Lesenswert: Walter Mossmanns bewegte Autobiografie

Vor ein paar Wochen war ich – dienst­lich – im Archiv sozia­le Bewe­gun­gen in Frei­burg, immer­hin wird das jnzwi­schen auch aus Lan­des­mit­teln geför­dert. Zum Abschied hat uns Volk­mar Vogt, der Archi­var, ein Buch in die Hand gedrückt. Inzwi­schen hab ich’s gele­sen und bin beeindruckt.

Kon­kret: die 2009 erschie­ne­ne Auto­bio­gra­fie von Wal­ter Mos­s­mann. Natür­lich war mir Mos­s­mann ein Begriff, Bewe­gungs­pro­mi, habe ihn auf der einen oder ande­ren Demons­tra­ti­on oder Kund­ge­bung im Dreyeck­land sin­gen oder reden gehört. 2015 verstorben.

In rea­lis­tisch sein: das unmög­li­che ver­lan­gen, Unter­ti­tel Wahr­heits­ge­treu gefälsch­te Erin­ne­run­gen, plau­dert Mos­s­mann über die 1960er, 1970er, 1980er. Er erzählt, und gleich­zei­tig ist das eine sehr leben­di­ge Geschichts­stun­de. Über das soge­nann­te Nach­kriegs­deutsch­land. Musik, natür­lich. Das stu­den­tisch-inter­na­tio­na­lis­ti­sche Milieu Frei­burgs. Noch mehr Musik. Das „Tol­le Jahr“ 1968. Die Geburt der badisch-elsäs­si­schen Bür­ger­initia­ti­ven aus dem Geist des Wider­stands (Geburts­hel­fer W.M.) gegen AKW und Che­mie­in­dus­trie, gegen den tech­no­kra­ti­schen Plan zur Indus­tria­li­sie­rung des Rhein­tals. Als, wie es so schön heißt, mul­ti­tu­de. Ein biss­chen geht’s in Mos­s­manns Lebens­ge­schich­te auch um Polit­sek­ten und um die RAF, aber die steht am Rand. Und Rudi Dutsch­ke träumt von der neu­en USPD, die er anfüh­ren könn­te, Petra Kel­ly nervt, wäh­rend die BIs zur ganz kon­kre­ten Tat schrei­ten, mit Flug­blatt­lie­dern und Erwar­tungs­bruch – erfolgreich.

Die grü­ne Par­tei­grün­dung kommt auch vor (das muss ich natür­lich erwäh­nen), kurz vor Schluss des Buches. Mos­s­mann schreibt, „Wir [die Bür­ger­initia­ti­ven] schick­ten doch schon seit Jah­ren unse­re Anwäl­te in die Gerichts­ver­hand­lun­gen, war­um soll­ten wir nicht auch unse­re Abge­ord­ne­ten ins Par­la­ment schi­cken?“ – kom­mu­nal fing das etwa 1975 an, in Lan­des­par­la­men­ten dann 1980, und was Mos­s­mann skep­tisch macht, ist nicht der Schritt ins Par­la­ment, son­dern die Suche nach der „Par­tei ganz neu­en Typs“. Nein, er „hät­te lie­ber eine stink­nor­ma­le Par­tei, die grü­nen Abge­ord­ne­ten soll­ten dann aber im Par­la­ment min­des­tens so gut und pro­fes­sio­nell sein wie unse­re bes­ten Anwäl­te vor Gericht.“ – 1980 geschrie­ben, und viel­leicht sind wir da heu­te, irgendwie.

Aber Mos­s­manns Auto­bio­gra­fie hat mich nicht des­we­gen beein­druckt, weil ganz am Schluss auch grün als poli­ti­sche Far­be vor­kommt. Nein, span­nend und leben­dig und unglaub­lich dicht und nah ist das, was – mit Aus­flü­gen nach Lar­zac und Chi­le, Däne­mark und Wal­deck – in den zwei Jahr­zehn­ren zuvor da pas­siert, wo Poli­tik zwi­schen WGs, Kol­le­gi­en­ge­bäu­den und Webers Wein­stu­be sich mate­ria­li­siert, und wo der Zug aus Karls­ru­he kom­mend die Vor­ber­ge pas­siert und dann über Denz­lin­gen, Gun­del­fin­gen und Zäh­rin­gen den Haupt­bahn­hof erreicht. Neben all dem Gro­ßen ist’s der Geist des Ortes, der hier prä­zi­se rekon­stru­iert wird, und so Mos­s­manns prä­gen­de Jah­re nahe bringt.

