„Wir halten zusammen. Hartnäckig. Visionär. Verantwortlich. Grün.“ stand nicht auf dem Backdrop, also dem Bühnenhintergrund, bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster, die an diesem Wochenende stattgefunden hat. Wäre keine werbetechnisch tolle Zuspitzung gewesen. Ein bisschen viel Text vielleicht. Stattdessen stand da „Wir bleiben unbequem“. Das ist kürzer, und wurde von vielen, vielen Menschen aufgegriffen – in Reden, in Tweets, auch in Artikeln und Berichten. Die dann leider oft mit „… haben es sich bequem eingerichtet“ endeten.
Wenn es stimmt, dass wir in ernsten Zeiten leben, wenn es stimmt, dass eine der ganz großen Herausforderungen – neben dem Klimawandel – die Frage ist, wie eine Gesellschaft im Angesicht von Hass zusammengehalten wird, dann hätte ich mir eine Botschaft der BDK gewünscht, die weniger das Auf-die-Füße-Treten zum Markenkern erklärt als vielmehr die sehr ernsthafte Bereitschaft, im Angesicht der zu lösenden Weltprobleme Verantwortung zu übernehmen. Durchaus nicht als besseres Verwaltungshandeln, und auch nicht im Modus bürgerlicher Behäbigkeit, sondern so, wie wir Grüne sind, also hartnäckig, und mit klaren Zielen. Die können auch gerne als Visionen bezeichnet werden.
Unbequem zu sein ist für mich kein Wert an sich. Unbequem zu sein kann die Folge davon sein, hartnäckig Visionen und Problemlösungen zu verfolgen, ohne Schere im Kopf und ohne den immer gleich schon mitgedachten Kompromiss. Wenn es so ist, dann ist es gut, unbequem zu sein. Aber „wir bleiben unbequem“ – da ist mir zu viel Weg, und Mittel, und viel zu wenig Zweck und Mitte.
So oder ähnlich klingen in meinem baden-württembergischen Umfeld doch einige Zusammenfassungen des Parteitags. Und das ist auch ein Problem. Denn die Abstimmungen und der Applaus haben eben immer wieder sehr deutlich gemacht, wo der baden-württembergische Landesverband in der westfälischen Tagungshalle sitzt. Es gab einzelne Abstimmungen, da konnte aus der Vogelperspektive ganz genau abgezirkelt werden, wo Baden-Württemberg aufhört, und wo Hessen, Sachsen oder Berlin anfängt. Das soll jetzt nicht heißen, dass die baden-württembergischen Delegierten immer einheitlich abgestimmt hätten. So war es nicht.
Und es soll auch nicht heißen, dass es nicht viele Abstimmungen auf diesem langen Arbeitsparteitag gegeben hat, bei denen mit großer Einhelligkeit Beschlüsse gefasst wurden, bei denen der ganze Saal geschlossen einer Meinung war. Alyn Smith von der schottischen Nationalpartei hat für sein Plädoyer für Europa ebenso zurecht von allen Seiten Beifall bekommen wie der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar. Und auch der Beitrag von Bastian Hermisson, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung Washington, stieß auf große Zustimmung. Und ja, auch die Feier für das grüne Frauenstatut – mit einer großartigen Rede von Claudia Roth – war etwas sehr Gemeinsames.
