Vorneweg: Diese Woche gibt es ungefähr drei Dinge, die eine Deadline haben; deswegen kann ich das folgende Argument nicht wirklich ausführlich darlegen. Trotzdem kann ich sowohl das Problem der Bahn mit ihren ICEs als auch die anschwellende Homöopathiedebatte nicht ganz außen vor lassen – das juckt doch in den Fingern … und ist deutlich länger geworden als geplant.
Zur Bahn-Debatte: Ich fahre gern und viel Bahn, trotzdem oder gerade deswegen finde ich das Krisenmanagement der Bahn bedenklich. Letztlich geht’s um die Frage, wieviel technische Redundanz – ein großes Sicherheitsmerkmal der Eisenbahn – wegoptimiert werden kann, um betriebswirtschaftlich erfolgreich zu sein. Darf ein für ein geschlossenes System im Extremfall lebensnotwendiges Teil wie eine Klimaanlage so gestaltet sein, dass sie ausfallen kann? Oder muss ein Ausfallrisiko hingenommen werden – und was ist dann jenseits der Technik zu tun (Wartungsintervalle, ein Wagenpark, der groß genug ist, um Ersatzzüge bereitzustellen …)? Wie das ganze politisch einzuschätzen ist, verrät Winne Hermann MdB in einem Interview mit tagesschau.de.
Etwas allgemeiner: wie muss ein großes technisches System, eine Infrastruktur, gestaltet und reguliert sein, um auch bei Winterwetter und Hochsommerhitze zu funktionieren?
Zum Thema Homöopathie: Unter großem Beifall der Naturwissenschaftscommunity bringen SPD und cDU die Idee ins Spiel, Homöopathie aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen. Renate Künast macht die Sache nicht besser, indem sie Homöopathie und Naturheilkunde gleichsetzt. Auf Twitter hauen sich die Leute kräftig die Köpfe ein – Fakten finde ich nur wenige. (Ja, es gibt hunderte Studien, dass Homöopathie nicht funktioniert, und es gibt vielfältige Argumentationslinien von Leuten, die trotzdem möchten, dass die Krankenkassen Homöopathie bezahlen*). Aber das meine ich nicht. Vielmehr ist die eigentliche Frage doch erstens, wie groß das Einsparpotenzial eigentlich ist, über das hier geredet wird – es hat ja seinen Grund, warum diese Debatte gerade im beginnenden Sommerloch aufbricht. Richtig handfeste Zahlen sind schwer zu finden, es scheint sich aber um ungefähr 1 bis 5% des Krankenkassenbudgets zu handeln.
Und zweitens geht es für mich auch um die Beobachtung, dass hier unterschiedliche Logiken aufeinander prallen. Die eine Seite sieht sich im Besitz der wissenschaftlichen Wahrheit, das heißt sie operiert im Bezugssystem Wissenschaft mit der Unterscheidung wahr/falsch, um den guten alten Luhmann herauszuholen. In dieser Logik ist „klar“, dass Homöopathie falsch ist, und deswegen kein rational denkender Mensch auf die Idee kommen könnte, dafür öffentliche Leistungen einzufordern. Diese Position wird ganz gut vom heutigen xkcd-Comic illustriert:
Politik operiert nicht im Philosophenkönig-Modus wahr/falsch, sondern im Medium Macht. Und auch die öffentliche Meinung (das System der Massenmedien) hat andere Leitdifferenzen. Von der Wirtschaft – und den Krankenkassen als Organisationssystemen – gar nicht erst zu sprechen (Zahlung/keine Zahlung). Insofern finde ich es überhaupt nicht verwunderlich, dass die naturwissenschaftliche Logik eben nicht 1:1 in Politik umgesetzt wird. ((Wer sich umschaut, wird eine ganze Reihe von Belegen dafür finden, dass auch viele andere politische Entscheidungen irrational sind.))
Oder noch einmal anders angesetzt, und Luhmann beiseite gelassen: wir können auch unterscheiden zwischen dem wissenschaftlichen Wissen, in dem es Möglichkeiten gibt, die Wirksamkeit von Homöopathie zu testen, dem „esoterischen“ Wissen der HomöopathInnen selbst – und dem Alltagswissen der Menschen, die davon überzeugt sind, dass Homöopathie ihnen hilft (warum auch immer sie davon überzeugt sind: auch das Alltagswissen von Menschen folgt eben nicht der wissenschaftlichen wahr/falsch-Logik, sondern lässt sich zunächst einmal einfach nur so beschreiben, wie es eben ist bzw. wie es sich eben beobachten lässt).
