Nach der Sommerpause geht’s mit der Politik weiter. Die Bundestagswahl 2017 zieht am Horizont auf. Und weil Bündnis 90/Die Grünen eine beteiligungsorientierte Partei sind, gibt es – wie bereits 2013, aber mit deutlich verschärftem Reglement, um Spaß- und Randkandidaturen auszusieben – auch dieses Jahr wieder eine Urwahl der Spitzenkandidat*innen für die Bundestagswahl.
Jetzt könnte angefangen werden, darüber zu lästern, dass Spitzenkandidaturen für eine Partei, die im Bund anders als in Baden-Württemberg vermutlich nicht in die Verlegenheit kommen wird, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen, nur bedingt wichtig sind. Jein, denn mit den Personen ist doch auch eine Richtungsentscheidung verbunden.
Beim letzten Mal, 2013, sah es so aus, dass eine ganze Reihe von Frauen Spitzenkandidatin werden wollten – Renate Künast, Claudia Roth, Katrin „KGE“ Göring-Eckardt. Geworden ist es letztlich KGE, die jetzige Fraktionsvorsitzende. Die Spitzenkandidatur war 2013 quotiert, und sie wird es auch diesmal wieder sein. Es wird also eine Kandidatin und höchst wahrscheinlich einen Kandidaten geben. (Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob die Urwahlordnung zwei Kandidatinnen möglich machen würde, wie das Frauenstatut mit seiner Unterscheidung in Frauenplätze und offene Plätze es vorsieht, oder ob aus „technischen“ Gründen eine Frau und ein Mann gewählt werden müssen, da es nur ein Wahlgang gibt, was im übrigen dazu führt, dass die relative Mehrheit ausreicht, was ich demokratietheoretisch nicht ganz unbedenklich finde, aber ich schweife ab …).
Jedenfalls: 2013 war der einzige ernstzunehmende Kandidat für den offenen Platz Jürgen Trittin. Der ist heute weder Kanzler noch Finanzminister, sondern elder statesman und Hinterbänkler der grünen Bundestagsfraktion. Nachdem sich das Narrativ durchgesetzt hatte, dass er die Bundestagswahl 2013 verloren hatte, wurde kurzer Prozess gemacht und Anton „Toni“ Hofreiter dann 2013 der Fraktionsvorsitzende.
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Womit wir im Jahr 2016 und bei der Bundestagswahl 2017 sind. Wir wissen nicht, wie die rund 60.000 grünen Mitglieder abgestimmt hätten, wenn neben Jürgen noch ein männlicher Kandidat aus dem Realo-Lager angetreten wäre. Wir wissen jedoch, dass die Mehrheit der Mitwählenden 2013 nicht das Paket Jürgen – Claudia ausgewählt hat, obwohl möglicherweise eigentlich zu vermuten gewesen wäre, dass Renate und Katrin sich gegenseitig Stimmen wegnehmen. Eine der problematischeren Seiten der Flügelorganisation dieser Partei ist ja, dass es reicht, wenn ein Flügel, eine Strömung vielleicht ein Fünftel der aktiven Mitglieder bzw. der Parteitagsdelegierten zu sich zählt, um dann – im Zweifel mit dem Mittel der flügelübergreifenden Absprache – gemeinsam Posten zu besetzen. Wie dominant der eine oder der andere Flügel programmatisch innerhalb der Partei wirklich ist, zeigt sich eher in inhaltlichen Abstimmungen. Und da gab es oft Ergebnisse, die maximal 40:60 oder 45:55 ausgefallen sind, manchmal noch knapper. Dass diese Flügelorganisation relativ vielen Mitgliedern nicht gefällt, ist vermutlich bereits sein Ende der 1980 Jahre so. Alle Versuche, diesem Mechanismus etwas Drittes entgegenzusetzen, waren dagegen bisher nicht erfolgreich. Oder es ging eher um Auseinandersetzungen innerhalb des einen oder des anderen Flügels, die dann zur Sichtbarkeit scheinbar dritter Ansätze geführt haben. Was auch etwas damit zu tun hat, dass auf Landes- und Bundesebene die Nichtzugehörigkeit zu einer der beiden innerparteilichen Strömungen eben – nach wie vor – auch bedeutet, außen vor zu sein.
