Ich war dann doch vernünftig genug, gestern Abend vor Mitternacht ins Bett zu gehen. Da sah es noch so aus, als würde es eine Einigung in den Jamaika-Sondierungsverhandlungen geben können. Irritierende Tweets von Nicola Beer, dass wieder alles offen sei, mal beiseite. Jedenfalls wurde klar, wo die grünen Schmerzgrenzen liegen. Ein CSU-Hinterbänkler verkündete Einigungen bei sicheren Herkunftsländern, in meiner Timeline folgte fast schon ritualisierte Empörung, bis dessen 15 Minuten vorbei waren, und das Ganze sich als Gerücht entpuppte.
Dass die Verhandlungen sich so lange hinzogen, hätte irritieren können. Am frühen Abend lag für mein Gefühl, was ich so las und wahrnahm, der Abbruch schon in der Luft. Ich schrieb, dass hier ein Paar verhandelt, dessen Beziehung gescheitert ist, dass sich das Ende aber nicht eingestehen möchte. Als sich die Gespräche dann doch weiter in den Abend hinzogen, war meine Interpretation ein „jetzt haben sie’s“, der Punkt des Scheiterns schien überwunden, der letzte Kompromiss gefunden, der Knoten durchgehauen.
Wie weit unser grünes Sondierungsteam dabei tatsächlich gegangen ist, und wie weit die Partei dem gefolgt wäre, werden wir nun allerdings nicht erfahren. Denn zur Abstimmung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen wird es nicht kommen.
Schuld daran, und da ist sich nicht nur meine reichlich und zu Recht darüber empörte grüne Filterblase einig, ist Christian Lindner, der neue Posterboy der Verantwortungslosigkeit. Wenn stimmt, was aus Verhandlungskreisen berichtet wird, dann lässt sich rückwirkend so etwas wie eine Strategie erkennen: die FDP wollte Jamaika nicht. Und dass die Verhandlungen sich so lange hingezogen haben, hat auch etwas damit zu tun, dass versucht wurde, eine Situation zu konstruieren, in der Grüne abbrechen sollten. Mit immer neuen Forderungen, mit dem Infragestellen von gefundenen Kompromissen, zuletzt wohl mit der Aussetzung des Familiennachzugs als neuer Hürde. Die Strategie ging nicht auf, weil das grüne Sondierungsteam verantwortungsvoll agierte und immer wieder Kompromissangebote machte, Brücken baute, auf die anderen zukam.
Dagegen wirkte die FDP (und wohl auch die CSU …) wie die Inkarnation der Kompromisslosigkeit. Nicht, weil es um irgendwelche Werte ging, um zentrale Bausteine der Programmatik – sondern aus Prinzip, und, rückblickend, eben mit dem Ziel des Scheiterns vor Augen. Kurz vor der Wand war es dann letztlich doch Lindner selbst, der das Scheitern der Sondierungen erklärte und dann davon lief.
Das wirkte eher bedenkenträgerisch als mutig, und die vorgebrachten Gründe fand ich nicht überzeugend. Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass die FDP die Partei voran stellt und sich Verhandlungen verweigert – ich denke da an Niedersachsen und Baden-Württemberg, wo es jeweils nicht zu Ampel-Verhandlungen kam, weil die FDP es partout nicht wollte. Ich frage mich auch, was jetzt in Schleswig-Holstein passiert – belastungsfrei für das dortige Jamaika-Bündnis dürften die Verhandlungen jedenfalls nicht gewesen sein.
Zwei Monate nach der Bundestagswahl, nach einem Herauszögern der Sondierungsgespräche aufgrund von Wahlen und unionsinternem Einigungsbedarf, nach quälend langen Verhandlungen – an dieser Stelle auch mein Dank an das grüne Sondierungsteam, das für das Beste dieser Partei steht und stand – steht die Bundesrepublik nun im Neuland.
Ein bisschen erinnert das an „Oh, wie schön ist Panama“, das Kinderbuch von Janosch: Tiger und Bär machen sich, ohne Plan, auf den Weg nach Panama, und landen am Schluss dann doch wieder zu Hause, nur das grüne Plüschsofa ist neu. Auch bei Jamaika alles zurück auf den Ausgangspunkt?
