Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich doch in den nächsten Tagen keine Zeit finde, ausführlich über die BDK – den grünen Bundesparteitag – zu schreiben (oder gar meine Fotos ins Netz zus stellen). Aber jetzt sind die Themen heiß. Deswegen hier und heute nur eine ein bißchen sortierte Liste mit fünf (dann doch längeren) Beobachtungen, über die sich m.E. im Zusammenhang mit der BDK nachzudenken lohnt.
1. Der Zeitbedarf der Demokratie: selbst per „Televoting“ dauert es lange, über KandidatInnen einzeln abzustimmen. Die Auszählpausen fallen zwar weg, aber die Reden bleiben. Statt 30 Plätzen wurden letztlich aus Zeitgründen nur 25 gewählt. Das lässt sich – wie bei anderen Parteien – in Landesverbände verlagern. Wer aber möchte, dass nicht irgendwer die Liste vorgibt, braucht viel Zeit und Geduld, um sie aufzustellen. Gleiches gilt für Änderungsanträge zu Programmen.
2. Die Kehrseite der Komplexitätsreduktion: Komplexitätsreduktion ist (wie Daniel G. richtig erkannt hat) Vulgärluhmannianismus. Was ich meine: um in begrenzter Zeit und mit begrenzter menschlicher Aufmerksamkeit Dinge behandeln zu können (z.B. Änderungsanträge zu Programmen), ist es notwendig, die Komplexität zu reduzieren. Auf dem Parteitag war dafür die Antragskommission zuständig, die aus über 500 Änderungsanträgen letztlich 8 Abstimmungen gemacht hat. Komplexität: deutlich gesunken. Zugleich geht dabei viel an Feinkörnigkeit verloren: aus pro Themengebiet vielleicht 30–100 Einzelanträgen werden 2–3 ja/nein-Entscheidungen: einmal über den Verfahrensvorschlag (d.h. gesammelt über alle Anträge, über die nicht einzeln abgestimmt wird), und dann pro kritischem Punkt noch einmal ja/nein. Größere Debatten sind ebensowenig möglich wie Verhandlungen im Saal. Damit wird eine ganze Menge Macht in Richtung Antragskommission verlagert: die entscheidet, welche Anträge unverändert übernommen werden, aus welchen Gedanken übernommen werden, und welche ganz fallengelassen werden. In AntragstellerInnen-Treffen wird im Schnelldurchgang verhandelt. Wer als AntragstellerIn mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, hat die formale Möglichkeit, eine Gegenrede auf dem Parteitag zum Gesamtpaket zu halten. Die politischen Kosten dafür sind hoch, eben auch, weil damit die reduzierte Komplexität doch wieder auftaucht („wenn der Verfahrensvorschlag abgelehnt wird, haben wir kein Verfahren und müssen jeden Punkt einzeln behandeln“). Die wenigsten Anliegen sind so wichtig, dass versucht wird, diesen wenig aussichtsreichen Weg zu gehen. Anders gesagt: Antragskommissionen sind nicht sehr basisdemokratisch, aber wohl besser als die Beschlussempfehlungen anderer Parteien, besser als eine Nicht-Änderungsmöglichkeit vorliegender Programme, aber im 21. Jahrhundert möglicherweise nicht der Weisheit letzter Schluss (Politik 2.0 und so). Und die knappe Zeit kommt auch hier ins Spiel.
3. Politik 2.0: Von diesem Parteitag wurde viel gebloggt und getwittert. Freies WLAN gab’s leider nicht (Bastian Dietz kommt auf Kosten von ~ 50.000 Euro, die sowas über das offizielle Angebot der Westfallenhalle gekostet hätte; das sind im Vergleich zu den tatsächlichen Infrastrukturpreisen m.E. noch um einiges schlimmere Messepreise als z.B. bei Getränken). Trotz teurem Handytarif habe ich z.B. aber einige Male bei Twitter reingeschaut. Eindruck: diente 1. der schnellen Information der Zuhausegebliebenen (samt Anfeuerungsrufen von diesen), aber auch 2. der internen Kommunikation von Gerüchten, Einschätzungen, Stimmungen. Bei freiem WLAN hätte mich 3. auch eine Direct Message zu einer Verfahrensfrage rechtzeitig erreicht. Was ich aber fast noch wichtiger gefunden hätte, wäre 4. sowas wie eine Live-Fact-Checking-Funktion (die Umweltfolgen von Google mal beiseite gelassen): bei einigen Reden hätte ich gerne mal bei Google nachgeschaut – ob Fakten stimmen, aber auch, wer die Leute eigentlich jenseits ihrer (Spontan-)Bewerbung so sind, wofür sie stehen. Im Netz suchen und dann via Twitter oder MUU („Mitglieder- und Unterstützernetzwerk“) Infos verbreiten, könnte bei entsprechender Sättigung der Delegierten mit Onlinezugängen relevant werden. Gleiches gilt 5. für die netzförmige Kommunikation in der Halle. Klar kann ich auch zu irgendwem hinlaufen. Wenn aber genügen Leute online sind, dann wäre es sehr einfach möglich, parallel zur sichtbaren Kommunikation in der Halle z.B. Wahlempfehlungen zu streuen. Live, in Farbe und vor allem in Echtzeit. Prognose: Kommt, vielleicht schon im Mai 2009!