Insofern Politik auf Wahlen rekurriert, ist das die populistische Frage danach, ob ein Verbot von Homöopathie als (Zusatz-)Kassenleistung anschlussfähig an das Alltagswissen ist. Ich vermute: eher nein. Es ist daher auch die Frage nach dem Projekt der Aufklärung: wie wissenschaftliche Rationalität ins Alltagswissen bringen. Und es ist nicht zuletzt die Frage danach, wieso diese Debatte gerade jetzt einigen PolitikerInnen als hinreichend anschlußfähig erscheint, um sie in Gang zu bringen. (Und wieso gerade diese, und keine der anderen vielen möglichen Debatten um Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems).
Aber ich schweife ab: Was hat nun das großtechnische System Bahn und die soziotechnischen Probleme, die eine Ausrichtung an ökonomischer Logik mit sich bringen, mit der Homöopathie-Debatte zu tun? Ich sehe eine Gemeinsamkeit, und die liegt letztlich in den Lücken. Mit der Frage nach der soziotechnischen Redundanz ist das für die Bahn schon angesprochen: wie groß sind die Spielräume, um auf Fehler reagieren zu können? Gibt es Ersatzsysteme? Gibt es Ersatzzüge? Sehen die Fahrpläne so aus, dass auch ein anhaltender Zug nicht gleich alles durcheinander bringt? Je fester gekoppelt das System ist, um das mal so zu sagen, desto wahrscheinlicher ist die Gefahr eines Ausfalls, wenn etwas ausfällt.
Auch unsere Krankenkassen sind eine Infrastruktur, ein großes (sozio-)technisches System. Noch dazu eines, das extrem schwerfällig zu steuern und zu verändern ist. Auch hier kann über die Nebeneffekte betriebswirtschaftlicher Effizienz diskutiert werden (u.a. im Bereich Pflege, aber auch im Hinblick auf die Formalisierung von Handlungen durch informationstechnische Abrechnungssysteme – und deren Konsequenzen). Aber die eigentliche Gemeinsamkeit in den Lücken, die ich sehe, ist eine andere: Wie weit darf sich das System von Idealparametern (Wetter ohne Extremereignisse, Bezahlung nur des neuesten Standes der Wissenschaft) entfernen, um noch zu funktionieren? Wieviel Spielraum für „Quatsch“ ist notwendig, um ein weitgehend reibungsloses Funktionieren des Gesamtsystems zu ermöglichen? Wieviel Ressourcen dürfen „verschwendet“ werden (in Redundanzen, in wohl wirkungslose Therapien)?
Die wissenschaftlich-wahre Antwort der Ökonomie lautet vermutlich: keine. Aber ein Just-in-time-System ist störanfällig. Insofern kann ich mir vorstellen, dass das Gesundheitssystem seine Leistung besser erbringt, wenn ein gewisses Maß – 5%, 10% – an Spielraum, an Redundantem, gar an Aberglauben vorhanden ist. Da passt Homöopathie rein, da passt auch nichtabrechnungsfähige Gesprächszeit rein.
Natürlich hilft einem die Öffnung von Spielräumen nicht bei politischen Grundsatzfragen weiter. Es ist gut möglich, dass Homöopathie wissenschaftlich weitgehend widerlegbar ist, oder dass der eigentliche Wirkmechanismus bei denen, die glauben, dass das funktioniert, das Gespräch mit den ÄrztInnen und letztlich die Überzeugung sind, dass es wirkt.
Insofern ende ich mit einem etwas paradoxen Plädoyer: Dafür, einerseits einen gewissen Spielraum für (scheinbaren?) Unsinn, für Fehler zuzulassen, andererseits diesen aber auch zu begrenzen. Spielraum für Fehler bei der großtechnischen Infrastrukur Bahn heißt: den Fahrplan nicht gleich durcheinander bringen, wenn technische Komponenten ausfallen. Also (möglicherweise mit präziser Technik unterstützte) Fehlertoleranz statt Abhängigkeit von der Präzision. Aber in Maßen: die Attraktivität des Verkehrssystems Bahn hängt ja auch davon ab, dass diese pünktlich ist, dass diese standardisiert und „präzise“ genutzt weren kann.
Spielraum für Fehler beim Gesundheitssystem heißt: sich damit abfinden, dass medizinische Praktiken nicht durchgängig wissenschaftlich sind (auch in der Allopathie gibt es da vermutlich bei genauem Hinsehen viel an nichtwissenschaftlichem Wissen in der Wissenschaft). Ein optimiertes und finanziell tragfähiges System schaffen, aber nicht um den Preis, jegliche lose Kopplung auszumerzen und jegliche Praxis zu standardisieren. Und auch hier: die Begrenzung der Fehlertoleranz im Sinne einer politischen Regulierung der Grenzen (aber eben bitte nicht zu eng).