Lexikonwissen

Ich mag ja Lexi­ka. Als Jugend­li­cher stand die grü­nen Taschen­bü­cher des rororo Lexi­kon in neun Bän­den mei­ner Eltern in mei­nem Zim­mer. Das muss damals – in der zwei­ten Hälf­te der 1980er Jah­re – auch schon nicht mehr ganz tau­frisch gewe­sen sein; im Netz fin­de ich v.a. eine Aus­ga­be von 1966; viel­leicht war die, die wir hat­ten, aber auch etwas spä­ter erschie­nen. Und ich gebe es zu: ich habe das durch­aus auch mal von A bis Z durch­ge­le­sen. Beson­ders span­nend fand ich die Bild­ta­feln – ich erin­ne­re mich an Vögel, Pflan­zen, Trach­ten. Inzwi­schen gibt es für sowas ja die Wiki­pe­dia. Die hat den Nach­teil, a. sich nicht von vor­ne bis hin­ten durch­le­sen zu las­sen, und b. jedes Nach­schla­gen mit der Nut­zung eines elek­tro­ni­schen Geräts zu ver­bin­den, was dann mög­li­cher­wei­se zu inter­net- oder wiki­pe­dia­spe­zi­fi­schen Ablen­kungs­ef­fek­ten (Link, Link, Link … ganz woan­ders ankom­men) führt.

Jeden­falls habe ich des­we­gen, vor allem auch mit Blick auf mei­ne Kin­der, vor ein paar Tagen ein kom­pak­tes Lexi­kon gekauft. Die Aus­wahl fiel auf das Gro­ße Buch des All­ge­mein­wis­sens der Duden-Reak­ti­on (aus dem Jahr 2015, das war auch mehr oder weni­ger das neus­te der Kom­pakt­le­xi­ka, die ich im Netz gefun­den habe). Jetzt haben wir das Buch mal durch­ge­blät­tert, und ich bin nur so halb­zu­frie­den. Das hat drei Gründe. 

Der ers­te ist lexi­kon­in­hä­rent: die Ein­trä­ge sind sehr knapp, gera­de im Ver­gleich mit dem, was die Wiki­pe­dia lie­fert, und teil­wei­se sehr ver­kürzt for­mu­liert. Das erschwert das Ver­ständ­nis bei mei­ner eigent­lich recht klu­gen zwölf­jäh­ri­gen Toch­ter. Eine auf ein paar Sät­ze redu­zier­te Dar­stel­lung etwa des „Camp-David-Abkom­mens“ setzt jede Men­ge Vor­wis­sen vor­aus, um ver­stan­den zu werden. 

Und die Form der Behand­lung ist noch nicht ein­mal kon­sis­tent: zu „Bay­ern“ oder „Hes­sen“ gibt es meh­re­re Absät­ze, „Baden-Würt­tem­berg“ taucht ein­mal unter Poli­tik und ein­mal unter Geo­gra­fie auf, in bei­den Fäl­len extrem knapp; „Baden“ oder „Würt­tem­berg“ feh­len ganz. Es fin­det sich auch ein Ein­trag zum „Herr der Rin­ge“ – ein Fan­ta­sy­buch von Tol­ki­en, in dem es um Gut gegen Böse geht, und dass sich dadurch aus­zeich­net, dass für die dort drin vor­kom­men­den Hob­bits eine eige­ne Spra­che ent­wi­ckelt wur­de. Das stimmt … so halb. 

Der zwei­te Grund für die man­geln­de Zufrie­den­heit ist der Kanon­ef­fekt. Das für die All­ge­mein­bil­dung rele­vant gehal­te­ne Wis­sen (übri­gens inkl. eines eige­nen Unter­ka­pi­tels zur Bibel! – liegt viel­leicht am im Impres­sum erwähn­ten US-Vor­bild) wirkt auf mich erstaun­lich alt­mo­disch. Bei his­to­ri­schen The­men oder Natur­ge­set­zen ist es nicht ver­wun­der­lich, dass ähn­li­ches in einem Buch aus dem Jahr 2015 und mei­ner Erin­ne­rung an das Jugend­le­xi­kon aus den 1980er Jah­ren steht. Aber irgend­wie hört es da auch auf: die jüngs­ten Autor*innen im Lite­ra­tur­ka­pi­tel schei­nen mir die gro­ßen Figu­ren der Nach­kriegs­li­te­ra­tur zu sein, Grup­pe 47, Böll, etc. – als ob da nach 1970 nicht mehr viel pas­siert wäre. „Romeo und Julia“ haben eben­so wie diver­se Ope­ret­ten eige­ne Ein­trä­ge, „Star Wars“ oder „Star Trek“ nicht. Im Kapi­tel zu Phi­lo­so­phie, Anthro­po­lo­gie, Sozio­lo­gie tau­chen natür­lich Ador­no, Durk­heim, Haber­mas und Luh­mann auf. Latour oder Inter­sek­tio­na­li­tät dage­gen nicht. Und bei Natur­wis­sen­schaft und Tech­nik begeg­nen mir Begrif­fe wie „Cha­os-Theo­rie“, „Fuz­zy-Logik“, „frak­ta­le Geo­me­trie“, die in den 1990er Jah­ren mal hip waren. „CRISPR“ fehlt dage­gen, war 2015 viel­leicht auch noch nicht abseh­bar. Im Tech­nik­ka­pi­tel füh­ren die Erklä­run­gen zu „Mobil­te­le­fon“, „Lap­top“ und „WWW“ zum Schmunzeln. 

