Gefrorene Zeit

Patterns of frost I

Z., die bald elf Jah­re alt wird, mein­te vor kur­zem zu mir, dass sie es bedau­re, sich an vie­le Ereig­nis­se aus ihrer frü­hen Kind­heit nicht erin­nern zu kön­nen. Ich kann das gut nach­voll­zie­hen, denn mir geht es so ähn­lich. Was ich nahe­zu aus­wen­dig ken­ne, ist dage­gen die Sequenz der Fotos in mei­nem – von mei­ner Mut­ter ange­leg­ten – Foto­al­bum (zwei Bän­de). In mei­nem Fall ist es ein groß­for­ma­ti­ges Buch, mit Sei­ten aus Kar­ton, getrennt durch Trans­pa­renz­pa­pier. Die Fotos – Papier­ab­zü­ge ana­lo­ger Foto­gra­fie -, vor allem die aus den ers­ten Lebens­jah­ren, haben die typi­sche oran­ge­sti­chi­ge Fär­bung ange­nom­men, die alle aus mei­ner Gene­ra­ti­on ken­nen dürf­ten, und die heu­te „1970er“ signalisiert.

Mein Foto­al­bum endet unge­fähr mit mei­nem sechs­ten Lebens­jahr. Danach fol­gen noch ein paar Bil­der, die unbe­schrif­tet waren, und die ich mit elf oder zwölf selbst beschrif­tet habe, und die ers­ten eige­nen foto­gra­fi­schen Geh­ver­su­che. Nicht, weil von mei­ner Mut­ter kei­ne Fotos mehr gemacht wor­den wären, son­dern weil zwei, bald drei Kin­der, Haus­halt und Erwerbs­ar­beit kei­ne Zeit mehr lie­ßen, Fotos ordent­lich in Alben zu kleben.

Die Tra­di­ti­on des Foto­al­bums habe ich über­nom­men. Ich weiß, dass auch mein Groß­va­ter schon Fami­li­en­fo­tos in Alben gesam­melt hat­te, und auch davor gibt es klei­ne schwarz-wei­ße Foto­gra­fien, die mei­ne Groß­el­tern müt­ter­li­cher­seits in ihrer Jugend zei­gen. Das Foto­gra­fie­ren liegt inso­fern in der Familie. 

Fotos heu­te sind digi­tal, und sie sind all­ge­gen­wär­tig. Selbst mein Fair­pho­ne macht halb­wegs pas­sa­ble Bil­der; die Auf­nah­men der digi­ta­len Spie­gel­re­flex­ka­me­ra sind heu­te um vie­les bes­ser, als es der übli­che ISO-100-Ana­log­film je war. Um Fotos auf­zu­be­wah­ren, nut­ze ich seit eini­gen Jah­ren – und manch­mal mit Bauch­weh, etwa als die Fir­ma von Yahoo über­nom­men wur­de – Flickr als Foto­dienst. Zudem lie­gen nach Mona­ten geord­ne­te Roh­fo­to­gra­fien auf mei­ner Back­up­fes­t­plat­te. Man­che Bil­der blei­ben aber auch schlicht auf dem Smart­phone und ver­schwin­den mit einem Aus­tausch des Geräts.

Trotz­dem habe ich, wie gesagt, die Tra­di­ti­on des Foto­al­bums über­nom­men. Das hat damit begon­nen, dass wir Z.s ers­tes Lebens­jahr in einem Foto­al­bum fest­ge­hal­ten haben. In einem gro­ßen Album mit schwar­zem Foto­kar­ton haben wir Abzü­ge digi­ta­ler Foto­gra­fien auf­ge­klebt, und beschrif­tet, dazu noch die Geburts­no­tiz in der Zei­tung und ähn­li­ches. (Für Z.s Bru­der gibt es eben­falls ein sol­ches Album).

Die Jah­re danach sind dann in Foto­bü­chern fest­ge­hal­ten, ein Foto­buch pro Jahr. Das ist halb­wegs kom­for­ta­bel in der Erstel­lung, noch bezahl­bar, und führt trotz­dem dazu, dass es ein gegen­ständ­li­ches, aus­ge­la­ger­tes Kind­heits­ge­dächt­nis gibt, das Z. aus dem Regal neh­men und durch­blät­tern kann. Was sie ger­ne tut. 

Die Erstel­lung eines Foto­buchs ist immer eine (freu­di­ge) Grat­wan­de­rung. Ers­tens ist der Platz begrenzt. Die Fotos, die es dort­hin­ein schaf­fen, stel­len immer eine Aus­wahl aus viel, viel mehr Bil­dern dar. Etwas hoch­ge­sto­chen gesagt: es geht dar­um, Erin­ne­run­gen zu kura­tie­ren. Die Quel­le dafür sind die eige­nen Fotos, auch die vom Smart­phone, aber auch Fotos, die die Mut­ter der Kin­der gemacht hat, Fotos der Groß­el­tern, nach und nach auch Fotos, die Z. selbst gemacht hat. 

