Zwei Chemnitzer Ökonomen (Prof. Dr. Friedrich Thießen und ein Dipl.-Kfm. Christian Fischer) haben eine Studie veröffentlicht (scheinbar tatsächlich in der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik erschienen, wenn dem Dokument zu trauen ist), auf die u.a. taz und Spiegel Online aufgesprungen sind, und die als betriebswirtschaftliche Legitimation einer maximalen Reduzierung der Hartz-IV-Sätze verstanden werden kann. Zur Erinnerung: der Regelsatz (ohne Wohngeld) liegt (zum Zeitpunkt der Studienverfassung) bei 345 Euro, der Minimalfall der Studie kommt auf 132 Euro (ohne Heizung, Strom und Miete).
Inzwischen fühlen die Autoren sich genötigt, die Studie mit einem rechtfertigenden Vorblatt zu versehen. Trotzdem müsste „Studie“ eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden.
Umso interessanter ist es, sich anzuschauen, wie die Vorannahmen aussehen, die zu solch unsinnigen Ergebnissen führen.
1. Ausgangspunkt ist ökonomen-typisch ein rational handelnder Mensch, darunter wird hier nicht nur verstanden, dass in jedem Fall das billigste Produkt genommen wird, sondern auch, dass mit Geld vernünftig umgegangen wird, keine Lebensmittel weggeworfen werden usw. Darauf (und nicht auf dem tatsächlichen Verhalten von Menschen) zur Verfügung zu stellende Geldmittel aufzubauen, ist zynisch.
2. Ausgangspunkt ist zweitens die Preislage der billigsten Anbieter (gerne auch kostenloser Second-Hand-Produkte) in Chemnitz. Auch wenn in der Studie behauptet wird, dass das keine Rolle spielt, kann ich mir z.B. kaum vorstellen, dass das ÖPNV-Ticket (Jahresnetzkarte) in Hamburg, Berlin, Chemnitz, Köln und Freiburg preislich ähnlich liegt.
3. Drittens – und hier geht es ans Eingemachte – wird versucht, von einem mehr oder weniger selbst definierten Zielset (verwiesen wird dazu auf ein unveröffentlichtes Manuskript des Ko-Autors Fischer) aus einen monatlichen Warenkorb zu definieren. Dabei wird ziemlich komplett ignoriert, dass Hartz IV mehr sein soll als eine Überlebenssicherung, sondern als Minimalfall wird tatsächlich rein das physische Überleben herangezogen. Selbst die relativ schlichte, von Ökonomen gerne herangezogene Maslowsche Bedürfnispyramide macht deutlich, dass zwischen dem physischen Existenzminimum und menschlichem Überleben Welten liegen.
4. Das Fallbeispiel wird anhand eines gesunden deutschen Mannes ohne Behinderung und sonstige Einschränkung, aber dafür mit deutschen Verbrauchsgewohnheiten berechnet. Über jedes Einzelne dieser Attribute ließe sich diskutieren. Kinder samt deren Extrakosten kommen nicht vor, ebensowenig dürfen rationale Almosenempfänger (m) irgendwelche Hobbies, Interessen, sozialen Kontakte oder Ernährungsvorlieben haben.
5. Externe Kosten (z.B. die Gesundheitsfolgen einer auf den billigsten Discounterprodukten basierenden Ernährung) kommen absolut nicht vor. Gesundheitskosten kommen überhaupt nicht vor, der deutsche Mann ist ja auch gesund.
6. Der Fallbeispielmann verzichtet auf Alkohol und Tabak (ist irrational), ist dafür jedoch relativ viel Wurst und Fleisch (scheint rational zu sein). Gespart wird überhaupt insbesondere am Essen – im Monat reichen 9 kg Brot, 9 kg Kartoffeln, 10 kg Obst, 10 kg Gemüse, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett. Gewürze sind allerdings ebensowenig vorgesehen wie z.B. Süßigkeiten. Oder Kaffee. Kaffee! Genuß gibt’s nicht. Beim Discounter kostet dieser Warenkorb (der angeblich einem WHO-Standard entsprechen soll) laut Studie 68 Euro. Pi mal Daumen komme ich mit den üblichen Supermarktpreisen auf mindestens das Doppelte (auch die realen Ernährungsausgaben im unteren Quintil abzgl. Sozialhilfeempfänger liegen dieser Studie zu Folge mit 138 Euro in dieser Größenordnung). Eine rationale – also vernünftige, gesunde, und ökologische – Ernährung wird vermutlich nochmal etwas teurer. Aber die scheint eben nicht vorgesehen zu sein.
