Draußen ist es Spätsommer. Mal wieder ein Wetterumschwung – vor ein paar Tagen waren es noch über 35 °C, jetzt regnet es im Herbstmodus. Aber ich will nicht über das Wetter schreiben, sondern über die Bundestagswahl, und dieses Land.
Eigentlich wollte ich diesen Text anders beginnen, ich hatte ihn auch schon halb fertig. Mit einem Blick auf die möglichen Koalitionen nach der Wahl, mit einem Blick auf die FDP, die sich derzeit so in der Mittelpunkt rückt, und auch auf die Original-AfD. Auf die Infas-Analyse in der ZEIT eingehen, die zeigt, dass Deutschland doch offener und liberaler ist, als viele denken, und dass die medial so dominanten rechten Hetzer nur eine Minderheit vertreten.
Und auch dazu wollte ich schreiben, dass zwischen dem Image und der tatsächlichen Verortung nicht nur beim Selbstbild dieses Landes etwas nicht stimmt, sondern ebenso beim Bild der einzelnen Parteien. Da sind die diversen Wahltools hilfreich, die eigentlich alle ein gemeinsames Ergebnis haben: es gibt einen Pol der mehr oder weniger progressiven Parteien, die sich gar nicht so sehr von einander unterscheiden – Grüne, Linke, SPD, diverse neue Kleinstparteien (Kopien der Linken oder der Grünen, nur ohne den Regierungsbeteiligungsballast), – Grüne, Linke, SPD und diese Kleinstparteien sind jedenfalls allesamt Parteien, die für eine offenere Gesellschaft und mehr Solidarität stehen. Wie sie sich zu Putin verhalten, welche außenpolitischen Schwerpunkte es gibt, und wie ernst die Ökologie genommen wird – das unterscheidet sie dann doch. Aber die grobe Richtung ist viel weniger unterschiedlich, als manche das glauben. (Und viel differenzierter, als andere behaupten.)
Dann gibt es auf der anderen Seite die CDU irgendwo Mitte-rechts. Es gibt die FDP, die eher marktliberal als sozialliberal ist, egal, wie die Kampagne aussieht, und zumindest in Baden-Württemberg auch gerne mal den populistischen Hau-Drauf gibt. Schließlich die AfD mit ihrem autoritären, rechtspopulistischen Ganz-Rechts-Außen-Kurs.
(Ich wollte in diesen Text eigentlich keine hundert Links einbauen, aber auf den Datenjouranlismus der Berliner Morgenpost muss ich doch hinweisen. Die haben aus den Daten des Wahl-o-Mat [über den sich dieses Jahr auch einiges sagen ließe, darunter nicht nur Gutes] und aus der Kandidatenbefragung von abgeordnetenwatch zum einen ein Tool gebastelt, das zeigt, welche Partei mit welcher anderen der am Wahl-o-Mat teilnehmenden wie stark übereinstimmt, und zum anderen eine Punktewolke, die die Kandidat*innen der Parteien nach Ähnlichkeit sortiert: auch da wird übrigens deutlich, dass rote, grüne und linke Kandidat*innen sich inhaltlich durchaus nahe stehen [ohne zu einem Brei zu werden], während FDP und CDU/CSU einen eigenen [zweigeteilten] Cluster bilden – und die AfD jenseits von Gut und Böse verortet ist. Soweit der Datenjournalismus.)
Im Wahl-o-Mat, im Bundeswahlkompass, im Wahlnavi, vermutlich auch im Parteienavi – und wie die Tools in ihrer ganzen Unübersichtlichkeit alle heißen – sortiert sich also die Landschaft der programmatischen Angebote. Die ist relativ vielfältig, eigentlich müsste für jeden was dabei sein, selbst wenn Leerstellen bleiben: so gibt es keine relevante Partei, deren Markenkern das progressive Linksliberale ist. Klar findet sich das bei uns Grünen, vielleicht auch bei anderen Parteien des Spektrums, möglicherweise sogar in kleinen Dosen in der FDP – aber eben immer nur als zweites oder drittes Thema, nie als definierender Kern. Allerdings ist es den Piraten, die Neuen Liberalen, den Liberaldemokraten und wie sie alle heißen, bisher auch nicht gelungen, eine solche Partei dauerhaft zu etablieren. Möglicherweise ist es okay, wenn das nur das zweite Thema der Partei der jeweiligen Wahl ist.
Es gibt keine Leerstelle mehr für Rechtspopulismus a la FPÖ oder Trump. Leider.
Also: breite Auswahl, Parteien, die bei genauerem Hinsehen doch um einiges differenzierter sind. Eigentlich müsste der Wahlkampf heiß laufen. Tut er aber nicht. Sondern fühlt sich seltsam an.
