Vor einigen Tagen sorgte die Veröffentlichung einer empirischen Studie zum Linksextremismus – begleitet von einigen Presseartikeln – für Furore. Mir liegt bisher nur die Pressemitteilung (hier die recht ausführliche Langfassung) der FU Berlin zu der Studie von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder vor; die Studie selbst ist als Buch für rund 30 Euro erhältlich. Ich nutze sie als Einstieg für eine Debatte über Ideale, Zivilgesellschaft und Parlamente.
Bereits die als Leseprobe verfügbare Einleitung der Studie, aber auch das ZEIT-Interview mit dem Autoren Klaus Schroeder sprechen für sich – aber auch die Tatsache, dass die Untersuchung aus dem Linksextremismus-Programm der ehemaligen Bundesministerin Kristina Schröder (diesmal mit „ö“) finanziert wurde, und gleich mal Lob von Erika Steinbach erhielt, legt einen gewissen geistigen Hintergrund nahe. In der Wikipedia werden namhafte Kritiker des hinter der Studie stehenden Forschungsverbundes SED-Staat genannt.
Auch ohne den Volltext zu kennen, liegt also die Vermutung nahe, dass es sich bei dieser Untersuchung nicht nur um Meinungsforschung zu linken Themen handelt, sondern um den Versuch, über eine Parallelisierung von Rechts- und Linksextremismus – die in der Lang-PM explizit als Vergleich, aber nicht als Gleichsetzung dargestellt wird – entweder die (konservative) Mitte zu stärken oder aber rechtsextreme Positionen zu verharmlosen. Eine wissenschaftliche Beurteilung der Studie ist ohne Kenntnis des Volltextes (und ohne tieferen Einstieg in die Debatten rund um Totalitarismus etc.) nicht zu leisten. Insofern kann ich hier auch nichts dazu sagen, ob das Konstrukt einer „Linksextremismusskala“ (Lang-PM) als Index auf der Grundlage verschiedener Einstellungsfragen valide ist oder nicht.
Der bei metronaut zu findende Online-Test, der auf diesen Items beruhen soll, verkürzt mehrstufige Skalen auf Ja-Nein-Fragen und scheint auch bei der Auswahl der Items eher eklektizistisch vorgegangen zu sein. Dort mit 60 Prozent oder mehr als „linksextrem“ abzuschneiden, ist damit noch nicht wirklich eine Aussage darüber, ob mensch auch in der der Studie zugrundeliegenden Empirie so eingestuft worden wäre.
Seite 13 der Lang-PM hilft hinsichtlich der Konstruktion der Skala weiter, denn dort werden folgende 14 Fragen, aus denen die „Linksextremismusskala“ aufgebaut ist, genannt (in Klammern: Werte für „Stimme voll und ganz zu“ + „Stimme eher zu“ bezogen auf Deutschland aus der Studie):
- Der Kapitalismus führt zwangsläufig zu Armut und Hunger (33 %)
- Der Kapitalismus muss überwunden werden, um die Herrschaft einer kleinen Minderheit über die große Mehrheit abzuschaffen (26 %).
- Kapitalismus führt zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen (37 %).
- Ich sehe die Gefahr eines neuen Faschismus in Deutschland (18 %).
- Kapitalismus führt letztlich zu Faschismus (16 %).
- Eine tief verwurzelte Ausländerfeindlichkeit lässt sich bei uns in Deutschland überall im Alltag beobachten (48 %).
- Die deutsche Ausländerpolitik ist rassistisch. (9 %)
- Die deutsche Polizei ist auf dem rechten Auge blind. (36 %)
- Unsere Demokratie ist keine echte Demokratie, da die Wirtschaft und nicht die Wähler das Sagen haben (61 %).
- Die Lebensbedingungen werden durch Reformen nicht besser – wir brauchen eine Revolution (20 %).
- In unserer Demokratie werden Kritiker schnell als Extremisten abgestempelt (45 %).
- Nur im Sozialismus/Kommunismus ist ein menschenwürdiges Leben möglich (13 %).
- Der Sozialismus/Kommunismus ist eine gute Idee, die bisher nur schlecht ausgeführt wurde (42 %).
- Die soziale Gleichheit aller Menschen ist wichtiger als die Freiheit des Einzelnen (42 %).
An dieser Stelle fällt auch schon ein gewisser Widerspruch auf. Zum einen konstatieren Schroeder und Deutz-Schroeder mit Blick auf diese Zahlen, dass einzelne Elemente eines „linksextremen“ Weltbildes in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Das gilt nicht für alle sechs Dimensionen (Anti-Kapitalismus, Anti-Faschismus, Anti-Rassismus, Demokratiefeindlichkeit, Kommunismusnahes Geschichtsbild/Ideologie und Anti-Repression), die sie unterscheiden, gleichermaßen. Zum anderen sollen Linksextreme ein weitgehend geschlossenes Weltbild aufweisen.
