Eigentlich gibt es zur Zeit wichtigeres als das Innenleben der grünen Partei. Trotzdem könnte die 39. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz, die Ende November in Halle stattfindet, interessant werden, liegen doch inzwischen einige Anträge Unzufriedener vor. Ich denke dabei insbesondere an den Antrag „Die Partei strategisch neu aufstellen, Fenster und Türen öffnen!“ von Robert Zion und an den Antrag „Für eine umfassende Rückkehr zu basisdemokratischen Strukturen“ von Frank Brozowski und anderen. Insgesamt stehen inzwischen 146 Personen unter den Anträgen. Worum geht es?
Beide Anträge sind formell recht ähnlich aufgebaut. Auf eine längere Analyse mit Empfehlungen – bei Zion eher strategisch-inhaltlich, bei Brozowski stärker an Formalien orientiert – folgt jeweils ein recht knapp gehaltener Beschlussteil. Bei Robert Zion heißt es hier:
Die Bundesdelegiertenkonferenz nimmt die hier dargestellte Analyse und das strategische Konzept „Europa anders bauen – ein neuer Vertrag für unsere Gesellschaften“ zustimmend zur Kenntnis. Sie beauftragt den Bundesvorstand entsprechende organisatorische und programmatische Schritte zur Umsetzung eines solchen oder ähnlichen Langzeitkonzepts mit konkreten Zeitschienen einzuleiten. Die satzungsmäßigen Organe und Arbeitsgemeinschaften sowie die Parteibasis sind in die Erarbeitung mit einzubeziehen. Potenzielle politische und gesellschaftliche Verbündete in ganz Europa sind zu identifizieren, um in einen Austausch über gemeinsame Ziele und Strategien einzutreten.
Der Basidemokratie-Antrag fordert entsprechend:
Der Inhalt des vorliegenden Antrags wird zustimmend zur Kenntnis genommen. Es wird eine in ausgewogener Weise mit Mitgliedern des BuVos, der LaVos, des Parteirats und mit Basismitgliedern esetzte Kommission eingesetzt. […] Die oben genannten konkreten Ziele sind als Forderung zu betrachten, die von der Kommission umgesetzt werden. Deutlich vor Antragsschluss vor der BDK 2016 legt die Kommission Ergebnisse vor, die zeigen sollen, wie die genannten Probleme konkret gelöst und die genannten Ziele erreicht werden können. Auf der BDK 2016 sollen die entsprechenden Punkte (Satzungsänderungen etc.) beschlossen werden. Wir gehen davon aus, dass es sich hierbei um einen längeren Prozess handelt. Deshalb ist auch auf den nächsten BDKen (mind. 5 Jahre) jeweils ein Tagesordnungspunkt „Basisdemokratie“ anzusetzen.
Beide Anträge gemeinsam – es gibt durchaus Überlappungen zwischen den jeweiligen AntragstellerInnen und UnterstützerInnen – gemeinsam würden versuchen, für einen längeren Zeitraum („Langzeitkonzept“, „längeren Prozess“) inhaltlich wie organisatorisch das Arbeitsprogramm des Bundesvorstands festzulegen. Derartige Arbeitsaufträge sind nicht ganz ungewöhnlich, beispielsweise hat eine der letzten Bundesdelegiertenkonferenzen eine Kommission eingesetzt mit dem Auftrag, die grüne Position zum Verhältnis Kirche und Staat zu klären. Ebenso gibt es immer wieder Beschlüsse zu einzelnen Themen, die aus der Basis der Partei heraus initiiert worden sind. Der Anspruch, über Anträge zum Parteitag in diesem Ausmaß eine inhaltlich-strategische Neuausrichtung der Partei einzufordern, ist dagegen eine neue Qualität. Insofern lohnt sich eine inhaltliche Auseinandersetzung.
Revival der Bewegungspartei, nur diesmal europäisch
Der Antrag „Die Partei strategisch neu aufstellen, Fenster und Türen öffnen!“ stellt in seiner Analyse zunächst einmal fest, dass es auf Bundesebene an realistischen Regierungsoptionen fehlt, und dass es einen „politischen Stillstand“ im Land gibt. Bereits hier fällt auf, dass das Beschreibungen sein mögen, die für die Bundesebene zutreffen, aber völlig ignorieren, dass Bündnis 90/Die Grünen derzeit in neun Ländern an der Regierung beteiligt sind. Neben Bundespartei und Bundestagsfraktion haben damit stärker als früher neue AkteurInnen die politische Bühne betreten. Und auch aus den Landesverbänden ohne Regierungsbeteiligung gibt es verstärkt programmatische Impulse.