Dazu mag the second – nein, eigentlich the fourth – coming of Merkel beitragen. Relativ egal, wie gewählt wird – wenn die Prognosen halbwegs stimmen, dann bleibt Angela Merkel unsere Bundeskanzlerin. Das ist seltsam, weil wir es hier vor allem mit einer Projektionsfläche zu tun haben. Die einen sehen die Wir-schaffen-das-Kanzlerin, die dann unter dem Label „christliche Werte“ für eine soziale Politik steht, und sogar was für die Umwelt tun würde. Die anderen wählen die Parteivorsitzende der CDU, die seit an seit mit der CSU längst weit ins konservative Feld gerückt ist. Die einen denken an Wendemanöver nach Fukushima und an die Öffnung der Tür für die Ehe für alle, die anderen an Dobrindt, de Maiziere und Spahn. (Und der CDU-Wohlfühlwahlkampf tut alles, um diese Projektionsfläche so weit wie möglich zu öffnen, und so wenig konkretes wie nur irgendwie möglich rüber zu bringen …)
Wie heißt noch einmal der Kanzlerkandidat der SPD? Nicht Schröder (der will russischer Oligarch werden), auch nicht Schmidt (der war mal), weder Steinmeier noch Steinbrück, sondern Schulz, genau. War mal ein neues Gesicht, schafft es jetzt aber nicht, Themen zu setzen. Nationale Bildungsoffensive – klar, why not, Bildung ist immer gut (auch wenn Schulpolitik eher fürs Verlieren von Wahlen taugt) – aber da müssen dann halt 16 Länder mitmachen, und nicht nur die mit SPD-Regierungschef. Und was hatte er sonst für Themen? Vage bleiben mir Versuche in Erinnerung, sich mit „zu viele Flüchtlinge“ zu profilieren (oder war das Gabriel?). Und, ach klar, mehr Gerechtigkeit, das steht auf den schreienden Kindern, pardon, Wahlplakaten der SPD ebenfalls drauf. Gutes Thema, weil in den letzten Jahren fast immer in SPD-Hand, also etwa mit der Arbeitsministerin.
Also, das übliche seit 2009: die SPD kämpft auf verlorenem Posten, zieht aber nicht. Diesmal wäre sie ja sogar bereit, die im auslaufenden Bundestag noch bestehende linke Mehrheit in eine Koalition umzuwandeln, vielleicht jedenfalls. Nur sieht’s für die, bei Lichte betrachtet, nicht besonders gut aus. Die SPD steht schwach da, die Linke weiß eh nicht so richtig, ob sie in eine Koalition gehen würde, jedenfalls nicht, wenn dafür eine der zwanzig oder dreißig roten Linien überschritten werden müssen, und auch wir Grüne schwächeln, wenn wir ehrlich sind.
Das ist übrigens einer der Punkte, den ich an diesem Wahlkampf nicht verstehe. Wir haben eine handwerklich und inhaltlich gut gemachte Kampagne. Unser Spitzenkandidat ist ebenso präsent wie unsere Spitzenkandidatin, und beide machen ihre Sache hervorragend. Kampagne und das richtig gute – progressive, konkrete, „anwendungsorientierte“ – Wahlprogramm passen zu uns. Sie sind inhaltlich klar, in der Zuspitzung auf zehn Punkte, die wir unbedingt umsetzen wollen, erst recht. Die Veranstaltungen sind gut besucht, und grüne Themen stehen mitten auf der Agenda: in Bangladesh und Houston zeigt der Klimawandel (an den AfD und FDP noch immer nicht glauben) seine ganze Wirkungsmacht. Der Dieselskandal hat die Notwendigkeit für eine Verkehrswende und für eine Transformation der Automobilwirtschaft deutlich gemacht, deutlicher geht es eigentlich gar nicht. Es gibt einen Lebensmittelskandal ums Ei. Und nach und nach kommt heraus, dass es sowas wie ein Netzwerk von Rechten, auch in der AfD, auch bei Polizei und Bundeswehr, gibt, die schon mal darüber nachdenken, wenn sie nach der Revolution an die Wand stellen wollen.
Eigentlich beste Voraussetzungen für ein grünes Rekordergebnis. Und doch sind die Leute sonderbar zögerlich, wenn es darum geht, grün zu wählen. Im grünen Wahlwerbespot gibt es diese Szene mit dem Kaninchen und der Schlange. Seit Juni bewegt sich nichts – bei acht Prozent ist Schluß in den Umfragen. Warum dieses Zögern?
(Und gleichzeitig tauchen nach und nach Elemente aus der Rhetorik der AfD in der Mitte des medialen und öffentlichen Diskurses auf. Dass alle Parteien gleich und „die Politiker“ verachtenswert seien. Dass unliebsame Meinungen totgeschwiegen würden. Dass die Grenzwerte nur Erfindungen sein. Dass es „denen“ um Angstmache gehe. Etc. etc.)