Die Autorin und der Autor deuten dies als „Einsickern“ linksextremer Einstellungen in die Mehrheitsgesellschaft. Ich kann mir vorstellen, dass hier durchaus auch andere Deutungen möglich sind – etwa die, das viele dieser Thesen seit vielen Jahren zum Selbstverständnis der Republik gehören, sofern mensch sich links der „Mitte“ befindet, und dass aber gleichzeitig niemand sich als linksextrem sehen würde, nur weil er oder sie Alltagsrassismus benennt, ein nicht ganz unbeschwertes Verhältnis zur Polizei hat oder Verbindungen zwischen Kapitalismus und Hunger und Armut sieht (mir fallen zu letzterem beispielsweise evangelische Kirchentage ein).
Zudem gibt es eine Reihe von Items, die vermutlich auch bei Fans der „PEGIDA“ Anklang finden würden – etwa die Frage, ob wir eine echte Demokratie haben, oder dass „Kritiker schnell als Extremisten abgestempelt werden“.
All das deutet darauf hin, dass diese Skala möglicherweise nicht das misst, was die Autorin und der Autor der Studie eigentlich messen wollen, um ihre Warnungen aussprechen zu können – ein geschlossenes, linksextremes Weltbild nämlich. (Dazu kommt, dass einige Fragen, die sich mit dem Gewaltmonopol des Staates befassen, oder die klischeehaft „linksradikal“ wären – offene Grenzen für alle, Deutschland muss sterben, … – aus der Skala gefallen sind, weil sie zwar durchaus auch auf beachtliche Zustimmungswerte zwischen 16 und 49 Prozent erhalten haben, aber rechnerisch nicht in die Skala passen. Auch das deutet darauf hin, dass die „Linksextremismusskala“ vielleicht eher so etwas wie Unzufriedenheiten mit Staat und Gesellschaftssystem misst als tatsächlich „Linksextremismus“).
Ich weiß nicht, wie viele Items der Skala als ganz oder eher zutreffend bewertet werden müssen, um aus Sicht von Schroeder und Deutz-Schroeder als „linksextrem“ zu gelten. Reichen sieben von vierzehn aus? Je nachdem, ob die Items mit vier oder mit fünf Antwortmöglichkeiten abgefragt wurden, ob also eine neutrale Haltung ankreuzbar war oder nicht, würde ich mindestens sechs mal, vielleicht sogar sieben mal „ja“ ankreuzen.
Klar bin ich links, auch innerhalb meiner Partei – aber als „linksextrem“ habe ich mich bisher eigentlich nicht gesehen.
Vielleicht hat diese Unklarheit auch etwas damit zu tun hat, dass ich, wenn ich spontan gefragt würde, was für mich eigentlich „linksradikal“ oder „linksextrem“ ist, weniger an die PDS, DKP und MLPD denken würde, sondern eher an die anarchistische und autonome Szene, an die Antifa oder an Initiativen aus der Antirassismusarbeit. Oder: Die Jungle World wäre für mich eher ein „linksradikales“ oder „linksextremes“ Blatt als die Junge Welt – beides in einen Topf zu werfen, verkennt mehrere historische Wenden. Autonome, Antifa, Antideutsche, AnarchistInnen – das ist nicht meine Szene, aber den einen oder anderen auch biographischen Berührungspunkt würde ich schon finden. Also doch eine gefährliche persönliche Nähe zum „Linksextremismus“? (Sven Reichardt wäre hier dann deutlich spannender als Schroeder/Deutz-Schroeder).
Die vierzehn Fragen oben (und auch ein paar weitere) lassen sich auch anders lesen – als Systemkritik: Als Kritik an Bedingungen, die zu Armut und Hunger führen, die ungerechte Herrschaftsverhältnisse stabilisieren, die Krieg und Faschismus, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus begünstigen. Als Kritik an einer Demokratie, bei der politische Entscheidungen und Wahlversprechen nicht unbedingt immer etwas miteinander zu tun haben, und bei der oft der Eindruck entsteht, dass es wenig Fortschritt gibt. Oder, noch einmal umgedreht: Als Skizze einer Vorstellung einer besseren Welt, in der Menschen gleicher sind, in der niemand benachteiligt wird, in der alle mit entscheiden. Eine solche Utopie muss nicht Kommunismus heißen, um – finde ich jedenfalls – eine gewisse Attraktivität auszustrahlen.
Allerdings tauchen Umwelt- und Geschlechterfragen in der Schroeder-Deutz-Schroeder-Skala (und damit auch in dieser Skizze einer Utopie) nicht auf.
Damit ist nun allerdings die Achse ausgeklammert, die bei mir biographisch dazu geführt hat, dass ich nicht im linkssozialistischen oder autonomen, sondern eher in einem linksalternativen Milieu gelandet bin, und letztlich in einer Partei, mit all den Nachteilen und Unfreiheiten, die Parteigebundenheit mit sich bringt. Ich finde Parteien wichtig, ich finde Parlamente wichtig (sonst würde ich nicht in einer Fraktion arbeiten) – aber ich sehe durchaus, dass zentrale gesellschaftliche Veränderungen zwar in einem Parlament ihre Operationalisierung finden können, aber doch meist nicht von dort ausgehen.
