Zehn Regeln für Demokratie-Retter

Nur etwas mehr als hun­dert Sei­ten umfasst das Büch­lein Zehn Regeln für Demo­kra­tie-Ret­ter des Köl­ner Jour­na­lis­ten Jür­gen Wie­bicke, das als Lizenz­aus­ga­be der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung für 1,50 € erhält­lich ist. Und eigent­lich ist alles, was Wie­bicke dort locker erzäh­lend auf­schreibt, selbst­ver­ständ­lich. Oder soll­te selbst­ver­ständ­lich sein. Viel­leicht braucht eine im Ange­sicht eines auf­lo­dern­den Rechts­po­pu­lis­mus ver­un­si­cher­te Gesell­schaft genau die­se Bestä­ti­gung des Selbst­ver­ständ­li­chen, und viel­leicht ist Wie­bickes Buch gera­de des­we­gen ein wich­ti­ges Vade­me­cum für Bür­ge­rin­nen und Bürger. 

Oder viel­leicht ist das Büch­lein auch des­we­gen wich­tig, weil sich hin­ter den Regeln, hin­ter dem Auf­ruf zu Gelas­sen­heit und loka­lem Enga­ge­ment auch eini­ge Sät­ze ver­ber­gen, die mög­li­cher­wei­se nicht auf Zustim­mung sto­ßen oder nicht sofort geteilt werden. 

Bei­spiels­wei­se warnt Wie­bicke einer­seits davor, den der Neu­en Lin­ken und der Neu­en Sozia­len Bewe­gun­gen abge­schau­ten Tak­ti­ken der Rechtspopulist*innen auf den Leim zu gehen. Ande­rer­seits ruft er jedoch auch dazu auf, „AfD-Sym­pa­thi­san­ten den Rück­weg offen[zu]halten“ und fin­det, dass das öffent­lich Gespräch zu Sach­the­men mit loka­len AfD-Politiker*innen die bes­te Mög­lich­keit bie­tet, dass die­se sich bla­mie­ren. Auch das gehö­re dazu, sich nicht in eine „Echo­kam­mer“ zu begeben. 

Ähn­lich sieht es aus, wenn Wie­bicke den Auf­ruf, „Pro­ble­me nicht in Wat­te“ zu packen, auch zu einer Abrech­nung mit der „Sprach­po­li­tik“ der post­mo­der­nen Lin­ken nutzt. Sein eigent­li­ches Anlie­gen, dass es nie­man­dem hilft, Pro­ble­me – etwa der Inte­gra­ti­on – zu ver­schwei­gen, son­dern dass es wich­tig ist, die Augen auch vor unan­ge­neh­men Rea­li­tä­ten nicht zu ver­schlie­ßen, hal­te ich für rich­tig. Und ja, ich kann mir vor­stel­len, wo der Ein­druck her­kommt, dass Debat­ten um Gen­der-Stern­chen, Unter­stri­che und „ver­bo­te­ne Wör­ter“ ein „rei­nes Eli­ten­pro­jekt“ sei­en. Selbst die The­se, dass die Lin­ke dar­über man­ches Mal die sozia­le Fra­ge aus den Augen ver­lo­ren haben mag, kann ich gewis­ser­ma­ßen noch nach­voll­zie­hen. Hier schießt mir Wie­bicke aber übers Ziel hin­aus – ich hal­te es für durch­aus mög­lich, prag­ma­tisch und trotz­dem bewusst mit Spra­che umzugehen. 

Inter­es­sant fand ich das Kapi­tel „Ver­ab­schie­de dich von der Atti­tü­de, eigent­lich gegen die­se Gesell­schaft zu sein“. Bio­gra­phisch und in Anleh­nung an Eri­bon geht es Wie­bicke da um die lang­sam gereif­te Selbst­er­kennt­nis, als irgend­wie lin­ker Bil­dungs­auf­stei­ger aus der Baby­boo­mer-Gene­ra­ti­on heu­te auf der Gewin­ner­sei­te ange­kom­men zu sein, und nicht mehr der Under­dog zu sein, der poli­tisch gegen das Sys­tem kämpft: 

„Trotz­dem gibt es bis heu­te tief in mir drin das ver­un­si­chern­de Gefühl, eigent­lich nicht dazu­zu­ge­hö­ren. Ich weiß, dass ich es mit vie­len tei­le. Viel­leicht ist dies der Grund, war­um es für vie­le so schwer ist, rea­lis­tisch zu sehen, dass man Teil des Estab­lish­ments gewor­den ist.“

Zu die­sem Rea­lis­mus gehört auch die Fest­stel­lung, dass sehr genau beob­ach­tet wird, wie sich die­ses neue Estab­lish­ment in Bezug auf Reden und Han­deln, Wein und Was­ser­trin­ken ver­hält. Ent­spre­chend deu­tet er den „Veggie­day“ als Sym­bol dafür, „dass den Bewoh­nern der Gewin­ner­sei­te die Nöte der Ver­lie­rer aus dem Blick gera­ten.“ Ent­spre­chend ruft er sei­ne Gene­ra­ti­on dazu auf, „etwas von dem zurück­zu­ge­ben, was wir mal bekom­men haben“, statt im Ange­sicht gewon­ne­ner Kämp­fe ein Land in die Lethar­gie glei­ten zu las­sen. (Aller­dings fra­ge ich mich auch, ob sich Wie­bickes Buch sich hier nicht fast schon in Rich­tung Pater­na­lis­mus bewegt: die Bewohner*innen der Ver­lie­rer­sei­te schei­nen kei­ne Bücher zu lesen …).