Das wäre jedenfalls, so meine ich zumindest, ein soziologisch-wahres Wissen über gesellschaftliche Systeme und deren Gestaltung. Um das paradoxe Plädoyer abzuschließen: es geht darum, dieses Wissen eben auch zur Kenntnis zu nehmen, es anzuwenden, sich bewusst zu sein, dass es auch bei der Anwendung soziologischen Wissens Nebeneffekte gibt – und trotzdem weiterhin für Aufklärung zu kämpfen (aber eben nicht über die Köpfe der Leute hinweg).
Warum blogge ich das? Weil ich versuchen wollte, mein Unbehagen an der und meine ambivalente Position in der Homöopathie-Debatte irgendwie auf den Punkt zu bringen. Wer möchte, darf’s aber auch als schlichten Versuch lesen, die Existenz esoterischer Wissensbestände im grünen Programm zu rationalisieren.
* Die Homöopathie-Debatte hat auch einen innergrünen Aspekt – dazu habe ich vor einem Jahr was gebloggt; interessant ist vor allem die Debatte in den Kommentaren.
P.S.: Wer sich eher für Infrastrukturen als soziotechnische Netzwerke/Systeme denn für die Homöopathie-Debatte interessiert, sollte bei ihld weiterlesen.
„Insofern kann ich mir vorstellen, dass das Gesundheitssystem seine Leistung besser erbringt, wenn ein gewisses Maß – 5%, 10% – an Spielraum, an Redundantem, gar an Aberglauben vorhanden ist.“
Ich kann mir das nicht vorstellen. Im Gegenteil, ich bin mir sicher, dass der aktuelle Zustand gefährlich ist. Warum wird Homöopathie bezahlt, Wallfahrten aber nicht? Und sollte man nicht auch Stühlerücken bezahlen? Oder Kartenlegen?
Natürlich nicht.
Wissenschaft muss Vorfahrt haben. Alles andere ist blanker Wahnsinn.
Ich bin mir nicht sicher, ob du meinen Punkt verstanden hast. Und „Vorfahrt“ hat die Wissenschaft ja – 95% würde ich jedenfalls als „Vorfahrt“ betrachten.
Nichtdestotrotz die Gegenfrage: Warum genau ist der aktuelle Zustand gefährlich?
„Ich bin mir nicht sicher, ob du meinen Punkt verstanden hast.“
Weiß ich auch nicht, Dein Artikel ist ziemlich wirr. Jedenfalls hast Du meine Frage nicht beantwortet: warum werden meine Wallfahrten nach Taize nicht finanziert, Deine Zuckerkügelchen aber schon?
„Nichtdestotrotz die Gegenfrage: Warum genau ist der aktuelle Zustand gefährlich?“
Das erklärst Du dann dem kleinen Jungen, der an einer Lungenentzündung qualvoll sterben muss, weil sich seine Mutter gegen die böse Schulmedizin und für die gesunde Homöopathie entscheidet.
Dass der Text ein bisschen wirr geworden ist, damit hast du sicherlich recht – ist auch nicht als polierte Veröffentlichung gedacht, sondern als „rohes“ öffentliches Nachdenken.
Ich bleibe aber bei meiner Gegenfrage: Du argumentierst damit, dass es potenziell tödliche Krankheiten gibt, bei denen der Verzicht auf „Schulmedizin“ letztlich eine Art Körperverletzung oder schlimmeres ist. Das beantwortet allerdings meine Gegenfrage nicht (Weil ich nicht davon ausgehe, dass der status quo – manche Krankenkassen zahlen auch bestimmte homöopathische Behandlungen – auf dieses Beispiel zutrifft. Soll heißen: würde die fiktive Mutter in deinem Beispiel anders handeln, wenn ihre Krankenkasse das homöopatische Mittel gegen Lungenentzündug – so es dass denn gibt – nicht finanzieren würde?).
(Oder um es nochmal anders auf den Punkt zu bringen: wie viel medizinische Wahlfreiheit billigst du Eltern (als Laien und Laiinnen) zu?)
Ich bin mir auch nicht ganz so sicher, ob ich deinem Argument zustimmen möchte – aber gerade nicht, weil ich das „Ich will aber Globuli“ der Homöopatie-Freunde oder das „Alles Unsinn“ der Gegner für wiederholenswert halte.