Und drit­tens ist es nicht nur der sedi­men­tier­te Wis­sens­be­stand, der ein sol­ches Lexi­kon sub­op­ti­mal erschei­nen lässt: in der Knapp­heit und The­men­aus­wahl ver­mit­telt das Buch ein bestimm­tes Welt­bild. Bei­spiels­wei­se wird der Begriff „India­ner“ nicht pro­ble­ma­ti­siert, son­dern völ­lig selbst­ver­ständ­lich ver­wen­det. Dage­gen steht selbst in der – dies­be­züg­lich auch eher kon­ser­va­ti­ven – Wiki­pe­dia im Ein­trag India­ner auch eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung, war­um eine sol­che Grup­pen­be­zeich­nung aus heu­ti­ger Sicht schwie­rig ist.

Im End­ef­fekt ist ein kom­pak­tes Lexi­kon ein Kom­pro­miss. So rich­tig aktu­ell kann es nicht sein, und auch mein Jugend­le­xi­kon aus den 1960ern oder 1970ern war ver­mut­lich wohl mit Welt­deu­tun­gen, die aus heu­ti­ger Sicht selt­sam erschei­nen wür­den. Was funk­tio­niert: das Kind fin­det es inter­es­sant und blät­tert dar­in her­um. Rich­tig hilf­reich wer­den die Ein­trä­ge aber erst, wenn dar­über gespro­chen, sie kon­tex­tua­li­siert und mit Hin­ter­grund­wis­sen ver­se­hen werden …

War­um blog­ge ich das? Weil es hier wohl lei­der kei­ne per­fek­te Lösung gibt.

Dauerschleifen

Merry lettuce snails I

Patri­cia Camma­ra­ta hat was über die Gesell­schaft der Live­ti­cker auf­ge­schrie­ben, und ja, da ist eini­ges dran. Ich, eben­falls Jahr­gang 1975, zwar immer schon poli­tisch inter­es­siert, aber eben­falls lan­ge ohne Fern­se­her, kann mich noch gut an die Zeit erin­nern, als Ereig­nis­se am nächs­ten Tag in den Zei­tun­gen stan­den. Oder viel­leicht eine hal­be Minu­te in den Radio­nach­rich­ten ein­ge­nom­men haben. Jour­na­lis­tisch gefil­tert, zwar sicher­lich auch mit Mei­nung, aber nicht in einem Sumpf von Spe­ku­la­ti­on in Dau­er­schlei­fe ausgebreitet.

Es gibt eine Sehn­sucht nach ein­fa­che­ren Zei­ten. In der nost­al­gi­schen Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit, mit dem Blick auf den eige­nen Erfah­rungs­ho­ri­zont, erscheint 2016 als das Jahr, in dem die Welt ins Cha­os stürzt. Emo­tio­nal geht mir das auch so. 

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Die neuen Eurobasisdemokraten, oder: Zurück in die 1980er?

Moss macro

Eigent­lich gibt es zur Zeit wich­ti­ge­res als das Innen­le­ben der grü­nen Par­tei. Trotz­dem könn­te die 39. Ordent­li­che Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz, die Ende Novem­ber in Hal­le statt­fin­det, inter­es­sant wer­den, lie­gen doch inzwi­schen eini­ge Anträ­ge Unzu­frie­de­ner vor. Ich den­ke dabei ins­be­son­de­re an den Antrag „Die Par­tei stra­te­gisch neu auf­stel­len, Fens­ter und Türen öff­nen!“ von Robert Zion und an den Antrag „Für eine umfas­sen­de Rück­kehr zu basis­de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren“ von Frank Bro­zow­ski und ande­ren. Ins­ge­samt ste­hen inzwi­schen 146 Per­so­nen unter den Anträ­gen. Wor­um geht es?

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Kulturkampf um das imaginäre Land

Adopt a pop culture I

Um die Zukunft und die Ver­gan­gen­heit – so weit sie als Sci­ence Fic­tion bzw. als Fan­ta­sy ima­gi­niert wer­den – fin­det der­zeit, von der grö­ße­ren Öffent­lich­keit weit­ge­hend unbe­merkt, ein Kul­tur­kampf statt. Unbe­merkt, aber nicht unwich­tig, denn wo anders als in die­sem Gen­re ent­steht das kol­lek­ti­ve Ima­gi­nä­re? Ein heiß dis­ku­tier­tes Sym­ptom für die­sen Kul­tur­kampf sind die vor weni­gen Tagen bekannt­ge­ge­be­nen Hugo-Nomi­nie­run­gen. Um das zu ver­ste­hen, ist aller­dings etwas Hin­ter­grund notwendig.

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