Die Urwahl findet zu Weihnachten 2016 statt. Bewerbungen sind bis zum 17. Oktober möglich. Hier greift nun das härtere Reglement: Bewerben kann sich nur, wer Mitglieder der Partei ist, auf einer Bundestagsliste oder als Direktkandidat aufgestellt ist oder das Votum eines Kreisverbandes oder eines Landesverbandes hat.
Das heißt auch, dass die aktuell auf der Website zur Urwahl präsentierte Personalauswahl noch nicht endgültig sein muss. Bisher ist die Kandidat*innenlage in etwa spiegelbildlich zur Situation 2013.
Für den Frauenplatz kandidiert die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt. Gerüchteweise soll es noch eine Kandidatur von Sonja Karas geben. Diese hatte bereits letztes Jahr versucht, grüne Bundesvorsitzende zu werden und dabei rund 18 Prozent der Stimmen erhalten. Bis auf einige Presseartikel aus dem Juni und Juli ist ihre Kandidatur aber bisher nicht sichtbar, eingereicht scheint sie jedenfalls noch nicht zu sein. Auf ihrer Facebook-Seite verlinkt sie eine Domain „sonne2017.de“, die zwar existiert, aber bisher nicht mit Inhalten gefüllt ist. Ich würde Sonja Karas dem ausfransenden Rand des linken Flügels zurechnen. Ihr Landesverband Brandenburg unterstützt ihre mögliche Kandidatur nicht, ob sie ein Votum ihres Kreisverbandes oder einen Listenplatz für die Bundestagswahl hat, weiß ich nicht. Wenn sie antritt, würde sie parteiinterne Proteststimmen sammeln. Nicht mehr und nicht weniger.
Das heißt aber auch: Klare Favoritin für die weibliche Spitzenkandidatur ist bisher KGE, die Auswahl ist – wenn sich die Kandidatinnenlage nicht noch deutlich ändert – eingeschränkt. Wie 2013 bei den Männern.
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Da treten diesmal mindestens drei an, die jeweils für ein unterschiedliches Bild von grün stehen. Das lässt sich, finde ich, auch sehr schön an den jeweiligen Kampagnenwebsites sehen. Cem Özdemir, der Parteivorsitzende mit schwäbischen Wurzeln, stellt seine Bewerbung unter den Hashtag #cem2017. Und zwar so penetrant, dass ich sie erst nicht gefunden habe … Er bewirbt sich mit einem Video und einem Brief an die Mitglieder, in dem viel über Integration, Aufstiegsversprechen und soziale Gerechtigkeit steht, und ein bisschen was zu Ökologie und Ökonomie. Beispielsatz: „Am Umgang einer Gesellschaft mit Kindern und Älteren zeigt sich, wie menschlich sie ist.“ – Interessant ist hier außerdem die klare Positionierung grüner Ideen „in der Mitte der Gesellschaft“ und der – aus meiner Sicht sympathische – Ansatz, auf Bürger*innen, Vereine und so weiter „neugierig [zu] sein und mehr auf sie zugehen – und nicht warten, bis sie zu uns kommen.“ Zudem entspringt der Bewerbung der klare Gestaltungswille, der Wunsch, mitzuregieren.
Toni Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende, hat bisher keine eigene 2017-Website. Statt dessen gibt es auf seiner Website einen Eintrag: „Ich kandidiere“, abgelegt unter „Diverses“. Die eigentliche Bewerbung steht als PDF auf der Seite gruene.de. Im Kopf nicht wie in Cems Video die schwäbische Heimat, sondern das politische Berlin: Toni und KGE ganz vorne auf einer TTIP-Demo. (Mit meinen Kindern habe ich in den letzten Ferientagen ein paar Mal das Spiel „Lifestyle“ gespielt, das wohl von Anfang der 1990er Jahre sein muss. Dabei geht es darum, Fotos bestimmten Fragen des persönlichen Geschmacks zuzuordnen, die anderen müssen dann raten, was präferiert wird und was nicht. Das Demobild im Briefkopf der Bewerbung erinnert mich irgendwie daran. Ich nehme an, es soll drei Dinge transportieren: Toni ist gegen TTIP, Toni steht für eine grüne Politik, die auf Demos geht und damit an grüne Wurzeln anknüpft, und Toni steht neben KGE, ist also, wie im Fraktionsvorsitz, der richtige Kandidat für die Spitzenkandidatur).