7. Ähnlich schräg ist es bei Alltagsgegenständen und Kleidung (sollen gebraucht bzw. umsonst irgendwo erworben werden). Gebraucht wird auch gar nicht viel. Aha.
8. Für „Kommunikation, Unterhaltung, Verkehr“ sind im Minimalfall vorgesehen: ein billiger Fernseher, die Mitgliedschaft in der Stadtbibliothek und 2,38 Euro für Briefmarken (reicht das für die notwendigen Bewerbungen?). Und ein ÖPNV-Ticket für 23 Euro pro Monat, auf der Seite der Chemnitzer Verkehrs-AG habe ich allerdings nichts auch nur annähernd in dieser Preisklasse gefunden. Die Stadtbibliothek darf dann auch gleich das kostenfreie Internet mitliefern, Telefon ist nicht notwendig. Kosten insgesamt: 26,78 Euro pro Monat. Über die Effekte einer derartigen Freizeitzuweisung haben die Autoren allerdings nicht nachgedacht, jedenfalls machen sie keine Ausführungen dazu. Fahrrad, Kino, Fußball, Urlaub (noch nicht mal das Wochenendticket der DB AG), Telefon, Kneipenkonsum: sind alle nicht vorgesehen. Kurz: eingesperrt in den eigenen vier Wänden, in der Zeit, die zwischen Arbeitsamt, Discounter-Preissuche und Stadtbibliothek mit ÖPNV noch bleibt. Privatsphäre in der Kommunikation gibt es hier auch nicht.
9. Abschließend wird dann noch argumentiert, dass auch Menschen, die mehr Geld haben, unzufrieden sind, und dass es deswegen nicht weiter schlimm wäre, wenn minimalausgestattete Personen glauben, Mängel zu leiden.
Zusammengefasst: relativ asketisch lebende gesunde alleinstehende Männer mit deutschen Verzehrgewohnheiten ohne soziale Kontakte, ohne Kinder und ohne Hobbies kommen mit 132 Euro im Monat aus. Normale Menschen mit normalen Praktiken nicht, Menschen mit Problemen nicht, und Familien erst recht nicht. Es wundert mich nur, dass nicht als Berechnungsgrundlage auch das „Containern“ und die Nutzung öffentlicher Infrastruktur zur Befriedigung von Wohnbedürfnissen herangezogen wurden.
Die Ergebnisse bestätigen also letztlich vor allem eins – meine Vorurteile über ÖkonomInnen.
Warum blogge ich das? Im Rahmen der Grundeinkommensdebatte ging es auch darum, wie viel Menschen zum einigermaßen guten und entwicklungsförderlichen („Hilfe zur Selbsthilfe“, anyone?) Leben brauchen, und ob die relativ niedrigen, finanzierbaren Grundeinkommensbeiträge, die wir vorgeschlagen haben, dazu ausreichen würden. Wir reden hier über 420 Euro ohne Wohnkosten. Dafür gab’s heftig Schelte, dass die Hartz-IV-Sätze bei einigermaßen „normalen“ Alltagspraktiken kaum ausreichen, ist allgemein bekannt – und dann scheinbar ökonomisch begründet mal den Idealtypus des edlen und sparsamen Armen als Regelfall zu setzen, was die Studie implizit macht, kann einfach nicht gut gehen. Oder heißt: Wer arm ist, muss leiden. Und verdient die mediale Polemik, der ich mich hiermit anschließe.
Update: (5.9.2008) Soeben haben sich die Grünen im Bundestag mit einer Pressemitteilung zu dieser Studie zu Wort gemeldet. Und Markus Kurth macht das richtig gut.