Ebenso verliefen die Endabstimmungen der Anträge zumeist recht einhellig. Nach langen Debatten – von denen in der Presse dann meist nur die eine Zuspitzung rüber kam, die wenigen harten und kontroversen Abstimmungen – gab es umfangreiche, konstruktive und durchaus auch visionäre Beschlüsse zu Europa, zur Investition in den sozialen Zusammenhalt in all seinen Facetten, zur Religions- und Weltanschauungspolitik und auch zur Energie- und Verkehrswende. Damit sind wir programmatisch insgesamt gut aufgestellt. Dass dabei an der einen oder anderen Stelle vielleicht auch ein Übermaß an visionärem Geist aufblitzt, finde ich nicht schlimm. Für irgendwas müssen wir schließlich stehen, müssen wahrgenommen werden – und dass wir als nach wie vor in der Opposition stehende Bundespartei klare Ansagen machen, wo wir hinwollen, um gehört zu werden, ist aus meiner Sicht nicht das Problem. Egal, ob es jetzt um den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, den Kohleausstieg, die Weiterentwicklung von Hartz-IV oder die ach so gescholtenen stärkere Steuergerechtigkeit geht. Da haben wir jetzt Beschlüsse, und damit auch eine Grundlage für das Bundestagswahlprogramm 2017.
Schwieriger finde ich, wie es zu diesen Beschlüssen kam (das hat auch eine Dimension in Richtung Beteiligungspartei, die ich jetzt aber ausspare), wie sie teilweise diskutiert wurden, und wie weit die Toleranz geht, unbequeme Meinungen innerhalb der eigenen Partei zu akzeptieren. Die war nämlich teilweise extrem gering ausgeprägt. Ich nenne jetzt keine Namen, aber manche können gar nicht anders, als in fast schon demagogischer Manier zuzuspitzen. Das gibt schnelle Sympathie und schnelle Zustimmung. Andere können gar nicht anders, als zu provozieren und damit den eigenen Ast abzusägen, weil – gewollt oder ungewollt – kluge Redebeiträge auf den einen überspitzten Nebensatz reduziert werden, und von dem, was sie möglicherweise eigentlich sagen wollen, wenig ankommt.
Ebenso problematisch finde ich inzwischen den nach innen gewandten Protestzirkus. Demos, Banner, Trillerpfeifen, das Lustigmachen über den politischen Gegner – das hat seine Funktion. Aber sind wir wirklich ein so diktatorischer Verein, dass diese Instrumente auch nach 36 Jahren immer noch – oder gar wieder? – gezogen werden müssen, um manchmal eher unverständliche Botschaften rüberzubringen? Konstruktiv ist das nicht, und Brückenbauen sieht anders aus. Manchmal habe ich da fast den Eindruck, dass die eigene Inszenierung – bis hin zum Bild in der Tagesschau – weit, weit über das Wohl der Partei gestellt wird. Besonders peinlich fand ich das im Zusammenhang mit der Zetsche-Rede. Da sinkt dann meine Toleranz dafür, unbequeme und nervige Aktionen ertragen zu müssen.
Und erzähle mir bitte keiner, dass das die einzige Möglichkeit gewesen sei, dissidente Positionen sichtbar zu machen. Erstens war es überhaupt nicht so, dass da eine Parteitagsmehrheit für Winfried Kretschmanns Kurs da gewesen war. Das zeigten doch auch die Abstimmungsergebnisse. Da haben die Protestaktionen kein bisschen zu beigetragen, weder so noch so. Zweitens, da muss ich Cem Özdemir recht geben, hat sich doch gerade am Beispiel der Rede des Daimler-Chefs Zetsche wunderbar gezeigt, dass Grüne sich überhaupt nicht einlullen lassen von schwachen Argumenten und vagen Versprechungen. Egal, ob es um die Verkehrswende oder die Rüstungskontrolle geht: Rede und – auf Protest hin zugegebene Diskussionsrunde, das gebe ich zu – haben doch vielmehr geradezu deutlich gemacht, wie notwendig hier, bei aller Dialogbereitschaft, regulative Politik ist.
(Gleichzeitig hat die Einladung von Herrn Zetsche eines erreicht: eine Meldung bei Reuters und damit in der internationalen Nachrichtenzirkulation, aus der die Notwendigkeit eines Umsteuerns in der Automobilindustrie klar hervorgeht.)