Eigentlich würde ich mir ja wünschen, dass ein Wahlkampf vor allem ein Zeitpunkt ist, in dem einzelnen Parteien sagen, wie sie die Probleme der nächsten vier Jahre lösen wollen. Das passiert fast gar nicht. Statt dessen werden Kleinigkeiten hochgekocht, Äußerlichkeiten in den Mittelpunkt gestellt, und die direktere Kommunikation ist von Nickeligkeit geprägt und davon, keinem was zu gönnen, und nur darüber zu reden, was andere nicht können.
Aber auch wenn der Wahlkampf sachlicher wäre, wenn alle die unterschiedlichen Ideen, wie die Probleme, die ja nun mal da sind, gelöst werden können, in den Mittelpunkt stellen würden – oder, um es anders zu beschreiben: ihre Zukunftsbilder, ihre Ideen, wo es mit diesem Land in den nächsten vier und den nächsten vierzig Jahren hingehen soll – die Stimmungslage wäre wohl nicht anders. (Apropos Parteien und Wahlkampf: die in Österreich gerade laufende scheinbare Abschaffung der Parteien zugunsten charismatischer Listenführer ist auch nicht das Richtige …)
Ist es die Last des Regierens in den Ländern? Ein Überdruss damit, dass sich da manches nur langsam und manches gar nicht ändert (und manches an der Tatsache hängt, dass die Landeskompetenz nur bis dahin reicht, und im Bund eben keine Grünen regieren?). Ist hier das Vertrauen verloren gegangen? (Das Ergebnis von DiB und V³ und BGE und du. und wie sie alle heißen wird ein Indikator dafür sein …)
Ist es die Tatsache, dass Grüne nach wie vor eine streitlustige Partei sind, und dass davon doch auch einiges nach außen dringt? Wäre mehr Geschlossenheit, ein einheitliches Bild, ein stärkeres Wertschätzen auch des innerparteilichen Gegners besser? (Sicher, aber das ist in anderen Parteien auch nicht anders, befürchte ich. Und noch viel größer können wir unsere Einigkeit beim Kampf gegen den Klimawandel, bei der Umwelt, aber auch bei Gleichstellung und Integration eigentlich gar nicht schreiben als auf unseren diesjährigen Plakaten.)
Sind es Winfried und Boris? Oder Toni, Jürgen und Claudia? Sind es Cem und Katrin? Oder gar Robert?
Ist es die fehlende klare Ansage, was nach der Bundestagswahl passiert – rächt sich hier die Offenheit für Koalitionen sowohl mit der SPD als auch mit der CDU? (Aber wie soll eine relativ kleine Partei auf Bundesebene sonst progressive Politik voranbringen? Und wie anders als in einem Programm sollen wir festhalten, was wir tun werden und wofür wir stehen? Oder müssten wir klar sagen, dass eine vierte Amtszeit für Merkel nicht an uns scheitern wird?)
Ist es der Medienfokus auf der Lindner-Werbung und der FDP mit der schöneren Geschichte? (Rausgeflogen, neues Gesicht, groß im Kommen – egal, dass ab Reihe zwei nichts anders ist als vorher?)
Ich kann es nicht genau fassen, aber irgendwie hat sich Teilen der Öffentlichkeit ein Bild über Bündnis 90/Die Grünen festgesetzt, das überhaupt nicht zu meiner Innenwahrnehmung passt. Wir haben klare Vorstellungen davon, dass der Weg in die Zukunft einer ist, der gestaltet werden muss, dass es Probleme gibt, die gelöst werden müssen – und dass wir dafür Mut brauchen. Das meint „Zukunft wird aus Mut gemacht“. Cem sprach davon, dass es Fortschritt nur mit grün gibt – auch das ist natürlich, wie alles in einem Wahlkampf, übertrieben, aber in der Tendenz sehe ich es auch so.
Manchmal weht der Wind der Geschichte in die falsche Richtung. Da hilft dann alles Strampeln nicht. Trotzdem würde ich gerne wissen, wo wir falsch abgebogen sind, trotzdem bleibt das Gefühl einer seltsamen deutschen Wahlkampfzeit voller Ablenkungen und Sumpfblasen. Und das gefällt mir nicht.
Warum blogge ich das? Als Stimmungsbild, und um eine gewisse Ratlosigkeit festzuhalten. Ich drücke diesem Land trotzdem die Daumen, dass am 24. September ein Ergebnis herauskommt, dass der deutschen Weltoffenheit und dem deutschen Gefühl des weit gefassten sich um einander Kümmerns gerecht wird.
P.S.: Ich mag Videoformate nicht so, aber dieses Anaylsevideo der SZ ist durchaus hilfreich. Kernaussage: Um jetzt noch zu gewinnen, müssen Grüne zuspitzen und präzise Kanten ziehen.