Der Vergleich Bahn/Gesundheitssystem hat für mich einen kleinen Haken: die Spielräume für andere Wege, die in soziotechnischen Systemen notwendig eingebaut sind, sind ja nicht nur welche für Fehler, sondern welche für lokale, ungeplante Adaptionen. Sie sind es vor allem, die ein solches System weit stabiler machen als jede rigide Planung (siehe Suchmans „Plans and Situated Action“).
Ein Äquivalent im Gesundheitssystem wäre da ja eher ein Spielraum für im Katalog nicht berücksichtigte Leistungen, den Arzt und Patient lokal austesten können, nicht die Aufnahme nicht wissenschaftlich geprüfter Leistungen in den Katalog. Oder, um es mit Luhmann zu sagen: Unentschiedenheit müsste Entscheidungsprämisse sein.
@Jan-Hendrik: Danke – du bringst auf den Punkt, was ich mit meinem dahingerotzten Nachdenken eigentlich sagen wollte: es muss (notwendigerweise im Katalog ;-) …) einen Spielraum für im Katalog nicht berücksichtigte Leistungen geben. Und in diesen Spielraum darf dann meinetwegen auch die Homöopathie fallen – also nicht als ins Katalogschema gepresste und nicht recht hineinpassende Pseudowissenschaft, die dann irgendwie eben auch Nachweise erbringen muss, sondern als mögliche Füllung eines undefinierten, begrenzten, aber vorhandenen Handlungsspielraums.
Ich denke nicht dass es klug ist, wenn Politik sich am „Alltagswissen“ orientiert, wohl wissend, dass es nicht der wissenschaftlichen Evidenz entspricht – und üblicherweise tut sie das ja auch nicht: So wird ja gegen das „Alltagswissen“, dass Migranten wahlweise entweder krimineller oder arbeitsunwilliger als einheimische Mitbürger sind, ebenfalls mit Image- und Aufklärungskampagnen angegangen, anstatt zu sagen „Ja mei, die Leute denken halt so, da passen wir uns an“. Und was den medizinischen Bereich betrifft: Dass HIV nur Homosexuelle betrifft, war auch mal Teil des „Alltagswissens“ – und auch dagegen wurde mit Aufklärung angegangen.
Will sagen: „Alltagswissen“ empirischen Belegen zum Trotz als gegebene Größe zu betrachten und politische Entscheidungen daran auszurichten, anstatt zu einer Änderung eben diesen Wissens beizutragen, halte ich für einen Kardinalfehler. Auch zum Klimawandel oder zu AKWs gab und gibt es jede Menge falsches und der wissenschaftlichen Evidenz widersprechendes „Alltagswissen“, das ja von den Grünen auch nicht einfach so als gegeben akzeptiert wird – und warum sollte man da ausgerechnet im Gesundheitsbereich einen anderen Weg gehen…?
Christians Bemerkung, daß Wissenschaft Vorfahrt haben muß, stimme ich im Gesundheitssystem aus zwei Gründen zu:
1. Mittel sind endlich. Wir sollten uns daher auf das konzentrieren, was durch wissenschaftliche Methoden nachgewiesen Wirkung zeigt. Und da sind wir bei der Homöopathie noch lange nicht am Ende. Vielen selbst in der Schulmedizin anerkannte Methoden und Medikamenten fehlt es an einem gesicherten Wirkungsnachweis. Da müßte mal kräftig aufgeräumt werden. Jüngstes Beispiel ist das Antidepressivum Edronax, das seit 12 Jahren auf dem Markt ist und bei dem sich nun auf einmal herausgestellt hat, daß eine Wirkung nicht belegbar ist.
2. Und da sind wir beim zweiten Punkt: Mittel oder Methoden, deren Wirksamkeit nicht belegt ist, sind gefährlich. Nehmen wir wieder das Antidepressivum als Beispiel. Depressionen gehen in vielen Fällem mit Suizidalität einher. Wirkt ein Antidepressivum, das deswegen verordnet wird, nicht, kann das für Betroffene tödliche Folgen haben.
Was ich aber nicht verstehe, Christian, ist der Gegensatz, den du zwischen Wallfahrten u. ä. und „Wissenschaft“ aufmachst. Es gibt schlicht kein Thema, das per se unwissenschaftlich wäre. Auch die Behauptung, daß sowas wie Wallfahrten, Tischerücken usw. wirkt, kann, insofern sich falsifizierbare Hypothesen ableiten lassen, wissenschaftlich untersucht werden. Ich weiß das aus Erfahrung. Ich befasse mich seit über 10 Jahren mit dem Thema Parawissenschaften.