Ich schrieb ja, dass ich mir mehr Vertrauen in die jeweils anderen 60.733 Parteimitglieder wünsche. Hören wir doch einfach mal auf, uns anzuschreien. Da war diese BDK leider kein Glanzlicht. Nehmen wir sie als Generalprobe für die Programm-BDK im Juni 2017. Da erhoffe ich mir dann mehr Zusammenhalt, mehr Brückenbau (das geht bei tieferen Gräben am besten von zwei Seiten!) und eine Parteitagsregie, bei der als Botschaft ein ernsthafter, gemeinsamer Wille zur Gestaltung rüberkommt – und keine nostalgische Rückbesinnung auf, jedenfalls aus baden-württembergischer Perspektive, Zerrbilder grüner Identität.
Ein letzter Punkt: auch wenn das Urwahlforum ausgefallen ist, hat mich die BDK doch noch einmal erheblich neugieriger darauf gemacht, wie die Urwahl ausgehen wird. Sowohl Toni Hofreiter als auch Cem Özdemir hatten richtig gute Reden gehalten – selbstverständlich ganz unterschiedlich akzentuiert. Robert Habeck musste kurzfristig seine Dienstpflichten in Schleswig-Holstein wahrnehmen – hier hätte mich doch sehr interessiert, auf wie viel Zustimmung eine Parteitagsrede von ihm gestoßen wäre. Jedenfalls bin ich gespannt, und auch das ist Beteiligungspartei, wer das Rennen machen wird. Und ob die Einschätzung stimmt, dass die Grundgesamtheit der Mitglieder und die Auswahl der Delegierten nicht unbedingt identisch „ticken“. Wir werden es sehen.
Warum blogge ich das? Auf mehrfachen Wunsch, und als Realitätscheck zu meiner Wunschliste.
P.S.: 2015 – manches verfestigt sich, anderes nicht.
Vielleicht schadet auch ein kurzes Feedback nicht, nach den Eindrücken, die man so haben konnte oder die ich jedenfalls so hatte via Stream.
Insgesamt fand ich es erstaunlich okay. Mit inhaltlichem Licht: schneller Kohleausstieg, Ende Hartz-Sanktionen, grundsätzliches Bekenntnis zur Umverteilung. Und Schatten: Kretschmanns unkritische Übernahme eines rechten Kampfbegriffes, Ehegattensplitting, Populismus vor Klarheit bei einigen Begriffen. „Superreich“ heißt, so reich zu sein, daß man nicht mal mehr die Grünen wählt, las ich zwischendurch irgendwo.
Der Zetsche-Auftritt war wirklich kein Grund zur Panik, da wäre auch im Vorfeld etwas mehr Gelassenheit wünschenswert gewesen. Seine Rede war ja ziemlich lahm und beim Thema „Lobbyarbeit“ wurde er ja auch zurecht ausgelacht. Der inhaltliche Kontrast zu Jürgen Resch war deutlich und aussagekräftig. Die Diskussion im Anschluß hätte man sich sparen können, ein zusätzlicher gesetzter Redebeitrag für Barbara Lochbihler hätte gereicht.
Einige Grundkonflikte wurden deutlich, die vor der Wahl zum Problem werden könnten. Der weitaus bedeutendste ist der Gegensatz zwischen Baden-Württemberg und dem Rest. Das sieht jede und jeder auch aus der Distanz, aber ich habe nicht den Eindruck, daß zum Beispiel die Spitze der Bundespartei dem Thema genügend Aufmerksamkeit widmet.
Eine andere Frage ist, ob Programm und Personal am Ende zueinander passen werden. Die Variante, daß das eine das andere ausgleichen soll, funktioniert im Zweifel nicht. Damit meine ich aber nicht nur die Urwahl, sondern besonders auch die Zusammenstellung der Landeslisten. Es gibt Wähler*innen wie mich, die sich sowas genau anschauen.
Völlig richtig in Deiner Zusammenfassung ist schließlich der Hinweis, man möge doch bitte nicht ständig so viel schreien, wenn man an einem Redepult steht. Das nervt. Wer was zu sagen hat, kann das doch ganz in gewöhnlichem Tonfall tun.