Im Text tauchen dann die bayrische Heimat und die gesellschaftlichen Erfolge grüner Politik auf. Inhaltliche Themen: Massentierhaltung, Agrarwende, Verkehrswende, Protest gegen TTIP und Konzerne, der Wunsch nach einer solidarischen gesamteuropäischen Lösung, wenn es um Millionen Flüchtlinge geht. Beispielsatz: „Ich will mit Euch gemeinsam weiter für einen grundlegenden Umbau unserer Wirtschaft streiten, für eine gerechte Globalisierung und eine gerechte Gesellschaft hier in Europa.“. Und, mit Blick auf Regierungsbeteiligungen und gesellschaftliche Machtverhältnisse: Zwar sind Kompromisse manchmal sinnvoll. „Aber manchmal heißt es auch: Wir gegen die. Manchmal muss man kämpfen für das, was man für richtig hält. Auch im heftigen Gegenwind.“
Zweimal ein ganz unterschiedlicher Sound, zweimal doch ganz verschiedene Konzepte davon, wie „grün“ im fortschreitenden 21. Jahrhundert aussehen muss, um erfolgreich zu sein. Aber in beiden Fällen doch auch ein bekannter Sound.
Das ist der Punkt, an dem der Realo, Schriftsteller und schleswig-holsteinische „Draußenminister“ Robert Habeck mit dem Votum seines Landesverbands angreift. Auf einer neu gestalteten persönlichen Website, schick, mit großen Fotos und klaren Texten, gibt es den Punkt Kandidatur. Und schon der zweite Satz, der da steht, macht neugierig. „Ich kandidiere für die Urwahl. Es ist unsere Zeit“. Dass der Kandidat kandidiert, ist nicht besonders verwunderlich. Aber was meint er mit „Es ist unsere Zeit“? Sind „wir“ hier die Grünen, die ökologischen und sozialen Bewegungen, oder die Generation der um 1970 herum geborenen? (An der gleichen Stelle, ähnlich aufgeladen, heißt es in der schrifliche Bewerbung. ebenfalls mit großem Foto: „Wer wagt, beginnt“ …)
Ausführlicher und argumentativer, aber auch werbetexttechnisch um Längen besser, verspricht Robert Habeck nichts weniger als den Beginn des „dritten Zeitalters“ der Grünen. Damit meint er: Weg von der Protestpartei, weg von der (rot-grünen) Projektpartei, hin zur „Orientierungspartei“. Mit diesem Wortungetüm verbindet Habeck vier Argumente: das der Eigenständigkeit (nach dem Projekt rot-grün darf nicht das Projekt schwarz-grün kommen, sondern es muss klar sein, für was und für welche Haltung Grüne stehen), das des Zuhörens und des Zulassens anderer Meinungen (der Gesellschaft zuhören, statt im Vertrauen auf das Erreichte arrogant zu werden), die Notwendigkeit, sich auf „das Politische“ statt auf „das Lifestylige“ zu konzentrieren, also über Strukturen zu reden statt über Verbraucherverhalten, und schließlich das Ende der Innenpolitik, also ein kosmo-politisches Argument in der Tradition Ulrich Becks und Angelika Poferls. Die vier Argumente per se erscheinen mir schlüssig. Warum sie zu einem Begriff der „Orientierungspartei“ (anderswo heißt es auch: „Gesellschaftspartei“) führen sollen, ist mir allerdings noch nicht so ganz klar.
Die Selbstinszenierung hier ist die des von draußen kommenden Landespolitikers, bei dem es nicht um das Berliner business as usual geht, sondern um einen Aufbruch. Inhaltlich ist das in vielen Punkten gar nicht so weit weg von dem, was auch bei Cem steht. Aber es wirkt durchdachter, glaubwürdiger und charmanter, weil Robert Habeck eine interessante Mischung aus Pathos und Bescheidenheit mitbringt. Er ist jedenfalls von dem Männer-Trio derjenige, bei dem ich am gespanntesten bin, wie er in den verschiedenen Kandidatenforen und Diskussionsrunden auftreten wird, und ob die Frische und der Schwung der schriftlichen Bewerbung dann auch rüberkommt.
