Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, an dieser ersten Präsenz-BDK – also dem Bundesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen – seit einer gefühlten Ewigkeit vor Ort in Bonn teilzunehmen. Da ich nur Ersatzdelegierter bin, und die Debatten im Stream ebenso gut verfolgbar sind, habe ich mich dann angesichts der rapide steigenden Coronazahlen einerseits und leichten Erkältungssymptomen andererseits entschieden zu Hause zu bleiben. Also, nur ein Bericht vom Bild, ohne Hintergrundrauschen aus der Halle, ohne Atmosphäre und ohne Nebengespräche.
Trotzdem glaube ich, dass sich ein bisschen was über diese BDK sagen lässt. Motto „Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten“. Die multiplen, sich überlappenden Krisen tauchten selbstverständlich immer wieder auf – in den Reden genauso wie in den Anträgen. Überhaupt: diese BDK war ein Antrags-Parteitag. Im Mittelpunkt standen nicht die Wahlen, keine Listenaufstellung, und auch kein Programm, vielmehr wurde an vier großen thematischen Blöcken gearbeitet. Dazu kamen zehn sonstige Anträge, ein sehr kurzfristiger Dringlichkeitsantrag zur Sicherheit kritischer Infrastrukturen und einige Satzungsänderungsanträge. Ein Antrags- und damit ein Arbeitsparteitag, also.
Grün-typisch fand ein großer Teil der Arbeit im Vorfeld bzw. im Verborgenen statt: zu den Leitanträgen gab es eine Vielzahl an Änderungsanträgen, teilweise wurden sie inhaltlich erheblich verändern. Über das Tool Antragsgrün (dem noch eine Synopsenfunktion fehlt) und die Vorstellung des Verfahren durch die Antragskommission blieb das halbwegs nachvollziehbar. Sichtbarer waren dagegen die Änderungsanträge, die zur Abstimmung gelangten (d.h.: bei denen im Vorfeld keine Einigung darüber gab, wie das Anliegen der Antragstellenden in den Leitantrag einfließen kann) – am Freitag und Samstag kamen die meisten dieser Anträge, die zur Abstimmung kamen, aus der Splittergruppe der „Unabhängigen Grünen Linken“. Mehrheiten fanden sie so nicht, aber natürlich Sichtbarkeit.
Vielleicht helfen die Abstimmungsergebnisse bei der medialen Einordnung – meinem Eindruck nach stürzten sich einige Journalist*innen im Vorfeld des Parteitags geradezu darauf, dass es da eine Gruppe gibt, die den Kurs der grünen Minister*innen in Frage stellt. Wunderbares Thema! Berichtsanlass! Konflikt! – aber halt bei weitem nicht die Mehrheitsmeinung in der stark gewachsenen Partei.
Die sich auch an anderen Stellen als vernunftorientierte Partei zeigte (dazu empfehlenswert: diese Thesen von Thorsten Denkler, ThePioneer). Beispielsweise gab es im Vorfeld des Parteitags ein so genanntes „V‑Anträge-Ranking“. Aus den über 30 „V‑Anträgen“, also Anträgen zu sonstigen Themen, wurden in diesem Ranking durch Abstimmung unter allen Mitgliedern die zehn ausgewählt, die am Parteitag behandelt werden konnten. Und dabei wurde einiges sehr zu Recht aussortiert – auch Anträge, die die CSU vorher meinte, per Sharepic verbreiten zu müssen. Wobei hier wie immer gilt: keine Sharepics der politischen Gegner teilen, auch nicht, um ihnen zu widersprechen.
Soweit, so – ehrlich gesagt – vorhersehbar. Die erwachsen gewordene Partei macht das, was sie in den letzten Jahren unter den Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock eingeübt hat: zusammenrücken, Geschlossenheit, Beinfreiheit, und eine hart pragmatische Politik mit Kompass, aber ohne „Ideologie“. Entsprechend wurde das auch journalistisch goutiert – ach, doch kein Streit? Ehrliche Auseinandersetzung in der Sache, hartes Ringen, viel Selbstreflexion? – naja, langweilig. Und dass es mit der vom Bundesvorstand verlorenen Satzungsänderungsabstimmung zur Professionalisierung des Parteirat ein Ventil gab – auch das irgendwie business as usual.
Selbst die klare und berührende Solidaritätserklärung mit den Protesten im Iran passte noch ins Erwartungsraster, genauso wie die Redebeiträge von DGB und BDI, aus der Ukraine und von Memorial. Das war Selbstvergewisserung, grüne Bündnispartei zu sein, mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten und mit der Wirtschaft – BDI – zumindest zu reden.