4. Apropos kommt bald: das eben bereits erwähnte Mitglieder- und Unterstützernetzwerk („MUU“) soll ab Februar in die Beta-Test-Phase gehen. Mein erster Eindruck vom Stand: wichtige Kernfunktionalitäten, nicht überladen, relativ niedrige Einstiegshürden, großes Interesse (viele wollen beim Beta-Test-Mitmachen) und einige Dinge (API, definierte Schnittstellen zwischen Intranet und Internet), die sehr schön wären, die es aber (erstmal?) nicht geben wird. Im Vergleich mit SPD und FDP kommt so ein Tool grade noch rechtzeitig, die LINKE ist wohl noch nicht soweit – ein wichtiger Unterschied könnte in der politischen Kultur liegen. These: es ist gar nicht so sehr die Technik, sondern es kömmt drauf an, was man damit macht. Auch ohne MUU vernetzen sich Grüne, kommunizieren in allen auffindbaren Medien und ergreifen von oben wie eben auch von unten und aus der Mitte heraus ständig einfach mal so Initiativen. Mit der bekannt hohen Netzaffinität grüner Mitglieder zusammengebracht, könnte aus einem solchen MUU dann bei gleicher Technik mehr herauszuholen sein als bei anderen Parteien. Wichtig: muss dann aber mal kommen, sonst nimmt z.B. Facebook + Twitter + eMail diese Funktionalität ein, und ist dann da.
5. Zuletzt nochmal die Europawahlliste: ich bin mit der gewählten Liste ziemlich zufrieden. Nicht allen Personen auf der Liste traue ich gleich viel zu, aber insgesamt ist es eine gute Mischung. Ein bißchen erstaunt bin ich darüber, wie wenig Rückhalt viele Mitglieder der jetzigen EP-Fraktion offensichtlich in der Partei haben (das geht bis hin zu Cems Wahlergebnis für die Bundesdelegiertenaufstellung der baden-württembergischen Grünen). Auch bei uns scheint der Wanderzirkus Brüssel/Straßburg ein bißchen zur Abnabelung von Partei und Bewegungen zu führen, bzw. nur ganz spezifische und punktuelle Kontakte zuzulassen. Hier bleibt die Frage, wie inhaltlich und strukturell die deutschen Grünen im Europäischen Parlament, die dort ja Teil einer größeren transnationalen Fraktion sind, in die Bundes- und Landesparteiarbeit besser eingebunden werden können. Richtige Ideen dafür habe ich auch nicht, beobachte aber doch eine gewisse Distanz. Das gilt nicht für alle (ein paar sind ja auch wieder aufgestellt worden), und auch in Ska Keller und Sven Giegold setze ich da – ebenso wie in Reinhard Bütikofer, der schon mal bewiesen hat, dass er das Zeug dazu hat, heterogene Läden zusammenzuhalten und zusammenzubringen – einige Hoffnungen. Jedenfalls muss es eigentlich unser Anspruch sein, europäische Politik und die Politik der anderen Ebenen gleichzeitig stärker zusammenzudenken und zu vernetzen, aber eben auch – im Sinne einer echten Europäischen Grünen Partei – stärkere Abstimmungen zwischen den einzelnen Staaten und den jeweiligen grünen Parteien (die ja teilweise mit ganz unterschiedlichen Programmen in ganz unterschiedlichen Kontexten agieren) hinzukriegen. Ohne Abgehobenheit. Zusammen mit dem wichtiger werdenden EP sehe ich darin eine der großen Herausforderungen für die im Mai neugewählten – und für Cem Özdemir als dann ehemaligen MdEP im Bundesvorstand.
Warum blogge ich das? Weil das ein paar der Punkte sind, die mir auf dem Parteitag eingefallen sind, und über die nachzudenken sich lohnt. Gäbe noch mehr zu sagen, auch zur Rolle und zum Management von Strömungen (und zu fünffach identischen blöden Fragen), aber das lasse ich jetzt mal.