Zurück zur Bundesebene. Für Zion bilden die Themenkomplexe „Flucht und Migration, Klima, europäische Einheit, Frieden und Sicherheit, Renationalisierung“ einen krisenhaften Zusammenhang, der zusammen „die schwerwiegendste und gefährlichste Krise unseres demokratischen Systems seit dem Zweiten Weltkrieg“ darstellt. Ähnliche Tendenzen sieht er nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Dementsprechend hängen für ihn das europäische Projekt und der Weg aus diesem Krisenkonnex eng zusammen. Sein Fazit:
[…] wir wenden die große Gefahr nur ab, wenn sich der eingeschlagene Weg in Europa ändert, Europa ändert sich nur, wenn Deutschland seinen Kurs ändert, Deutschland ändert seinen Kurs nur, wenn die Alternativlosigkeit des politischen Systems hierzulande durchbrochen wird, und diese wird nur durchbrochen, wenn wir Grünen für uns diese strategische Entscheidung zur Veränderung treffen.
Die „strategische Entscheidung zur Veränderung“ meint, Bündnis 90/Die Grünen als die progressiv-europäische Kraft zu positionieren, „mit dem Zielpunkt der Schaffung einer tatsächlichen europäischen sozialen Demokratie, Einheit und eigenständigen Friedensordnung“. Dieses Projekt wird mit einigen Stichpunkten umrissen, die vom „Green New Deal“ über die Schaffung einer europäischen Verfassung bis hin zu einer eigenständigen, von der NATO unabhängigen europäischen Sicherheitspolitik reichen. Ökologie und Klimapolitik spielt dabei zwar weiterhin eine Rolle, steht aber hinter dem großen europäischen Projekt zurück. Das Ergebnis wäre ein neues grünes Alleinstellungsmerkmal: die Partei, die den europäischen Prozess hin zu einem Bundesstaat mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Politik klar vorantreiben will, und sich dabei – zwischen den Zeilen zu lesen – beispielsweise klar gegen TTIP positioniert.
Dieses Großprojekt würde aus Zions Sicht deutliche organisatorische Veränderungen voraussetzen. Zentral ist dabei das, was er als „Expansions- und Bündnisstrategie, die den politischen Normalvollzug auf nationaler Ebene durchbricht“ bezeichnet. Bündnis 90/Die Grünen auf Bundesebene, aber auch die Heinrich-Böll-Stiftung, sollen zum organisatorischen – finanziell wie personell unterfütterten – Kern eines europaweiten Bündnisses nahestehender Parteien, Gewerkschaften und NGOs werden. Etwas böse zugespitzt: Unter Berliner Kampagnenleitung, finanziert durch Spenden, Mitgliedsbeiträge und Wahlkampfkostenerstattungen soll eine europaweite Allianz aufgebaut und kampagnenfähig gemacht werden. Dabei soll die Partei auch „für verbündete Akteure von Außen geöffnet“ werden – vielleicht auch als Gegenmittel gegen zuviel deutschen Führungsanspruch in einem solchen Bündnis gemeint. (Stimmt, eine Europäische Grüne Partei existiert. Wie das Verhältnis dieser Strategie zur EGP aussehen soll, führt Zion leider nicht aus).
Insgesamt erinnert mich das Konzept an einen früheren Zeitpunkt – jedenfalls, so weit sich das nachlesen lässt. Mitte/Ende der 1980er Jahre waren „DIE GRÜNEN“ als Bewegungspartei möglicherweise genau dieser Nexus, um die Bundesrepublik auf einen progessiven Weg zu setzen, ähnlich strukturiert wie von Zion vorgeschlagen, nur eben auf Westdeutschland beschränkt. Auch die grüne Fraktion im europäischen Parlament hat bis in die 1990er Jahre hinein insbesondere auch eine Knotenfunktion für Kampagnen und Bündnisse innegehabt.