Dann passierte etwas. Genauer gesagt: Sonntag, nach den Wahlen, beim Antrag Klimaschutz. Da wechselte die BDK in ihrer Tonalität. Aus dem einen, erwartbaren Parteitag wurde ein ganz anderer.
Hier gab’s zwar auch Anträge der üblichen Verdächtigen, aber auch einen Antrag der Grünen Jugend, der darauf drängte, in den Leitantrag Klimaschutz ein Moratorium für Lützerath aufzunehmen. Lützerath ist ein kleiner Ort im rheinischen Kohlerevier und ein Symbol der Klimabewegung. Ein paar Tage vor der BDK hatten Robert Habeck und seine nordrhein-westfälische Kollegin Mona Neubaur verkündet, dass sie sich mit RWE verständigt haben: Lützerath darf abgebaggert werden, also vor allem die darunter liegende Kohle, zum Ausgleich zieht RWE den Kohleausstieg in NRW von 2038 auf 2030 vor, und eine ganze Reihe weiterer Orte und Gehöfte bleiben erhalten. Vermarktet wurde das als großer Erfolg fürs Klima. Dem folgte prompt der Widerspruch von Fridays for Future, die vorrechneten, dass damit mehr als das noch verfügbare CO2-Budget Deutschlands an Kohle auf den Markt (und in die Luft) kommen soll.
Großer Erfolg fürs Klima? Oder das endgültige Besiegeln, den 1,5‑Grad-Pfad in Deutschland zu verlassen? Und – gab es überhaupt Handlungsspielräume? Oder war der Abriss des Ortes vor Gericht „ausverhandelt“, jedes Zugeständnis von RWE also ein Erfolg?
Hier und bei der Klimapolitik prallten sehr hart unterschiedliche Positionen aufeinander. Viel Bedarf, zu reden, und viele Redebeiträge, denen die Politik der Ampel nicht ausreicht. Allen voran Luisa Neubauer, die als Gastrednerin (und grünes Mitglied) in einer sehr guten, im Ton leisen und gleichzeitig im Inhalt lauten Rede deutlich machte, dass „Hyperrealpolitik“ auch grüner Seite nicht goutiert wird, dass sich mit dem Klima weiterhin nicht verhandeln lässt, und dass hier eine existenzielle Frage steckt, die bitte auch genau so zu behandeln ist. Der Aufruf, Politik zu machen „als würde es um alles gehen. Denn das tut es.“
Dafür gab es viel Beifall und standing ovations. Cem Özdemir, Mona Neubaur und Oliver Krischer – und ganz am Schluss auch noch einmal Ricarda Lang – hielten kräftig dagegen. Letztlich wurde der Antrag der Grünen Jugend auf ein Moratorium für Lützerath – und damit auch der Symbolantrag – mit 46 zu 49 Prozent abgelehnt, der vielfach modifizierte und um Ziele wie etwa einen 100-Mrd-Euro-Fonds für Klima ergänzte Leitantrag des Bundesvorstands angenommen.
Das war knapp. Und hier war zu spüren, dass sehr viele Delegierte ihren Kompass an der Klimaschutzbewegung ausrichten. Die physikalische Materialität der planetaren Grenzen setzt auch der grünen Kompromissbereitschaft Grenzen. Und zwar um einiges deutlicher, als dies beim sicherlich immer noch identitätsstiftenden Thema Atomausstieg oder bei der schon seit Jahren auf die robuste Verteidigung der Menschenrechte hin orientierten Außenpolitik der Fall ist.
Wenn die Einschätzung stimmt, dass die gewachsene, jünger gewordene Partei sich in einer großen Zahl an der Klimabewegung orientiert, und es nicht einfach hinnimmt, wenn grüne Realpolitik hier langsamer ist, als sie es sein müsste, um – pathetisch gesprochen – die Welt zu retten, dann dürfte das auch in den kommenden Jahren die parteiinternen Auseinandersetzungen prägen. Vielleicht symbolisch dafür das Bild, als Ricarda Lang am Ende der Rede von Luisa Neubauer dieser dankte, als beide auf der Bühne standen – zwei Frauen aus einer Generation, zwei Gesichter der Bewegung, aber im Auseinanderdriften befindlich.
