inter­na­tio­nal ver­netz­te Ange­hö­ri­ge der Gene­ra­tio­nen Y und Z haben im Rück­blick die Chan­ce ergrif­fen, eine neue Welt zu bau­en. Nicht als Uto­pie, son­dern aus schie­rer Not­wen­dig­keit heraus.

Gene­ra­tio­nen­be­grif­fe sind Ver­su­che, sich ändern­de Lebens­be­din­gun­gen und Deu­tungs­mus­ter zu ver­ste­hen. Sie tref­fen kei­ne Aus­sa­gen über ein­zel­ne Per­so­nen. Inso­fern gibt es sicher­lich Älte­re, die Anschluss an das Mind­set der Gene­ra­tio­nen Y/Z fin­den, und Jün­ge­re, die auf Wei­ter so mit Häus­le bau­en set­zen. In der Sum­me neh­me ich hier aber eine Ver­än­de­rung wahr – und eben einen gro­ßen Gra­ben zwi­schen denen, die bis etwa 1980 gebo­ren sind und an eine alte Welt ver­tei­di­gen wol­len, die immer so wei­ter­läuft; und den Jün­ge­ren, denen die­se Hoff­nung ent­ris­sen wurde. 

Kurz: Nudgende Apps

Es fing vor ein­ein­halb Jah­ren damit an, dass unse­re Dienst­han­dys auf Gerä­te von Apple umge­stellt wur­den, Sicher­heits­grün­de. Seri­en­mä­ßig läuft auf Apple-Han­dys „Health“ – und die­se App zählt unent­wegt Schrit­te, Höhen­un­ter­schie­de, usw. – solan­ge das Han­dy dabei ist – und kann auch alle mög­li­chen ande­ren Daten anzei­gen. Eigent­lich soll­te das kei­nen gro­ßen Unter­schied machen, aber zu wis­sen, dass da eine App mit­zählt, und die Mög­lich­keit zu haben, jeder­zeit nach­zu­schau­en, wie vie­le Schrit­te es waren; das macht tat­säch­lich etwas mit einem. Mit mir jeden­falls. Bei­spiels­wei­se hat­te ich durch den Weg zum Bahn­hof und vom Bahn­hof zum Büro in den regu­lä­ren Arbeits­wo­chen eini­ge Tage mit vie­len Schrit­ten, und an den Home­of­fice-Tagen nur etwa halb so vie­le Schrit­te. Mit Beginn der Coro­na-Maß­nah­men sank mei­ne durch­schnitt­li­che monat­li­che Schritt­zahl damit deut­lich, was dazu führ­te, dass ich mir sag­te, dass ich doch durch Spa­zier­gän­ge etc. zumin­dest den weg­fal­len­den Arbeits­weg erset­zen soll­te. Und jetzt spielt das Han­dy schlech­tes Gewis­sen, weil die Zahl für die­se Woche eben doch noch nicht ganz erreicht ist.

Aber „Health“ kann nicht nur Schrit­te zäh­len. In Ver­bin­dung mit ande­ren Apps zählt „Health“ auch, wie vie­le Kilo­me­ter Rad ich gefah­ren bin, wie viel Was­ser ich getrun­ken habe und wie vie­le Kalo­rien ich zu mir genom­men habe – letz­te­res seit etwa ein­ein­halb Mona­ten und dem Vor­satz, mal etwas mehr auf mein Gewicht zu ach­ten. Und da ist es die blo­ße Tat­sa­che, dass ich jedes Nah­rungs­mit­tel in der App nach­schla­gen und ein­ge­ben muss (mit teils recht gro­ben Men­gen­schät­zun­gen – ist ein Pfir­sich wirk­lich 125 g schwer – mehr – weni­ger?), die mein Ver­hal­ten beein­flusst. Essen wird dadurch kom­pli­zier­ter. Mal eben neben­bei eine hal­be Tafel Scho­ko­la­de essen oder die Res­te der Sah­ne­so­ße auch noch – das wür­de ja bedeu­ten, die App (noch­mal) auf­ru­fen und das ein­ge­ben zu müs­sen. Inso­fern esse ich kon­trol­lier­ter. Ob das im End­ef­fekt was hilft, bleibt abzuwarten.

Span­nend fin­de ich es alle­mal, dass ein Smart­phone (bzw. eine App) tat­säch­lich auf die­se Art und Wei­se eine geziel­te Wir­kung auf mein Ver­hal­ten haben kann. Letzt­lich scheint es sich mir um eine Umset­zung von „Nud­ging“ zu han­deln – also der Ver­such, durch Hin­wei­se und klei­ne Schub­ser Ver­hal­ten (zum Bes­se­ren) zu ver­än­dern. Strei­ten lie­ße sich aller­dings dar­über, wer hier der Anschub­ser ist – Apple, weil „Health“ so wun­der­bar mit­zählt und ein­fach von Anfang an läuft, wenn ein iPho­ne ver­wen­det wird, oder ich selbst, weil ich die­se Apps nut­ze und mich davon beein­flus­sen lasse(n will). Ach ja – und die „Coro­na Warn App“? Die gehört auch dazu, glau­be ich. Da ist es aller­dings nicht Apple, son­dern der Staat, der schubst.

Nicht ablenken: die Klimakrise kann nur politisch gelöst werden

Frankfurt to Boston - IV
Oft sind Twit­ter­de­bat­ten furcht­bar, aber manch­mal sind sie tat­säch­lich fruchtbar. 

Aber ich fan­ge noch mal anders an. Neh­men wir an, ein Land hät­te sich vor­ge­nom­men, den Mond zu errei­chen. Ein mil­li­ar­den­teu­res Vor­ha­ben. Es muss eine ent­spre­chen­de For­schungs­land­schaft und Indus­trie auf­ge­baut wer­den. Astronaut*innen müs­sen gefun­den und trai­niert wer­den. Und so wei­ter. In die­sem Land aber ist das anders. Es gibt eine brei­te öffent­li­che Debat­te dar­über, wie wich­tig es sei, den Mond zu errei­chen. Und des­we­gen wür­den alle Bürger*innen ab sofort dazu auf­ge­ru­fen, Lei­tern auf ihren Haus­dä­chern zu befes­ti­gen, ger­ne auch hohe. Jedes biss­chen hilft! Wer Astronaut*in wer­den will, soll­te selbst­ver­ständ­lich auf die höchs­te Lei­ter auf dem höchs­ten Haus klettern.

Der Ver­gleich hinkt. Trotz­dem hilft er. In gewis­ser Wei­se ist die Lösung der Kli­ma­kri­se ein Moonshot-Pro­jekt. Alles muss sich dar­auf aus­rich­ten, Treib­haus­gas­emis­sio­nen zu redu­zie­ren und Sen­ken zu schaf­fen (also zum Bei­spiel Bäu­me zu pflan­zen). Ein rele­van­ter Teil der öffent­li­chen Debat­te beschäf­tigt sich damit, was jede und jeder selbst tun kann. Vege­ta­ri­sche Ernäh­rung. Eine auto­freie Mobi­li­tät. Kei­ne Flüge. 

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