Ähnlich sieht es mit der zweiten organisatorischen Komponente der postnational-progressiven Strategie aus:
Die Entwicklung eines modernen Konzepts der Basisdemokratie auf der Höhe der derzeitigen technischen Möglichkeiten ist unabdingbar, insbesondere was die Nutzung oder Neuschaffung alternativer Medien und Kommunikationskanäle und Plattformen im Hinblick auf Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten betrifft.
Die transnationale Online-Kür der SpitzenkandidatInnen im letzten Europawahlkampf hat nur so halb funktioniert. Und die Erfahrungen der Piraten mit ihrem Versuch, auf der Höhe der „derzeitigen technischen Möglichkeiten“ Basisdemokratie zu digitalisieren, sind nicht besonders aufmunternd. Aber vielleicht sind „alternative Medien und Kommunikationskanäle“ für Zion auch eher sowas wie europäische, in viele Sprachen übersetzte Parteizeitungen und Youtube-Streams?
Im zugespitzten Fazit erscheint mir Zions Antrag als Versuch, einen bestimmten historischen Zustand unter postnationalen Bedingungen und mit neuen technischen Möglichkeiten wieder herzustellen. Ich mag ja die Musik der 1980er Jahre, und manchmal erscheint mir diese Kindheitszeit als goldenes Jahrzehnt der ökosozialen Bewegung. Allerdings ließe sich jetzt doch länger darüber streiten, wie erfolgreich die damaligen grünen Konzepte – parlamentarischer Arm der Bewegung, basisdemokratisches Experimentierfeld – letztlich wirklich waren, und auch darüber, was ihre (versteckten) psychosozialen Kosten sind. Aber noch wichtiger ist die Frage, ob sich diese Konzepte nach der Erfahrung einer grünen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene und unter aktueller Beteiligung am progressiven Normalvollzug in neun Ländern so einfach übertragen lassen, oder ob hierdurch nicht eine irreparable Zustandsänderung eingetreten ist, die dieser Antrag erst einmal zur Kenntnis nehmen müsste. Und was macht eigentlich die LINKE so?
(Um es plastischer zu machen: Sylvia Löhrmann, Katharina Fegebank, Robert Habeck, Tarek Al-Wazir, Winfried Kretschmann etc. werden sich nicht von einem Positionspapier eines grün gefärbten EU-Attac-Bündnisses dazu bringen lassen, ihre Länderpolitik ganz anders aufzustellen. Und dieses Auseinanderlaufen wäre sehr schnell sichtbar – spätestens dann, wenn im Bundesrat abgestimmt wird.)
Revival der Strukturdebatte
Das bereits gefallene Stichwort Basisdemokratie ist es, an dem auch der Brozowski-Antrag einhakt. Hier wird die 1980er-Nostalgie noch deutlicher, wenn etwas verklärt aus Gründungsdokumenten und frühen Beschlüssen zitiert wird. Kern der Analyse im Basisdemokratie-Antrag sind drei Aussagen:
- „Unsere Partei BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN hat grundlegende Probleme“, aber „[v]iele in unserer Partei nehmen die Probleme nicht wahr oder verdrängen sie“
- Nicht so die WählerInnen: „Für einen großen Teil unseres ehemaligen StammwählerInnenpools sind wir genau aus den genannten Gründen schon lange nicht mehr wählbar.“ (und wählen statt dessen Linkspartei oder gar nicht mehr … sagt zumindest das Papier)
- Fazit: „BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN sind inzwischen eine Partei wie alle anderen.“ (und das stört, und soll geändert werden)
Diesem Grundtenor der Parteiverdrossenheit wird der Optimismus der Anfangsjahre gegenübergestellt – und der Hinweis darauf, dass Opposition doch eigentlich ganz prima sei:
Wir haben als Opposition wichtige Themen vorangebracht, indem wir die anderen vor uns hergetrieben haben. Regieren um des Regierens willen sollte nicht Ziel von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN sein. Diese Selbstverständlichkeit wird seit einiger Zeit insbesondere durch die „Anbiederung durch Schweigen“ an die Merkel-Politik oder die Zustimmerei zu einer falscher Politik im Bundestag („konstruktive Opposition“) konterkariert. Unsere Partei nimmt seit der letzten Bundestagswahl ihre Oppositionsrolle nur sehr rudimentär wahr.
