Um die Zukunft und die Vergangenheit – so weit sie als Science Fiction bzw. als Fantasy imaginiert werden – findet derzeit, von der größeren Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ein Kulturkampf statt. Unbemerkt, aber nicht unwichtig, denn wo anders als in diesem Genre entsteht das kollektive Imaginäre? Ein heiß diskutiertes Symptom für diesen Kulturkampf sind die vor wenigen Tagen bekanntgegebenen Hugo-Nominierungen. Um das zu verstehen, ist allerdings etwas Hintergrund notwendig.
Jedes Jahr vergibt die SFWA – Science Fiction and Fantasy Writers of America – zwei Auszeichnungen, die lange Zeit großen Einfluss darauf hatten, welche (englischsprachigen) Bücher und Geschichten aus dem Genre der speculative fiction – also Science Fiction, Fantasy und Verwandtes – als relevant angesehen wurden. Eine Art genrespezifischer Literaturnobelpreis im Miniaturformat. Die beiden traditionsreichen Auszeichnungen heißen Hugo Award (vergeben seit 1953, benannt nach Hugo Gernsback) und Nebula Award (seit 1965). Von den beiden Preisen ist der Nebula der prestigeträchtigere – er wird von den Mitgliedern der SFWA vergeben, d.h. von professionellen AutorInnen und HerausgeberInnen. Der Hugo ist dagegen ein Publikumspreis – für rund 50 Dollar (Registrierung für die WorldCon, also die jährliche große convention) ist das Stimmrecht zu erwerben. Insofern spiegelt der Nebula eher den professionellen Geschmack wider, während der Hugo tendenziell in Richtung „Massengeschmack“ geht. Beiden Preisen wird eine verkaufsfördernde Wirkung nachgesagt.
Imaginationen über die Zukunft oder die (mystische) Vergangenheit haben letztlich immer etwas mit der Gegenwart zu tun, selbst wenn es sich um platteste Abenteuergeschichten handelt. Gerade Science-Fiction-Bücher und ‑Geschichten werden klar vom jeweiligen Zeitgeist durchweht. Wer sich die Liste der Hugo-Gewinner anschaut, findet – verkürzt – in den 1950er Jahren das Abenteuer vor dem Hintergrund des großen, gerne kolonialistisch geprägten Zukunftsentwurf (vielleicht mit der Ausnahme von Bradburys Dystopie Fahrenheit 451), in den 1960er Jahren gegenkulturelle Einflüsse (Heinleins Stranger in a strange land, Herberts Dune oder auch Brunners Stand on Zanzibar), in den 1970ern wird es noch politischer (LeGuins Dispossessed als Diskussion der Vor- und Nachteile einer anarchosyndikalistischen Utopie, ihre Left Hand of Darkness als Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen oder auch Wilhelms Where Late the Sweet Birds Sang mit einer apokalyptischen Umweltkatastrophe als Hintergrund). In den 1980er Jahren tauchen dann einerseits große Weltentwürfe auf (Cherryhs Downbelow Station und Cyteen, Vinges Snow Queen, oder auch die mit dem Preis versehenen Bücher von Orson Scott Card) – die neue Space Opera -, andererseits wird mit Gibsons Neuromancer der Cyberpunk sichtbar. In den 1990ern steht die Mars-Trilogie von Robinson neben military SF von McMaster Bujold und den barocken Nachwehen des Cyberpunks (Vinges Fire upon the deep oder Stephensons Diamond Age). In den 2000ern dreht sich der Wind weg von Science Fiction hin zu Fantasy und magischem Realismus mit Büchern von Gaiman, Harry Potter oder Clarkes Jonathan Strange & Mr. Norell.
Das wäre eine Möglichkeit, die Zeitgeistdurchflossenheit der Hugo Awards zu erzählen. Genau so gut ließen sich aber auch ganz andere Deutungen mit der Auswahl begründen – je nachdem, welche ausgezeichneten Werke in den Vordergrund gerückt und welche weggelassen werden.
Von den sechs seit 2010 bepreisten Romanen kenne ich einen nicht (Willis), zwei setzen sich auf sehr unterschiedliche Art in Romanform mit dem SF-Fandom auseinander (Waltons Among Others und Scalzis Redshirts), einer ist ein Öko-Roman (Bacigalupis Wind-up girl), einen würde ich dem magischen Realismus zuordnen (Miévilles The City and the City), vielleicht auch als politischer Kommentar zu lesen, und einer ist Space Opera with a twist (Ann Leckis Ancillary Justice).