Und gleichzeitig hat dieser Parteitag Grenzen gesetzt. Das geschah nicht nur beim Klima, dort auf der Bühne sichtbar, sondern – verbindlich im Ton – ebenso in modifizierten Übernahmen, die in die Leitanträge zur Inflation und sozialen Sicherheit, zur Energiepolitik, zur Außenpolitik hineinverhandelt wurden. Unseren Minister*innen wird viel Beinfreiheit zugestanden, es gibt viel Vertrauen, dass sie das schon richtig machen werden. Dieses Vertrauen in die Verantwortungsübernahme hat die Partei in den letzten Jahren geprägt und hat uns gut getan. Aber jetzt kommt dazu eine deutliche Äußerung von Erwartungen: die Partei erwartet auch von einem Minderheits-Koalitionspartner klare Ergebnisse, um beim Klimaschutz etwas hinzukriegen. Und sie hat beim Atomausstieg – dessen Verschiebung um wenige Monate hingenommen wurde – ebenso rote Linien gezogen wie bei Waffenexporten. Dass wir regieren, wird als Erfolg wahrgenommen – aber nicht als Selbstzweck. Und zwar ganz egal, ob Krise oder nicht.
Gleichzeitig hat sich die Partei dabei eine Haltung zu eigen gemacht, wie sie Ska Keller bei ihrer Verabschiedung als EP-Fraktionsvorsitzende zum Ausdruck brachte:
„Und die zweite Botschaft, die euch noch mitgeben will, ist die: Habt euch lieb! Vertragt euch! Seid nett miteinander und seid auch nett mit euch selbst. Wir sind hier in einem Marathon und nicht in einem Sprint!“
Streit in der Sache, ringen um die richtigen Antworten – aber eben kein Zerfleischen (nicht einmal bei der Frage, wie viel Radikalität wir dem Klima zugestehen), keine persönlichen Angriffe. Das trägt die Partei.
Aber neben dem ernsthaften, freundlichen und verbindlichen Umgang miteinander stand eine Tonalität, die mich etwas irritierte. Denn, Stichwort Krise, die Häufigkeit, in der in so gut wie jeder Rede – auch in den sehr guten Reden von Ricarda Lang, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Cem Özdemir – darauf hingewiesen wurde, dass wir uns das mit dem Regieren anders vorgestellt haben, mit dem 24. Februar 2022 aber alles anders geworden ist, war schon auffällig. Das nahm teilweise schon Züge an, die irgendwo zwischen protestantisch-pflichtbewusst (Omid Nouripour: klar sind wir staatstragend!) und masochistisch changierten. Es war viel die Rede von Aufgaben, von Pflicht, immer wieder von Verantwortung. Leicht machen wir es uns jedenfalls nicht. Und der Eindruck, dass die Ampel als Fortschrittskoalition in eine Richtung ziehen würde, der war in keiner einzigen Rede wahrnehmbar. Scholz kam weitgehend nicht vor, dafür wurde – meist in den Zwischentönen – viel und ausgiebig auf die FDP geschimpft. Nur die CDU mit ihrer selbstvergessenen Orientierungslosigkeit, der Übernahme rechtspopulistischer Motive und dem Spaß am Zündeln in der Opposition kam noch schlechter weg.
Abschließend noch ein paar Worte zur fortlaufenden Digitalisierung. Auf der Positivseite: natürlich gibt es einen Stream (auch mit Untertiteln oder Gebärdendolmetschung). Die Anträge und Bewerbungen stehen alle vorab in Antragsgrün, ebenso sind dort die Verfahrensvorschläge einsehbar. Und auch die Beschlüsse stehen sehr schnell dort. Entsprechend papierlos ist dieser Parteitag angelegt – es gibt keine auf Papier verschickten Unterlagen, und der Stimmblock bleibt bis fast zum Schluss in der Tasche. Stattdessen gilt „bring your own devices“, die Delegierten sollen die Antragslage auf ihren Handys, Notebooks oder Tablets verfolgen und von dort – über das schon bei den digitalen Parteitagen genutzte System – auch abstimmen. Das scheint halbwegs zu klappen, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle – genau wie die eingespielten Videos, die nicht immer wollten – holprig ist. Es dauert aber, bis alle Delegierten eingeloggt sind, bis dann alle Stimmen abgegeben werden. Ein großer Zeitvorteil ist erst bei den Wahlen erkennbar (die allerdings noch einmal schriftlich bestätigt werden müssen, um dem Parteiengesetz genüge zu tun). Zur Abstimmung über den Lützerath-Antrag wird dann doch der Stimmblock herausgeholt – und auch das dauert und zieht sich hin. Ohne superstarkes Netz in der Halle bleibt der papierlose Parteitag Stückwerk.
Nicht zuletzt war diese BDK, wie jeder grüne Parteitag, ein Stück Arbeit an der Parteigemeinschaft. Dazu gehörte nicht nur schönes wie die Parteitagsparty oder das Gespräch nebenbei – beides nur in Präsenz vor Ort erlebbar – sondern auch das gemeinsame Erinnern an Hans-Christian Ströbele und Katja Husen, die beide in diesem Jahr verstorben sind. Ich bin dankbar, dass auch dem Raum eingeräumt wurde.