Was nicht ganz so deutlich in der Analyse steht: Die AntragstellerInnen würden gerne wieder Oppositionspartei, die gar nicht ernsthaft regieren wollte, sein. Da konnten „wir“ klare Positionen beziehen und das Maul weit aufreißen, da mussten wir uns nicht mit mühsamen Kompromissen rumschlagen und die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, damals waren die Dinge so schön eindeutig. Und da soll es wieder hingehen.
Hier kommen die Länder dann übrigens vor, namentlich heißt es „Unterstützt wird diese Entwicklung dadurch, dass BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Teil zahlreicher Landesregierungen ist und einige der dortigen zentralen Akteure in unangebrachter Weise Einfluss auf die Bundespolitik nehmen wollen.“ – hier wird eine klare Positionierung „unserer Parteiführung“ erwartet.
Überhaupt: Für ein basisdemokratisches Papier findet sich ein erstaunlich lauter Ruf nach starker Führung – die „Führungsschwäche“ sei ein Problem, und eigentlich müsste mal jemand diesen Landeschefs sagen, wo’s wirklich langgeht. (Auch das stellen wir uns jetzt einmal plastisch vor. Oder versuchen es zumindest – ich habe erhebliche Schwierigkeiten damit, weil wir nun mal immer schon eine multipolare Partei sind …).
Das Zurück in die guten alten Zeiten wird hier in 13 Punkte („ohne Anspruch auf Vollständigkeit“) gefasst. Etwas knapper zusammengefasst:
- Basisdemokratie 2.0: Mit einem Online-Tool sollen Mitgliederabstimmungen durchgeführt werden, und zwar bei „wichtigen inhaltlichen Fragestellungen“ und auch bei „Koalitionsfragen, und zwar rechtzeitig VOR Wahlen“.
- Mehr Parteitage, weniger Parteitagsinszenierung, mehr ‚echte‘ Debatte, Delegierte aus der ‚echten‘ Basis
- Öffnung zu sozialen Bewegungen hin
- Urwahl und Amtszeitbegrenzung der Parteivorsitzenden, Wiedereinführung der harten Trennung von Amt und Mandat
- Rotation für Bundestagsabgeordnete (maximal zwei Legislaturperioden)
- Imperatives Mandat für Amts- und MandatsträgerInnen und engere inhaltliche Anbindung der Heinrich-Böll-Stiftung an die Partei
Da sind bei Lichte betrachtet ein paar ziemlich harte Brocken dabei. Dass ein Online-Tool zum Einsatz kommen soll, darf nicht darüber hinwegtäuschen: Letztlich soll der Zustand Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre wiederhergestellt werden – vor der ersten Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Das (wir flogen aus dem Parlament, weil alle von Deutschland, wir aber vom Wetter redeten) scheinen die goldenen Zeiten der UnterstützerInnen dieses Antrags gewesen zu sein.
Interessant an diesem Antrag finde ich ein unausgesprochenes Argument, dass die Analyse (über die durchaus diskutiert werden kann) und den vorgeschlagenen Instrumentekatalog verknüpft. In der Analyse wird ja recht klar eine bestimmte inhaltliche Ausrichtung als wünschenswert definiert. Früher hieß das mal Fundamentalopposition, etwas sanfter ausgedrückt: Partei sein, gestalten durch Regieren – darum geht es nicht, vielmehr müssen in der Umweltpolitik (immer gegen die Wirtschaft!), in der Friedenspolitik (Interventionen sind immer falsch!), in der Sozialpolitik (Hartz IV war schon immer ein Fehler!) und in der Asylpolitik (wir sind immer auf Seiten der Flüchtenden!) klare Positionen bezogen werden. Dann wäre das Profil scharf, dann würden die Richtigen uns wählen, und dann wäre alles wieder gut (und niemand müsste sich frustrierende Austrittsgedanken machen).
Die AntragstellerInnen um Brozwoski nehmen wahr, dass die derzeitige Parteiführung diesen Kurs nicht umsetzt. Noch dazu gibt es LandespolitikerInnen, die querschießen. Und einen Haufen irregeleiteter Mitglieder. Um eine programmatische Änderung in die von ihnen gewünschte Richtung hinzukriegen, muss daher die Partei mit einem imperativen Mandat ausgestattet werden, und um das zu erreichen und mit Legitimation zu füllen, muss es Mitgliederbefragungen und Abstimmungen geben.