Jeden­falls, und da bin ich wie­der ganz bei Wie­bicke, hält er den „gro­ße Wurf“, die eine Uto­pie, die alles ändert, für unwahr­schein­lich und das Set­zen dar­auf für falsch. Statt des­sen ver­weist er auf die Will­kom­mens­be­we­gung für Flücht­lin­ge als Bei­spiel für eine sehr schnell gewach­se­ne und sehr erfolg­rei­che Bür­ger­be­we­gung, in der sich vie­le Men­schen sehr schnell Wis­sen ange­eig­net haben. Hier sieht er akti­ve Bürger*innen, hier sieht er einen neu­en Geist der Par­ti­zi­pa­ti­on. Das Poli­ti­sche ist lokal, ent­spre­chend steht auch die eige­ne Stadt, der Stadt­teil, das Dorf im Sin­ne eines com­mu­ni­ty orga­ni­zing ganz vorne. 

Was Wie­bicke ver­misst, ist eine Par­tei, die die­ses rea­lis­ti­sche und prag­ma­ti­sche Enga­ge­ment als „Impuls […] für die eige­ne Wie­der­be­le­bung“ auf­neh­men möch­te. „Kein Par­tei­vor­stand hat ein­la­dend geru­fen: Kommt mas­sen­haft und mischt unse­ren Laden auf!“ – schreibt er. Die­ses Wahr­neh­mung wun­dert mich etwas. Mög­li­cher­wei­se liegt es dar­an, dass heu­te schon ein gro­ßer Teil der enga­gier­ten Bürger*innen aus einer Schnitt­men­ge mit den par­tei­po­li­tisch Akti­ven kom­men (aber viel­leicht täuscht mich mein grü­ner Innen­blick hier auch). 

Wie­bicke ist aber nicht ein­fach Par­tei­en­kri­ti­ker, son­dern bleibt auch hier Rea­list: den Weg vom heu­te-show-Spaß-Popu­lis­mus zum Schimp­fen auf „ ‚die‘ Poli­ti­ker“ a la AfD geht er nicht mit. Statt des­sen ruft er zur Dif­fe­ren­zie­rung auf – es gibt gute und schlech­te Berufspolitiker*innen, genau­so wie es gute und schlech­te Journalist*innen gibt. Und wer kom­mu­nal­po­li­tisch aktiv wird, ehren­amt­lich und mit gro­ßen Zeit­auf­wand, macht etwas ande­res als jemand, für den Poli­tik der Haupt­be­ruf ist. Dif­fe­ren­zie­ren kann aber nur, wer selbst denkt, wer sich eine eige­ne Mei­nung bil­det, und wer dabei auf seriö­se Quel­len zurück­greift. Etwas wohl­feil der Hin­weis, dass Schu­len hier beson­ders gefragt sind (als gelern­ter Phi­lo­soph for­dert Wie­bicke unter ande­rem ein Schul­fach Phi­lo­so­phie für alle und kri­ti­siert die auf Nütz­lich­keit zuge­schnit­te­ne Bil­dungs­po­li­tik). Auch die Angst vor der feh­len­den Mün­dig­keit der „Gene­ra­ti­on Abi“ scheint mir nur halb zu treffen. 

Es bleibt das Plä­doy­er, gelas­sen und mit Lei­den­schaft Demo­kra­tie im All­tag zu leben, statt sich der Angst vor Kri­sen und vor einer kom­ple­xer gewor­de­nen Welt hin­zu­ge­ben. Das kann in einem ehren­amt­li­chen Pro­jekt im Stadt­teil eben­so der Fall sein wie im Hal­tung zei­gen in der Fami­lie und am Arbeits­platz. Es kann auch die Mit­glied­schaft und die Mit­ar­beit in einer Par­tei sein – Wie­bicke bemüht sich, auch das als posi­ti­ve Alter­na­ti­ve zu sehen, es blitzt aber doch eine gro­ße Frus­tra­ti­on über die Arbeits­wei­se und das Innen­le­ben von Par­tei­en durch. Da fra­ge ich mich dann abschlie­ßend (auch im Sin­ne eines rea­lis­ti­schen Blicks auf Pro­ble­me), wie viel an die­sem Außen­bild denn tat­säch­lich wahr ist, und ob Par­tei­en (und Abge­ord­ne­te) wirk­lich einen so abschre­cken­den Schat­ten werfen. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich Wie­bickes Plä­doy­er für geleb­te Demo­kra­tie als Alter­na­ti­ve zum Rechts­po­pu­lis­mus wich­tig fin­de, und glau­be, dass es sich lohnt, sich mit sei­nen zehn Regeln aus­ei­an­der­zu­set­zen. Viel­leicht gera­de auch im Umfeld von Parteien.

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