PRESSEMITTEILUNG der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
NR. 0931 – Datum: 8. September 2008
Existenzminimums-Studie: Wirtschafts-Professor aus Chemnitz sei Selbsterfahrung auf Hartz IV-Niveau empfohlen
Anlässlich der Studie der TU Chemnitz zur Höhe der sozialen Mindestsicherung erklärt Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher:
Die Studie zweier Wirtschaftswissenschaftler der Technischen Universität Chemnitz, unter Leitung von Professor Friedrich Thießen, zur Höhe der sozialen Mindestsicherung ist unseriös und realitätsfremd. Die erhobenen Angaben zu den Verbrauchskosten, die angeblich den Lebensunterhalt sichern sollen, sind völlig frei erfunden und entbehren jedweder wissenschaftlichen Grundlage. Stichprobenartige, eher zufällig aufgespürte Schnäppchen in Chemnitz haben mit einer seriösen, für bundesweite Maßstäbe tauglichen Bedarfserhebung nichts zu tun. Jeder überprüfbare Beleg fehlt. Die staatlich besoldeten Wissenserfinder sollten einmal versuchen, einen Monat von Hartz IV zu leben. Das würde reichen, um derartige Behauptungen zum Lebensnotwendigen zu widerlegen.
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Integration am Arbeitsmarkt haben für den professoralen Schnäppchenjäger Thießen offenbar keine Bedeutung. So ist es völlig weltfremd, zu glauben, man könne ohne Telefon am kommunikativen Leben teilnehmen und sich in einer 12-Euro-Hose auf ein Vorstellungsgespräch zu begeben.
Update 2: Parallel zur Debatte um die Chemnitz-Studie gibt es bei Tina Günther eine ausführliche Auseinandersetzung mit Medienhetze und Hartz-IV-Wirklichkeit, wie immer im sozlog soziologisch unterfüttert. Lesenswerte Ergänzung.
Naja, oder der Betreffende sucht sich eben einen Job, und sei es als Burgerbauer bei McDoof. Das eigentliche Problem ist doch, dass gar nicht so wenige Menschen Hartz IV mittlerweile als mehr oder weniger erstrebenswerten Normalfall für sich betrachten.
Wobei ich zugebe, dass es für diejenigen, die sich wirklich nicht selbst helfen können, mit dem Sozialhilfe wirklich verdammt hart ist. Vielleicht sollte die Sozialpolitik zwischen den Selbsthilfefähigen und ‑unfähigen doch finanziell etwas unterscheiden.
@SG: Dir ist (mal ganz unabhängig von Debatten um Nichterwerbsarbeit und Subsistenz) bekannt, dass ein relativ großer Teil der Hartz-IV-EmpfängerInnen arbeitet? Nach dem erstbesten Link zum Thema Hartz-IV-Aufstocker, also Leute, die arbeiten, aber so wenig verdienen, dass sie zusätzliche Sozialleistungen bekommen, sind das allein 1,3 Mio, etwa ein Drittel davon vollzeitbeschäftigt! Ob Burgerjobs darunter fallen würden, weiss ich nicht. Calvinismus und protestantische Ethik scheinen mir jedenfalls nicht der richtige sozialpolitische Weg zu sein.
Aber eigentlich ging’s mir mit dem Text oben ja auch gar nicht darum, wie Hartz IV aussieht, sondern um die Frage, wie unrealistisch die scheinbar ernsthaft als solche gedachte Modellrechnung aus Chemnitz ist. Wäre mal ein Projekt, deren Liste zu nehmen, fehlende Posten (Strom z.B.!) zu ergänzen und Freiburger oder Münchener Preise einzusetzen (Bsp.: eien ÖPNV-Netzkarte kostet hier 45,50 Euro, selbst im Jahresabo (= alles auf einmal zahlen) sind es noch um die 40 Euro – allein dadurch steigen die Kosten für den „Minimalfall“ im Vergleich zu Chemnitz schon um zwölf Prozent).
Ich halte die Anrechnung von Zusatzverdiensten auf Hartz IV auch für kontraproduktiv. Aber der Kombilohn – in welcher Form auch immer – ist ja leider zur Zeit politisch nicht durchsetzbar, genausowenig wie ein (nicht zu hoch anzusetztender) Mindestlohn.
Natürlich, diese Überlebensminimum-Rechnung ist politisch motiviert. Aber die Armutsbericht-Rechnung (25 % der Deutschen leben in Armut) sind auch politisch motiviert.
@SG: Der Armutsbericht ist aber immerhin offiziell politisch motiviert, hat also einen politischen Auftraggeber. Wenn es den für die jetzt lancierte „Studie“ gibt, wurde er bisher zumindest nicht öffentlich gemacht.