Es gibt noch einen weiteren Robert, der links-intellektuelle Robert Zion. Der hatte Anfang des Jahres auch angekündigt, zu kandidieren. Statt dessen ist er inzwischen dabei, aus der Partei auszutreten. Die Sinnhaftigkeit sowohl dieses Schrittes als auch des dabei zu Tage tretenden Vorgehens lässt sich intensiv auf Facebook diskutieren, an dieser Stelle möchte ich ihn nur der Vollständigkeit halber erwähnen, weil er eine Zeit lang auch als Kandidat für die Spitzenkandidatur im Raum stand.
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Die Urwahl ist auch eine Weichenstellung, zumindest eine Weichenstellung auf Zeit. Die vier Kandidat*innen (auch wenn ich KGE jetzt etwas außen vor gelassen habe), die bisher dafür antreten, stehen für vier unterschiedliche Vorstellungen davon, in welche Richtung sich Bündnis 90/Die Grünen weiterentwickeln müssen, um auf Bundesebene erfolgreich zu sein. Teilweise machen sie dies explizit, teilweise sind es eher die Zwischentöne, die die unterschiedlichen Richtungen verdeutlichen. Das heißt aber auch, dass diese Urwahl eine gewisse Relevanz dafür hat, wo wir als Partei 2017, 2018, 2019 und 2020 stehen. Und dabei geht es nicht – oder nicht nur – um Koalitionspräferenzen, sondern auch um das Bild, das wir von der deutschen Gesellschaft – und von unseren potenziellen Wähler*innen – haben.
Derzeit bin ich noch hin und her gerissen, welchen der drei Kandidaten ich für die Aufgabe, eines der beiden Gesichter für die Bundestagswahl 2017 zu sein, und danach dann eine führende Rolle zu übernehmen, am geeignetsten halte. Aus traditioneller Flügelverbundenheit heraus müsste ich für Toni Hofreiter sein, als Baden-Württemberg müsste ich für Cem Özdemir sein, und als zusehends mit der Eingefahrenheit der Partei unzufriedener teilnehmender Beobachter müsste ich für Robert Habeck sein – der mir allerdings gleichzeitig auch als der Riskanteste der Kandidaten erscheint.
Warum blogge ich das? Als Einstieg in die Zeit nach der politischen Sommerpause auch hier auf diesem Blog, und als öffentliches Sortieren meiner Haltung zu den unterschiedlichen Kandidat*innen.
Moin-
zur Orientierung eurer Entscheidung: Robert ist der Beste.
Die meisten Fachgebiete-das umfanjgreichste Wissen – die neste Zukunftsvision. Und jetzt seid ihr dran.
VG
Ulf Ralfs
Eine sehr schöne Stilanalyse der möglichen Kandidaten für die grünen Spitzenkandidatur, der ich inhaltlich zustimme. Ich bin gespannt, wie sich der Wettstreit um die Spitzenkandidatur weiter entwickelt.
Ich finde Robert Habeck auch aus fachpolitischen Gründen sehr gut. Wer sich das ansehen will, hier ist meine Analyse zum Reformpapier von Robert Habeck und Martin Häusling: https://slakner.wordpress.com/2015/07/18/gruene-agrarpolitiker-fordern-ein-ende-der-direktzahlungen‑2/
Sehr gute Analyse der männlichen „Bewerbungen“. Schade fände ich, wenn es diesmal tatsächlich nur eine weibliche Kandidatin geben sollte. Frauen, traut euch! Andernfalls gäben wir ein schlechtes Bild unserer parteiinternen Strukturen ab. Demokratie braucht Vielfalt.
Danke Till für diesen schönen, interessanten und richtigen Blogeintrag. Es bleibt spannend. Ich denke ich habe meine Entscheidung getroffen.
Der Blogeintrag vermittelt einen punktgenauen Eindruck dessen,was wir von den Kandidaten
zu erwarten haben,wenn sie denn in die Spitzenposition gehievt werden.Bei Cem und noch deutlicher bei Toni das ebenso bekannte wie langweilige „business as usual“.Hoffnungsträger
für eine selbstbewusste,aber nicht selbstgerechte,frische und zukunftsweisende Kampagne
ist eindeutig Robert Habeck.Meine Entscheidung steht und für sie werde ich werben.
Sehr lesenswert. Vielen Dank, Till!