Ob aus diesen besten Romanen eine einheitliche Tendenz abzulesen ist, ein Zeitgeist der speculative fiction der 2010er Jahre, ist doch fraglich. Die fünf Romane, die ich gelesen habe, sind jeweils auf ihre Art hervorragend, haben aber in Stil und Thema wenig miteinander zu tun. Vielleicht ließe sich behaupten, dass sie überwiegend einen gewissen literarischen Anspruch haben. Und wer unbedingt eine platte Zuspitzung haben möchte, findet in allen Romanen eingewebt Fäden einer eher progressiven Politik, ein Aufbegehren gegen erstarrte Traditionen und überkommene Ungleichbehandlungen. Der heldenhafte reiche weiße Mann der 1950er Jahre ist nicht mehr – an seine Stelle rücken diverse und vielfältigere Stimmen und gebrochene Charaktere.
Damit sind wir bei den Hugo-Nominierungen von 2015 angekommen. Die Romane der beiden Autorinnen Leki, Ancillary Sword (der Folgeroman von Ancillary Justice), und Addison, Goblin Emperor, würden diese Tendenz mehr oder weniger fortsetzen. Die anderen drei Nominierungen für den besten Roman 2015 sprechen dagegen eine andere Sprache: Butchers Skin Game aus der Harry-Dresden-Serie ist hardboiled investigation mit Magie gemischt, Kloos‘ Lines of Departure ist (wohl halbwegs gut gemachte – ich lese sowas nicht) Militär-SF und Andersons The Dark between the Stars ist eine Space Opera, die von Kirkus das Verdikt „Avoid. Unless you’re an Anderson addict.“ erhalten hat.
Dass Butcher, Kloos und Anderson unter den fünf Nominierungen sind, und andere Romane, die letztes Jahr erschienen sind, und dort gut hingepasst hätten, nicht, ist kein Zufall. Alle drei stehen auf der Empfehlungsliste der „Sad Puppies“. Und während sich über die literarischen Meriten in dieser Kategorie noch streiten ließ – anders gesagt: hier bewusst Autoren propagiert wurden, die nicht per se für reaktionäre Science Fiction stehen, sondern doch in breiteren Kreisen anschlussfähig sind -, sieht es in den anderen Hugo-Kategorien deutlich dramatischer aus. Teilweise sind fünf von fünf Vorschlägen (die aus einer Urabstimmung der Wahlberechtigten hervorgegangen sind) identisch mit der Vorschlagsliste der „Sad Puppies“.
Auffällig sind hier die Namen Kratmann, Wright und Beale („Vox Day“). Auffällig oft vertreten ist zudem ein erst im Februar 2014 gegründeter Kleinverlag, der finnische Castalia House. (Castalia House ist der literarische Arm der Computerspielfirma „Alpenwolf Oy“ von – Vox Day, Beschäftigte: 1, Overheadkosten: keine, Sitz: Finnland, Mission: den Glanz der 1950er zurückzubringen – in anderen Worten, die gute alte Welt christlicher Werte, misogyner und rassistischer Helden und homophober Ressentiments). Castalia House veröffentlicht zum einen Vox Days religiöse Mittelalterfantasy, zum anderen diverse Militärgeschichten und zum dritten John C. Wright.
Wright ist nach eigener Aussage ein nach einem Erweckungserlebnis zum Christentum konvertierter Atheist mit breiter philosophischer Ausbildung. Ich habe seine Golden-Age-Trilogie gelesen, ohne diesen Hintergrund zu kennen, und war in gleichen Teilen beeindruckt und beunruhigt. Beeindruckt, weil eine fein ziselierte zukünftige Zivilisation anspielungsreich erschaffen und dann auch wieder zerstört wird, beunruhigt, weil die drei Bücher von einem Unterton durchzogen sind, den ich damals beim Lesen als rechtslibertär identifiziert habe, und der – vor dem Hintergrund dessen, was ich inzwischen weiß, noch ein ganzes Stück weiter ins Dubios-Rechte rückt. Der golden glänzende Held räumt mit den Defiziten des dekadent gewordenen Imperiums auf, und sowas … Interessant, nicht unbedingt empfehlenswert, und mit einer eher barock-selbstverliebten Sprache, wenn ich mich recht erinnere.
Und dieser Wright taucht jetzt gleich in vier Kategorien der Hugo-Nominierungen auf, mit insgesamt sechs Novellen, Kurzgeschichten und Essays, die mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Creme der SF-Welt darstellen. Kulturkampf, kein Zufall.
Es gab bereits in den letzten Jahren Versuche, die Hugo-Nominierungen im Sinne dieser neurechten, homophoben Gruppierung zu beeinflussen. Diesmal ist es gelungen.
Aus der Eigensicht dieser Gruppe geht es natürlich nur darum, dem wahren Geschmack der Fans, des Volkes, Geltung zu verschaffen, und aufzuräumen mit dekadenten, linken Tagträumereien, die die gute alte Science Fiction kaputt gemacht haben. So ist das also.