Das ließe sich an der Flüchtlingspolitik näher ausführen – auch eine grün-rote Regierung ist an Recht und Gesetz gebunden, auch eine grün-rote Regierung hat im Mehrebenensystem nur begrenzte Kompetenzen – und enttäuscht damit diejenigen, die sich vor Flüchtlingsheime setzen, um Abschiebungen zu blockieren, oder die – noch so eine „linksextreme“ Gruppierung – Kirchenasyl organisieren.
Ich finde es richtig, dass es nun in Baden-Württemberg Kriterien dafür gibt, wann Abschiebungen aus humanitären Gründen zu unterbleiben haben. Vorher gab es das nicht. Der Prozess dahinter war nicht einfach, die SPD ist in ihrer Mehrheit definitiv nicht „linksextrem“. Aber natürlich heißt das im Umkehrschluss, dass auch unter grün-roter Regierung weiterhin abgeschoben wird, und dass es Fälle gibt, in denen das Ermessen der jeweils zuständigen BeamtInnen anders ausfällt als eine grüne Herzensentscheidung ausgefallen wäre.
Deswegen, um diesen Exkurs zu beenden, klappt Veränderung nicht ohne „Zivilgesellschaft“, die mehr wagen kann und freier ist, als es eine Regierung je wäre. Die hat andere Hebel, die sie umlegen kann, und Schrauben, an denen sie drehen kann, und die auch durchaus etwas bewirken. Sich über Recht und Gesetz hinwegzusetzen, gehört nicht dazu.
Ist dieses Feststellung, dass die Zivilgesellschaft ein Ungehorsamkeitspotenzial hat, dass es in der Gesellschaft glücklicherweise anarchische Spielräume gibt, dass „die Straße“ eben durchaus eine Rolle spielt, jetzt schon antidemokratisch?
Die Neue Linke der 1960er Jahre hat hier etwas in Bewegung gesetzt, das bis heute wirkt – kurz und böse: die Abkehr vom Obrigkeitsstaat. Solange „Zivilgesellschaft“ eine Chiffre für linke und alternative Initiativen ist, für engagierte, möglicherweise auch motzende BürgerInnen, die aber tendenziell eher progressiver sind als der Status Quo, fällt die heimliche Sympathie zum außerparlamentarischen Raum leicht.
Allerdings taucht zwischen NIMBY-Engagement, protestierenden JagdhornbläserInnen und der rechten Aneignung zivilgesellschaftlicher Instrumente und Handlungsformen – bis hin zur Nazi-Bio-Landkommune – auch eine seltsame Umkehrung der Verhältnisse auf: Da ist dann plötzlich doch das gewählte, demokratisch legitimierte Parlament die entscheidende Instanz, da geht es darum, die herrschenden Verhältnisse und die einmal getroffenen Entscheidungen zu verteidigen gegen Subversion und Widerstand von Rechts.
Aus der Feststellung, dass ein wichtiger Motor für Veränderung außerhalb der Parlamente sitzt (und ja, auch die Wirtschaft weiß das …), und aus der Feststellung der Ambivalenz, dass allein die Struktur und Form des Außerparlamentarischen kein Garant dafür sein kann, dass zivilgesellschaftliches Engagement die Gesellschaft voran bringt, lässt sich meiner Meinung nach nur der Schluss ziehen, dass der außerparlamentarische Raum eben durchaus als ein politischer Raum wahrgenommen werden muss. Das heißt: Es kommt auf die Inhalte an. Kompass und Haltungen sind auch dann wichtig, wenn „die Zivilgesellschaft“ mit ins Spiel kommt. Oder anders gesagt: Eine politische Haltung, die sich auf das parteipolitische Raster beschränkt, aber blind für weiterreichende Vorstellungen davon ist, wie Gesellschaft sein sollte, reicht nicht aus.
Warum blogge ich das? Um dem nachzuspüren, was mich an der „Linksextremismus“-Debatte eigentlich gestört hat. Und um – was ich dann doch nicht in den Text einbauen konnte – die Frage aufzuwerfen, was es eigentlich mit dem u.a. Churchill zugeschriebenen Spruch auf sich hat, dass, wer mit 20 nicht links ist, kein Herz, und wer mit 30 (oder 40 …) noch links ist, keinen Verstand hat. Beziehungsweise, in biographieforscherischer Wendung: Wie gehen Menschen eigentlich beim Älterwerden mit „jugendlichen“ Idealen um, was für Prozesse laufen da ab, und wie schaffen es manche, in dieser Hinsicht jung zu bleiben, bzw. ihre Ideale nicht zu verlieren, sondern sie produktiv zu transformieren?
Als Skizze einer Vorstellung einer besseren Welt, in der Menschen gleicher sind, in der niemand benachteiligt wird, in der alle mit entscheiden. Eine solche Utopie muss nicht Kommunismus heißen, um – finde ich jedenfalls – eine gewisse Attraktivität auszustrahlen.
Den Satz könnte ich mir übers Bett hängen.
Mir scheint, dass die Studie ein Mosiksteinchen einer „Kampagne“ ist, Gedanken, die zu einer solchen Utopie führen könnten, zu diskreditieren.