Ein Fehlschluss liegt nun meines Erachtens darin, dass die AntragstellerInnen davon ausgehen, dass die Mitglieder (die, wie wir gelernt haben, durch oberflächliche Erfolge irregeleitet sind), wenn sie nur gefragt würden, und auf Parteitagen ‚echt‘ debattieren könnten, schon zu den Schlüssen kommen würden, die Brozowksi & Co. für richtig halten.
Hier beißt sich die Basisdemokratie in den Schwanz: die vorgeschlagenen strukturellen Maßnahmen könnten doch genauso gut bedeuten, dass die Mehrheit der Mitglieder sich für Cem und Katrin als Parteispitze ausspricht, in Mitgliederbefragungen für militärische Interventionen votiert und ein Bündnis mit der Linkspartei ausschließt. Das ganze würde dann durch das angestrebte imperative Mandat auch von der Bundestagsfraktion (und den bösen Landesregierungen) 1:1 umgesetzt.
Wären die AntragstellerInnen mit dieser Form gelebter Basisdemokratie glücklich? Ich fürchte nein – letztlich hat die Basis doch nur dann recht, wenn sie den jeweils eigenen Lieblingskurs vertritt. Alles andere ist Manipulation.
(Wenn der Antrag jedoch nicht als das, was er zu sein vorgibt – als Strukturantrag -, genommen wird, sondern als Antrag zur inhaltlichen Ausrichtung der Partei, dann wäre es aus meiner Sicht katastrophal, wenn er umgesetzt würde. Warum ich das so sehe, steht hier)
Eine vorsichtige Bewertung
Ich verstehe nicht, warum Robert Zion beide Anträge unterstützt. Sein eigener geht von einer klugen Analyse aus, der ich in relativ großen Teilen zustimmen würde. Ich halte die von ihm vorgeschlagene strategische Reformidee (Kern eines europäischen Bündnisses + neue Kommunikationskanäle) teilweise für wenig zielführend und teilweise für nicht umsetzbar. Deswegen würde ich davon abraten, diesen Pfad in seiner Radikalität einzuschlagen. Trotzdem kann ich mir gut vorstellen, dass sich Elemente in der strategischen Weiterentwicklung der Partei wiederfinden könnten. Das Szenario, das Robert Zion entwickelt, ist nicht meines, aber es ist eines, das ich mir durchaus vorstellen kann. Wenn ich Wetten abgeben müsste, würde ich allerdings eher die Nordische Grüne Linke oder die südeuropäischen linkspopulistischen Bewegungen an der von ihm skizzierten Stelle sehen als uns.
Demgegenüber lese ich den Antrag von Frank Brozowski als reinen Nostalgieantrag, der noch dazu Inhalte und Struktur verwechselt, bzw. der mit wahrgenommenen inhaltlichen Fehlentwicklungen für strukturelle Änderungen argumentiert, ohne zu erklären, warum die strukturellen Änderungen die Inhalte verbessern sollten. Eigentlich ist es ein Antrag derjenigen, die fast schon gegangen sind, und die glauben, dass alle anderen eigentlich genau so denken müssten wie sie. Das macht mich ziemlich ratlos. Inhaltlich halte ich einige der Strukturvorschläge für gar nicht so falsch – Debatten organisieren, statt sie zu inszenieren; und auch ein Mehr an Online-Beteiligung muss nicht schaden. Andere dagegen sind schlicht ein Misstrauensvotum gegen die Parteispitze und die Bundestagsfraktion, und gegen alle, die diese Menschen gewählt haben. Das ist Quatsch. Anderes an den Strukturvorschlägen erscheint mir strukturell unsinnig – es gibt gute Gründe dafür, dass es keine imperativen Mandate gibt, dass kein starker Mann an der Parteispitze steht, auch nicht für eine begrenzte Zeit, und auch dafür, dass die Böll-Stiftung sehr parteiunabhängig Debatten organisiert. Und über Amt und Mandat haben wir uns oft genug die Köpfe heißgeredet. Da sind mir inhaltliche Debatten deutlich lieber.
Während ich das von Zion dargestellte Gefühl einer bundespolitischen Lähmung nachempfinden kann, geht mir die Problembeschreibung bei Brozowski deutlich zu weit. Bei allen Schwächen – so schlecht sind wir nicht. (Und baden-württembergische Flüchtlingspolitik in ihrer tatsächlichen Umsetzung wäre auch noch einmal ein abendfüllendes Thema, das dann anders aussieht als im schlichten Zweisatz aus Kretschmann und Verrat …). Die WählerInnen laufen uns nicht in Scharren davon – es kommen nur (auf Bundesebene) wenig neue hinzu. Das muss sich ändern, um sichtbarer zu werden (und, ich wage es zu sagen: um mitgestalten zu können).