@Lukas/Grüner Nomade: ich bin bzgl. des Punktes Basisdemokratie und Parteitagseffizienz tatsächlich sehr gespalten (auch im Hinblick auf Tweets von dir und anderen): einerseits eben die geschilderten generellen Schwierigkeiten mit einer/jeder Antragskommission, anderseits eine Antragskommission, die sich große Mühe gegeben hat, möglichst viele Anregungen und Ideen doch noch irgendwie in das Programm aufzunehmen. Und das unter enormen Zeitdruck. Ähnlich auch mit den Listen-Plätzen am Schluss und V‑Anträgen ohne Aussprache: hat Tücken, ist aber unter den gegebenen Umständen ein Versuch, möglichst viel rauszuholen. Schwierig.
Ich stimme dir in allen Punkten im Wesentlichen zu. Zu Punkt 1 möchte ich jedoch ein paar Dinge ergänzen.
Ich finde die Reduzierung der Liste ein Unding und habe mich wahnsinnig darüber geärgert. Hier wurden eindeutig die falschen Prioritäten gesetzt. Anstatt so viele Gastredner einzuladen, die zweifellos alle gut waren, hätte man die Zeit lieber auf weitere Wahlgänge verwenden sollen. Eine fatale Fehlplanung der Organisation in meinen Augen.
Das Televotingsystem lehne ich komplett ab. Elektronische Wahlen sind in dieser Form völlig intransparent und nicht nachvollziehbar. Selbst das geheime Abstimmen ist nicht sichergestellt, wie wir auf der BDK in Erfurt festgestellt haben. Sicher, ich weiß, solche Wahlen konventionell durchzuführen, ist sehr viel langwieriger und auch teurer, wenn einen Tag länger eine Halle gemietet werden muß. Aber es kann doch nicht angehen, daß wir Grüne uns gegen Wahlcomputer auf Landes- und Bundesebene aussprechen und dann den Unsinn selbst einsetzen. Damit machen wir uns doch komplett lächerlich, und zwar vor allem bei denen, die wirklich gegen Wahlcomputer kämpfen! Es ist in meinen Augen zudem nicht einzusehen, daß ein wichtiges Stück transparente Demokratie der Zeit- und Kostenersparnis geopfert wird.
Noch ein Wort zum MUU: Das kommt in meinen Augen zu spät. Die CDU hat sowas schon lange am Start, die SPD auch seit 1.1. Wenn wir das jetzt auch noch machen, erweckt das den Eindruck der Nachmacherei. Ich bin nicht gegen das MUU und würde es auch gern betatesten. Aber das hätte m. E. schon zur BDK in Erfurt stehen müssen.
Die Gedanken zur Demokratie im Allgemeinen kann ich auch als SPDler unterschreiben. Das ist bei uns alles sehr ähnlich. Die Probleme gibt es überall in ähnlicher Form.
Ansonsten. Danke für den interessanten Einblick! Sowas ist mir tausendmal lieber, als die 15 Sekunden Fetzen in der Tagesschau.
@Robin: plaudere doch mal ein bißchen aus dem Nähkästchen: wie löst die SPD die Zeitprobleme demokratischer Verfahren?
Ähnlich. Die böse Antragskomission faßt Anträge zusammen usw.
Auf den Parteitagen, die ich besucht habe, gab es noch keine elektronische Auszählung – also schön Zettelcheh ausfüllen und dann hat man natürlich zwischen den Abstimmunge auch Zeit zu diskutieren.
Vernünftige Fragen um darüber nachzudenken, besonders was unsere innerparteiliche Demokratie angeht…ich teile Dein Unbehagen gegenüber der Antragskommission vollständig. Wir müssen nach Wegen suchen, dass Anträge nur deshalb nicht gestellt werden, weil das Verfahren es erschwert (oder alle schnell nach Hause wollen). Auf der anderen Seiten finde ich auch die ganzen Übernahmen schwierig, da das für meine Begriffe oft noch intransparenter ist und in der Kürze der Zeit oft auch schwierig zu überschauen…und dagegen Einspruch einlegen ist oft noch problematischer. Auf früheren Landesparteitagen hat das schon zu einer Catch-All-Strategie geführt, das eigentlich alles, wo nicht jemand sofort laut geschrien hat, (modifiziert) übernommen worden ist. Was dem Wahlprogramm nicht nur gut getan hat.