Die zwei­te Grat­wan­de­rung besteht dar­in, dass ein Foto­buch lay­outet wird. Auf eine Sei­te kann ein sei­ten­fül­len­des Bild, es kön­nen aber auch zwölf brief­mar­ken­gro­ße Fotos auf die Sei­te gelegt wer­den. In der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen begrenz­ter Sei­ten­zahl und Mate­ri­al­fül­le heißt das auch, so gut wie mög­lich der Ver­su­chung zu wider­ste­hen, alles noch etwas klei­ner zu machen, um noch ein Bild, noch ein Ereig­nis mehr unterzukriegen. 

Drit­tens schließ­lich bie­tet die Soft­ware, um Foto­bü­cher zu erstel­len, neben Lay­out-Auto­ma­ti­ken (die ich nicht nut­ze) auch vie­le Mög­lich­kei­ten, sich in Irr­gän­gen des Ver­spiel­ten zu ver­lau­fen. Über Bil­der kön­nen Mas­ken gelegt, es kön­nen Hin­ter­grün­de und Schrift­ar­ten aus­ge­wählt werden. 

Apro­pos Schrift: bei den jähr­li­chen Foto­al­ben ver­zich­te ich fast völ­lig auf Text. Die Foto­gra­fien sind nach Mona­ten geord­net, hin­ten fin­det sich eine Auf­lis­tung der fami­liä­ren Ereig­nis­se für jeden Monat. Eine Bild­un­ter­schrift zu jedem ein­zel­nen Foto ist mit der gro­ßen Zahl an Bil­dern nur schlecht ver­ein­bar (zudem war es in den ers­ten Ver­sio­nen der Soft­ware noch recht umständ­lich, Text einzugeben). 

Die Foto­bü­cher sind durch eine wie­der­keh­ren­de Struk­tur gekenn­zeich­net. Nicht nur der Ablauf der Mona­te ist fix, wobei es Mona­te gibt, in denen viel pas­siert, und die ent­spre­chend mehr Platz bean­spru­chen, und Mona­te, in denen wenig pas­siert, oder wenig an Fami­li­en­fo­tos exis­tiert, weil viel in ande­ren Sphä­ren wie etwa der beruf­li­chen oder poli­ti­schen Welt pas­siert ist. Es gibt auch immer wie­der­keh­ren­de Ereig­nis­se. Weih­nach­ten und Som­mer­son­nen­wen­de, Ostern und Herbst­ak­ti­vi­tä­ten, die Geburts­ta­ge der Kin­der und der Erwach­se­nen. Fes­te, die Schu­le, Hort und Kin­der­gar­ten betref­fen, Besu­che bei den Groß­el­tern, Akti­vi­tä­ten mit Freun­den. Urlaub.

Die Bil­der im Foto­buch sind eine Aus­wahl der Fotos, die über­haupt gemacht wur­den. Sie kon­zen­trie­ren sich auf das, was bei Flickr nicht öffent­lich ist – Fami­li­en­fo­tos, Kin­der­fo­tos anläss­lich der genann­ten Ereig­nis­se. Land­schaf­ten und Din­ge, wech­seln­de Woh­nun­gen und unter­schied­li­che Klei­dungs­sti­le tau­chen nur am Rand auf (dafür gibt es die Fotos der Woche hier im Blog, zu denen es auch ein Foto­buch gibt, aber das ist eine ande­re Geschich­te). Und es gibt natür­lich vie­les, was nicht foto­gra­fiert wird. Der Fokus liegt auf den Kin­dern. Ereig­nis­se, die nur die Eltern betref­fen, spie­len höchs­tens eine Neben­rol­le – erst recht, seit­dem wir getrenn­te Wege gehen. All­tag wird nur sel­ten zum foto­gra­fi­schen The­ma. Und viel­leicht trägt auch die Aus­wahl der Fotos in sol­chen Alben dazu bei, dass Kind­heit in der Rück­schau in einem gol­de­nen Licht erscheint. Trotz­pha­sen, Streit und Unzu­frie­den­heit blei­ben ausgeblendet.

Zusam­men­ge­nom­men ermög­li­chen die Foto­bü­cher eine Rück­schau – und eine Erin­ne­rung – an die ver­gan­ge­nen zehn Jah­re im Zeit­raf­fer. Wie aus klei­nen Babies fast schon Teen­ager wer­den, und wie aus fast noch jugend­li­chen Eltern „ech­te“ Erwach­se­ne wer­den. Als aus­ge­la­ger­tes Archiv frie­ren sie die Momen­te ein, die sich dann ins Gedächt­nis ein­prä­gen, die Erzähl­an­läs­se bie­ten und von der fami­liä­ren oral histo­ry beglei­tet wer­den. Dar­um füh­re ich die­se Tra­di­ti­on fort.

War­um blog­ge ich das? Weil ich gera­de dran sit­ze, und mir da Z.s Zitat wie­der einfiel.

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