Trotzdem haben wir ein Problem: Die Partei hat in den letzten Jahren Stück für Stück einen Strategiewandel umgesetzt, der jedoch nicht von allen mitgetragen wird. Gleichzeitig – so würde ich das beschreiben – hat dieser Strategiewandel zu einer Implosion des linken Flügels geführt, der im Moment des scheinbaren Erfolgs eine Identitätskrise durchlaufen hat. Ein Stück weit betrifft diese Orientierungslosigkeit nicht nur diese Strömung, sondern die Bundespartei insgesamt. Wer hier klare Verhältnisse schaffen will, wird nicht darum kommen, offen über die Strategie der Partei zu reden und sich auf einer Bundesdelegiertenkonferenz darüber zu verständigen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ein „back to the roots“ dabei mehrheitsfähig ist. (Und in einer Urabstimmung erst recht nicht – aber das ist nur meine Einschätzung der Zusammensetzung unserer Mitgliederschaft.) Wer sich mit der Geschichte der Partei ein wenig auskennt, weiß, was die historischen Konsequenzen derartiger Strategiebestimmungen waren. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit dazu.
Warum blogge ich das? Aus Verwunderung darüber, welche Debatten immer und immer wieder geführt werden müssen. Und wie viele Menschen glauben, dass das Heil in der Satzung liegt.
Die Piraten haben das mit den Entscheidungen online eigentlich auch nicht umgesetzt – es haben nur 3 LVs geschafft, ein sinnvolles System zum Laufen zu bringen, ein LV hatte ein eher schädliches. Ein LV hat ein Mischsystem zwischen Online und Offline genutzt, das die Nachteile von beidem vereint.
Liquid Feedback im Bund wurde entgegen anders lautender Gerüchte nie zur Entscheidungsfindung, sondern nur für Meinungsbilder genutzt – dementsprechend wurde es auch (nicht) genutzt.
Es wurde zwar ein System auf Bundesebene beschlossen, das hätte erst noch programmiert werden müssen – wurde es nie. Es blieb beim „wünsch dir was“.
Für mich ist der wichtigere Teil als die Entscheidungsfindung online ist es, eine Debatte über die zur Entscheidung stehenden Fragen zum Laufen zu bringen – ohne Debatte wird die getroffene Entscheidung von den „Unterlegenen“ nicht akzeptiert werden. Onlinebeteiligung ist also nicht so sehr eine Frage des eingesetzten Systems, sondern eine Frage der Prozesse vor der Entscheidungsfindung.
Diesen Aspekt übersehen viele, und ich glaube, auch die Antragsteller. Denn es reicht nicht, nur ein System zur Entscheidungsfindung der Basis aufzusetzen. Die Aufgabe ist um einiges größer. Und selbst wenn das gelingt ist noch lange nicht gesagt, dass die gewünschten Effekte auch eintreten und nicht vollkommen andere.
Deinen Aussagen zur großen Bedeutung von Deliberation, die durch ein technisches System zur Entscheidungsfindung nicht ersetzt wird, kann ich nur zustimmen.
Mein „Und die Erfahrungen der Piraten mit ihrem Versuch, auf der Höhe der »derzeitigen technischen Möglichkeiten« Basisdemokratie zu digitalisieren, sind nicht besonders aufmunternd.“ bezog sich im übrigen durchaus darauf, dass es selbst die Piraten es nicht wirklich geschafft haben, hier über Modellprojekte etc. hinauszukommen. (Wir gut funktioniert das in den drei Landesverbänden, in denen es ein laufendes System gibt?)
Die verschiedenen Ständigen Mitgliederversammlungen wurden wegen obskurer Datenschutzbedenken (ich habe keine nachvollziehbare Argumentation zu Gesicht bekommen) inzwischen wieder vom Netz genommen, soweit ich weiss, jedenfalls in Berlin und Sachsen. In der Zeit davor lief es schleppend, was aber immer noch mehr Aktivität war als sonst an vielen Stellen in der Partei. Die leidet ja schon länger unter inhaltlicher Lähmung. Die Beteiligung war daher nie sehr hoch.