Entsprechend groß ist der Aufschrei, der seit Bekanntgabe der Nominierungen in Twitter-Accounts und Blogs der SF-Szene die Runde macht. Der SFWA-Präsident Scalzi ruft dazu auf, Ruhe zu bewahren und gegebenenfalls – die Hugo-Awards verwenden ein Präferenzwahlsystem – eben für „no award“ zu stimmen. Spannend bleibt, ob sich diese Empfehlung durchsetzt, oder ob der Hugo in einigen Kategorien dieses Jahr tatsächlich an einen obskuren finnischen Kleinverlag gehen wird, der eine exquisite Auswahl des gesellschaftlichen Backlash verlegt. Ich bin nicht wahlberechtigt, aber parteiisch, und betrachte daher mit großem Interesse und Sorge, was hier herauskommt. Meine Hoffnung ist klar die, dass die auf dem Weg zu einer inklusiven und progressiven Science Fiction erreichten Fortschritte erhalten bleiben, und das Genre nicht christlich-fundamentalistischen Rechten in die Hände fällt.
Stross geht noch einen Schritt weiter. Er vermutet, dass der Versuch, den Publikumspreis Hugo zu beeinflussen, nur eine Etappe auf dem Weg dahin ist, auch die SFWA und den Nebula zu unterwandern – eine Verlagsgründung ermöglicht es, AutorInnen zu veröffentlichen, diese damit zu professionellen SF-SchriftstellerInnen zu machen, die Stimm- und Wahlrecht in der SFWA und in Bezug auf den Nebula-Award erhalten sollen. Bereits vor einigen Jahren scheiterte Vox Day beim Versuch, SFWA-Präsident zu werden – er erhielt etwa zehn Prozent der Stimmen (und wurde später aus der SFWA ausgeschlossen, weil er die Schriftstellerin Jemisin übelst rassistisch anging).
Eine organisierte Unterwanderung der SFWA durch die Vox-Day-Gruppe hätte deutlich gravierendere Folgen für die global sichtbare englischsprachige SF als es ein Jahr, in dem der Hugo nur in wenigen Kategorien verliehen wird, und als Preis beschädigt wird, haben kann. Und es ist ja nicht nur Science Fiction. Auch „Gamergate“ hat einiges mit diesem anti-emanzipatorischen Backlash zu tun. Und ein Blick auf rassistische Anschläge, populäre neurechte Bewegungen, Maskulinisten in Talkshows und dergleichen mehr zeigt, dass es um viel mehr geht. Wer den Hugo bekommt, ist an und für sich nicht wirklich wichtig. Ob es rechten und fundamentalistischen Gruppen gelingt, die Oberhand im gesellschaftlichen Diskurs zu gewinnen, dagegen um so mehr. Gerne mit der auch hier angewandten Strategie, gegen „Ideologie“ ein Zurück zu „alten Werten“ zu propagieren.
Was bleibt: Science Fiction und Fantasy sind ein imminent politisches Genre. Auch und gerade dann, wenn sie „nur“ Unterhaltung sind, „nur“ den jeweiligen Zeitgeist widerspiegeln. Auch und gerade dann, wenn das „Unpolitische“ als Banner vor sich hergetragen wird, um eine bestimmte Politik durchzusetzen. Auch deswegen ist der Fall Castalia House besorgniserregend.
Warum blogge ich das? Weil ich seit vielen Jahren Science Fiction lese, und den Wandel der letzten Jahrzehnte erfreut beobachtet habe. Hier werden die globalen gesellschaftlichen Imaginationen produziert, die nicht zuletzt politisches Denken leiten. Zumindest finden sie, die vielleicht auch ohne das Genre existieren würden, hier ihre diskursive Form.
P.S. George Martin erzählt nicht nur die Geschichte der Hugos, sondern weist auch auf die Differenz zwischen rechtskonservativen „sad puppies“ und durchgeknallten „rabid puppies“ mit christlich-fundamentalistischen Flair hin, die ich oben zusammengeworfen habe.
Hi Till,
vielen Dank für die Zusammenfassung. Bin erst neulich über #hugogate gestolpert und kenne #gamergate ganz gut. Ich find beide Phänomene wenig wirklich bedrohlich, empfinde eher die vielleicht fragwürdige Faszination eines Schaulustigen. Allerdings muss ich sagen, dass ich doch überrascht bin von deartigen Reaktionen. Platt gesagt dachte ich tatsächlich, wir wären hier weiter. Und mit „wir“ meine ich eben nicht meine eigene Bubble, sondern unsere Generation. Das empfundene Deja-Vu im Kontext der aktuellen Debatte um den neuen Feminismus, der deutliche Ruf nach Gleichberechtigung für alle, die Art und Form des Diskurses inkl Metaebene (ob nun Derailing, Begriffsdiskussionen um Privileg oder Identität, die Diskussion über eine nicht ausgrenzende Sprache usw) ist allgegenwärtig.
Aber vielleicht sind wir – die dann eben eher stille Masse – tatsächlich schon weiter und können hier wie an anderen Stellen (sei es die Frauenquote oder die endlich halbwegs begonnene Diskussion um Equal Pay) das letzte Aufbegehren erleben, bevor wir unsere Segel in „aufgeklärtere Gefilde“ setzen.