Es stehen einige Sätze in dem Text (etwa wenn der berechnete Lebensmittelpreis-ohne-Schokolade mit dem offiziellen Regelsatz verglichen wird, und empört darauf hingewiesen wird, dass letzterer viel viel höher ist), die stark darauf hindeuten, dass es nicht um eine Modellrechnug als l’art pour l’art geht, sondern um Politik. Unentschieden bin ich in der Frage, ob das bloss der Ausfluss eines naiv-ökonomischen Weltbilds ist, oder ob konkretere politische Motivationen dahinter stehen. Würde mich z.B. sehr interessieren, ob die Autoren irgendwie parteipolitisch oder lobbyistisch involviert sind.
Hi Till, dank für den Hinweis auf diese Studie, in der ich gerade blättere. Ich finde es ungeheuerlich, mit welcher Gleichgültigkeit, Verachtung und offenkundiger Freude an der Provokation die Verfasser dieser Studie die Bedürfnisse der Menschen neu zu definieren versuchen und wie sie über die positiven, unterstützenden Intentionen, die auch in der Sozialgesetzgebung enthalten sind, hinweggehen. Besonders frappierend finde ich die Differenz zwischen der Präambel mit der fett gedruckten Ankündigung, aus der Studie keine Konsequenzen abzuleiten, und der tatsächlichen Schlussfolgerung, in der dazu aufgefordert wird, den mit der „Mindestsicherung verfolgten Zielkanon zu überdenken“. Schon das spricht für sich. Dazu wird an späterer Stelle noch mehr zu schreiben sein.
@Tina: Sehe ich genauso. Und bin gespannt, was Du an späterer Stelle dazu schreibst.
Aus juristischer Sicht wäre dann noch anzumerken, dass die Autoren die sozial- und verfassungsrechtlichen normativen Grundlagen des soziokulturellen Existenzminimums nicht kennen, was sich unter anderem in der permanenten Gleichsetzung von Sozialhilfe und Alg II zeigt. Als (allerdings nicht gut gemachtes) Experiment unter dem Titel „Mit wie wenig Geld kann ein gesunder Mann in Chemnitz im Jahr 2006 einen Monat lang auskommen“ taugt die Studie vielleicht etwas. Die Implikationen für die sozialrechtliche Fragestellung der Bestimmung des mit den Grunsicherungsleistungen zu gewährenden Existenzminimums sind jedoch völlig und offensichtlich unbrauchbar. Das Problem ist, dass die Studie trotzdem ihrer politischen Funktion, der Abwehr von Erhöhungsbemühungen, genügen wird.
Hi Till, dank Dir für Hinweis und Kommentar! Das pdf auf das Du hier und ich auch verlinke, ist vom Server der TU Chemnitz entfernt worden, statt dessen steht dort eine Stellungnahme des Dekans. Deshalb ist der Aufsatz selbst natürlich nicht nicht veröffentlicht worden und die Wissenschaft hat ja ihre speziellen Verfahren dafür. Schauen wir mal.
Dieser URL zufolge ist der Aufsatz weiter off-line zu finden, nämlich in der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 57. Jg, H. 2, 2008.
Auch interessant: Die „Präambel“, die vorher (nach den ersten Protesten) der Studie vorgeschaltet war, gibt es weiterhin.
Eine Dekanenstellungnahme habe ich beim
kursorischen Suchen nicht gefunden.ein klein wenig ausführlicherem Suchen hier gefunden.Update: Der google-Cache kennt den Text der Studie noch, fragt sich, wie lange.
Update 2: Und überhaupt geht im Netz nichts verloren (pdf). ((Die hier gespiegelte Fassung enthält in der Präambel einen Absatz, den ich in „meiner“ Fassung gar nicht gesehen hatte – und der aktuell auch nicht mehr zu finden ist. Und zwar steht da:
Genau. Will noch jemand über meine amazon-Affiliation ein Buch bestellen?
Eine recht detaillierte und umfassende Entgegnung findet sich in meinem Blog. Wer mag, der sei als Leser und für Anregungen herzlich eingeladen!
Ich komme gerade nicht dazu, das ausführlicher darzustellen, aber spannend ist es allemal, dass eine wissenschaftliche, empirisch breit angelegte Studie zum tatsächlichen Lebensstandard von Hartz-IV-EmpfängerInnen eher zum Schluss kommt, dass dies und das fehlt …
Till, danke für den Hinweis! Sowas habe ich gesucht.
*freu*