Der einzige LV, in dem Liquid Feedback eine nennenswerte Zeit als Ständige Mitgliederversammlung lief, war Mecklenburg-Vorpommern, aber der LV ist zu klein (maximal 250 Mitglieder in der hoch-Zeit), um daraus sinnvolle Rückschlüsse zu ziehen.
Hessen hatte am längsten ein Abstimmungssystem laufen, das war aber ein reines einstufiges Abstimmungstool, ein modifiziertes LimeSurvey, bei dem üblicherweise die Abstimmung gelaufen war, bevor die Diskussion nennenswert lief und führte daher eher dazu, dass momentane Stimmungen zu Beschlüssen gemacht werden sollten. Es war also eigentlich für den Zweck untauglich. Das war allerdings satzungstechnisch so schlecht umgesetzt, dass man damit gar keine Beschlüsse fassen konnte.
Wesentliches steht bereits in dem Text von Till. Dabei bin ich noch entschiedener für den Antrag von Robert Zion und gegen den von Frank Brozowski. Sicher hat auch der gute Ansätze, doch die Grundaussage kann fehlleiten.
Struktur oder Inhalt? Stattdessen wäre es richtig, Ross und Reiter zu nennen. Cem Özdemir ist ein hervorragender Politiker, der gewinnend in der Öffentlichkeit steht. Doch die Fähigkeiten sind das eine, das woher, wohin das andere. In einem Fernseh-Interview (leider weiß ich nicht mehr wann), hat er sich so geäußert, dass er eine neue konservative Partei mit zentraler Struktur will mit einer ökologischen Ausrichtung. Damit unterscheidet er sich von einem Kretschmann, der pragmatisch, lösungsorientiert ist, was dann auch als konservativ rüberkommt. Statt also den BuVo neu zu organisieren, gilt es einen Gegenkandidaten aufzubauen. Bei dem Amt des Bundesvorsitzenden kommt es mehr auf die Person als auf Parteistatuten an. Der Mensch steht im Mittelpunkt (Irrweg imperatives Mandat).
Was heißt „back to the roots“? Fischer war bei der Startbahn West, Trittin bei Gronau gegen die Atomkraft, Petra Kelly kommt von der Friedensbewegung, Antje Vollmer vom Kirchentag und Ingrid Köppe von der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Daraus wurde eine neue soziale Bewegung und die Partei der Frauenrechte. Basisdemokratie war zwar gewünscht, Konsensdemokratie klingt allerdings noch besser.
Haben sich die Grünen gewandelt? Vielleicht. Doch ebenso hat sich unsere Welt gewandelt. Nur Stichworte: Mauerfall, Atomausstieg, New World Order, Industrie 4.0, Islamismus. Die Krise der Grünen wird viel mehr durch solche gesellschaftlichen Herausforderungen verursacht, als durch einen inneren Werteverfall. Die Richtlinien der Politik werden weiter von der Kanzlerin vorgegeben. Als ihr Motto wird immer stärker die „wirtschaftskonforme Demokratie“ deutlich, TTIP als konsequente Fortsetzung der Politik ihres Mentors (WTO, GATT und GATS). ACTA konnte zum Verdruss der Finanzwelt nicht ratifiziert werden. Jetzt werden härtere Saiten aufgezogen.
Die Grünen können dem nur mit visionären Konzepten entgegenstehen. Zu Koalitionsträumen sage ich: schaut euch die CSU an! Biedert sie sich der Mehrheit an? Nein, mit immer neuen Zumutungen stellt sie jeden Konsens in Frage. Das Erstaunliche, dafür lieben sie die Wähler. Je absurder ein Vorschlag, desto größer der Beifall. Wollen die Grünen wirklich regieren, müssen sie ihr Profil gegen den möglichen Koalitionspartner abgrenzen. Je deutlicher, um so besser. Nach der Wahl ist nach der Wahl. Vor der Wahl ist die Zeit der starken Worte. Politisch korrekt heißt, politisch (geistig) beschränkt. Für solch einen auf Krawall gebürsteten Kurs braucht es das richtige Personal. Ein Hofreiter bräuchte Rückendeckung vom Platz vor dem Neuen Tor. Ein Robert Habeck könnte ein Kompromiss sein.