Wie es jetzt weitergeht, ist offen. Drei Optionen stehen im Raum. Die SPD könnte sich doch noch darauf einlassen, über eine Große Koalition zu verhandeln. Die Bedingungen dafür sind aber nicht einfacher geworden. Einerseits größere Verhandlungsmacht seitens der SPD, andererseits ist sie in einer schwierigen Selbstfindungsphase.
Die Bundeskanzlerin könnte es mit einer Minderheitenregierung versuchen, möglicherweise auch verbunden mit einem Tolerierungsabkommen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag heikel, und definitiv nichts, was auf Bundesebene schon einmal versucht wurde. Aber wenn es einen Zeitpunkt gab, so etwas zu versuchen, dann wäre der jetzt.
Vielleicht ist es auch schon das Ende der Kanzlerin Merkel, durch einige Monate der geschäftsführenden Regierung oder eine Minderheitenregierung auf Zeit mit einem Minimalprogramm hinausgezögert, aber doch schon sichtbar.
Oder es könnte – nach Scheitern der Wahl der Kanzlerin, ausgerufen durch den Bundespräsidenten, wenn ich den Weg richtig verstehe – zu Neuwahlen kommen. Das wäre der Weg des maximalen Stresses für Parteiorganisationen und Mitglieder – mal ganz abgesehen von den neu gewählten MdB und deren Stäben -, und ob am Schluss ein signifikant anderes Ergebnis heraus käme, steht in den Sternen. Was allerdings anders wäre: die Jamaika-Option wäre von vorneherein tot. Wenn es nicht zu einer klaren Mehrheit reicht, würde am Schluss dieser Neuwahlen dann ein sehr großes Fragezeichen stehen.
Die Ausgangslage für alle Parteien wäre dadurch eine andere – vielleicht erinnern sich Wähler*innen auch in einigen Monaten noch daran, wer Bedenken voran gestellt und wer verantwortungsvoll verhandelt hat. Die Zukunft ist offen.
Unabhängig davon hat der Jamaika-Prozess Dinge verändert. Christian Lindner hat, nolens volens, möglicherweise das Fundament für zukünftige Formen schwarz-grüner Zusammenarbeit gelegt, insofern wohl Grüne und CDU durchaus auf dem Weg zu einer Einigung waren. Zugleich hat er angefangen, die Säge an den schwarz-gelben Ast zu legen.
Grün-intern stehen die Sondierungsverhandlungen einerseits für eine so noch nie dagewesene Geschlossenheit, die durchaus wahrgenommen wurde. Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt haben massiv an Statur gewonnen, auch Michael Kellner ist jetzt deutlich sichtbarer als vorher. Der parteiinterne Streit wird nicht vorbei sein, aber es gibt aus meiner Sicht jetzt noch mehr Argumente dafür, zusammen zu arbeiten, statt sich intern spalten zu lassen.
Und andererseits wurde deutlich, dass Bündnisse mit der CDU und der CSU nur möglich sind, wenn sehr weit von grüner Programmatik abgewichen wird. Die Vorstellung eines neuen, fast schon natürlichen „bürgerlichen“ Parteienbündnisses entpuppten sich als Blütenträume. Der von einigen Journalist*innen herbeigeredete „Lagerwechsel“ hat nicht stattgefunden, und wird nicht stattfinden. Über all das wird in der Partei zu reden sein.
Deutlich gemacht haben die Sondierungsverhandlungen aber auch, dass es große politische Themen gibt, über die hart gerungen werden muss. In gewisser Weise war die Berichterstattung dazu politischer als die Berichterstattung über den Wahlkampf. Es ist eben nicht so, dass alle Parteien Klimaschutz wollen, und es ist auch nicht so, dass alle Parteien sich darüber einig sind, wie die Zukunft des Einwanderungslandes, der Sozialversicherungen oder des Bildungssystems aussieht. Es wäre schön, wenn das nicht in Vergessenheit gerät, wenn das nächste Mal irgendjemand Plakate in Technicolor aufhängt.
Warum blogge ich das? In erster Linie aus Ärger über das kindische Verhalten der FDP. Oder, ums in ein Bild zu packen: der Fortschrittsbalken bei der Neuinstallation stand bei 80%, und dann meldete der Rechner irgendeine lapidare Inkompatibilität und brach ab.
Super Analyse – hoffentlich findet „man/frau“ den richtigen Ausweg aus diesem Irrgarten, und kommt im nächst-höheren Level ‚raus.