W‑Lan-Grundversorgung wird in Zukunft hoffentlich wirklich zur Grundausstattung gehören, wirft allerdings noch mehr Probleme auf. Schon die Fragen erweisen sich ja oft als Behauptungen/Anschuldigungen, mit denen sich die oder der BewerberIn dann auseinandersetzen muss (Warum hast Du kein Votum? Warum zahlst Du keine Abgaben? etc.) Dagegen gibt es immerhin noch die Möglichkeit in zwei Minuten zu reagieren, auf Twitter-Behauptungen (denen ich auch Beeinflussungspotential einräumen würde), kann das sehr viel schwieriger sein.
Ob MUU funktionieren wird, bin ich mir nicht sicher, gerade weil viele per StudiVZ, Facebook, Twitter, Skype oder wie auch immer vernetzt sind…meine Beobachtung im Freundeskreis ist, dass mehr als ein oder zwei Kanäle selten wirklich genutzt werden.
@Jochen: Übernahmen/Catch-All-Strategie sind mit einer der Gründe dafür, warum ich mich oben kritisch zu Antragskommissionen geäußert habe. Im Europaprogramm stehen jetzt möglicherweise widersprüchliche Aussagen (dafür hat dann jede/r das wohlige Gefühl, vertreten zu sein). Mehr offene Konflikte, mehr Diskussionen, vielleicht auch mehr „echte Siege“ für AntragstellerInnen – wäre besser. Mal sehen, wie das beim Bundestagswahlprogramm gehandhabt wird.
Zur Beeinflussung durch Twitter etc bei freiem WLAN: sehe ich anders, also nicht als Kommunikation mit dem Kandidaten oder der Kandidatin, sondern als – sicherlich beeinflussende, aber sonst, weniger effizient, ebenso stattfindende – Kommunikation über den Kandidaten/die Kandidatin. Und als Möglichkeit, bei knappen Rede/Gegenrede-Formaten falschen Behauptungen der ja meist deutlich „ranghöheren“ Gegenrede irgendwie entgegentreten zu können (Fallbeispiel: Absenkung des Wahlalters – da hat Kai Gehring als Gegenredner ziemlich konträr zur Antragslage stehende Dinge erzählt; da direkt danach die Abstimmung kam, besteht in so einer Situation überhaupt keine Möglichkeit, zu reagieren. Könnte mit digitaler Live-Vernetzung anders sein).
MUU: Genau die Befürchtung teile ich auch; deswegen fände ich Schnittstellen so wichtig, um in Facebook, Twitter, … laufende grüne Kommunikation ins MUU reinzuholen, z.B. Und Eile.
@Robin: Ich frage trotzdem nochmal nach: wer kann bis wann Änderungsanträge stellen, wie arbeitet die Antragskommission, wann liegt deren Beschlussempfehlung vor, sind darauf Einflussnahmen möglich, gibt es z.B. AntragstellerInnen-Treffen?
Du hast sicher recht, dass Twitter letztlich nur eine neue Form des Meinungsaustauschs und der Kommunikation darstellt als die Flur- und Randgespräche bisher.
Vielleicht ist es sogar ein Mittel um den – meiner Beobachtung nach oft erschreckend hohen – Einfluss von rhetorischen (Un)fähigkeiten und Tagesform etwas zu kompensieren. Und – beim näher drüber Nachdenken – ist es sogar eine deutlich transparentere und demokratischere Form der Kommunikation. Und ob ich einem Landesverband followe, der nur jeweils zur Wahl der eigenen Mitglieder aufrauft, kann ich ja selbst entscheiden.
Ich gehe davon aus, dass W‑Lan-Parteitage früher oder später ohnehin zur Normalität werden. Gerade deshalb macht es Sinn, auch darüber nachdenken, welche Nachteile das haben kann und wie man dem entgegenwirken kann.
hey till, an einem MUU sitzen wir m.w. gerade, wusste gar nicht dass man da so nennt…soll noch zum sommer anlaufen…myLINKE…ich halte dich auf dem laufenden…ansonsten danke für die geb-einladung…wir melden uns die tage…
Hallo Gregory, naja, eigentlich heißt das bei uns momentan „Mitglieder- und Unterstützernetzwerk“, nach einem prickelnderen Namen wird noch gesucht. MUU nenne ich das (Subtext), weil ich „Mitglieder- und Unterstützernetzwerk“ (eigentlich müsste es bei uns sogar „Mitglieder- und UnterstützerInnen-Netzwerk“ heißen) etwas lang finde. Mal schauen, ob das grüne MUU oder „myLinke“ schneller ist.
Offiziell würde ich sowas generell als „social media platform“ oder als „computer-based community“ oder so bezeichnen.