Klar: wenn wissenschaftlich bewiesen würde, dass Wallfahrten wirksam sind, dann wäre es vielleicht okay, sie von der Krankenkasse zahlen zu lassen; Kurfahrten werden ja auch teilweise gezahlt.
Nochmal zu zwei Punkten.
Der Bezug zum Alltagswissen (Christian R.): mir geht es nicht darum, Alltagswissen als alleiniges „Leitwissen“ für die Politik zu nehmen, sondern schlicht darum, dass es sehr schwierig ist, politische Projekte umzusetzen, die dem Alltagswissen der Menschen widersprechen. (Um das Beispiel AKWs aufzugreifen: erst die Popularisierung „gegen“-wissenschaftlichen Wissens durch die Umweltbewegung hat im Alltagswissen die Proposition „AKWs sind gefährlich“ verankert, und macht seitdem eine strikte „fortschrittliche“ Pro-AKW-Politik schwierig).
Zu Alex: mein Plädoyer ist es, zweigleisig zu fahren – und neben dem letztlich an normierten Varianten wissenschaftlichen Wissens orientiertem „Standard“ – der das Gros der Ressourcen bekommen soll – einen Raum für anderes (und begrenzte Ressourcen dafür) offenzulassen, um das System insgesamt fehlerfreundlicher zu machen. Die von Jan-Hendrik ins Spiel gebrachten lokalen Aushandlungsprozesse sind da vielleicht sogar noch ein besseres Beispiel als Homöopathie.
Auch wenn die Krankenkassen gerade das „Alltagswissen“-Argument gebracht haben, ist die Unterscheidung hier gar nicht die zentrale. Die Frage, um die es geht, ist auch nicht, ob nun Wallfahrten, Globuli, Ohrkerzen oder Aspirin wirksam sind und deshalb bezahlt werden sollen.
Die Frage, auf die Till – ich hoffe, ich verstehe dich da richtig – hingewiesen hat, ist: Muss man nicht im Gesundheitssystem wie in jedem anderen sozio-technischen System einen gewissen Spielraum an Unentschiedenheit einbauen, gerade um seine Stabilität zu stärken. Wir wissen ja aus der Forschung über andere sozio-technische Systeme, dass lokale Anpassungen, Aushandlungen, Umnutzungen etc. an der Tagesordnung sind und dass der Versuch ihrer Reglementierung eigentlich nie Stabilität, sondern nur noch mehr Umnutzungen hervorbringt.
Genau! Mit der kleinen Modifizierung, dass ich behaupten würde (das kommt dann aus der Arbeitswissenschaft), dass sozio-technische Systeme, die keine derartigen Spielräume haben, nicht nur an Stabilität verlieren, sondern auch ganz zusammenbrechen können, bzw. die Netzwerkeffekte kleinster Störungen das ganze System zum Stillstand bringen können.
Bei der Bahn ist offensichtlich, wie sich genau das in letzter Zeit mehrt.
Beim Gesundheitssystem wäre ein (fiktives) Beispiel für derartige sich ausbreitende Störungen eine nicht erkannte Pandemie, weil deren unspezifischen Symptome im Standard des Leistungskatalogs zu Fehlklassifizierungen führen und erst in Settings hoher Gesprächsintensität – die eben beispielsweise die homöopathische Anamnese bietet, obwohl es der gar nicht darum geht – als neuartig wahrgenommen werden.
Also der Nebeneffekt von Spielräumen, dass diese dazu führen, dass das System auf Unvorhergesehenes – nicht bekanntes Nichtwissen! – reagieren kann, ohne zusammenzubrechen.
Letztlich: resilienzorientiertes Systemdesign. (In dem Zusammenhang kann ich natürlich auch gleich noch drauf hinweisen, dass die Nachwuchsgruppe Umweltsoziologie am 16.–18.09. eine Tagung „Entscheidungen mit Umweltfolgen zwischen Freiheit und Zwang“ veranstaltet – das ist, abstrakt betrachtet, quasi die andere Seite der hier geführten Debatte).
Man kann ja immer über alles reden, aber mir scheint die Homöopathie-Debatte ein Scheingefecht. Schon heute zahlt nur ein Teil der Krankenkasse für Homöopathie. Und laut Spiegel online entfallen nur 0,06 Prozent der Gesamtausgaben für Arzneimittel auf homöopathische Präparate. Rund neun Millionen Euro für Homöopathie stünden mehr als 170 Milliarden Gesamtausgaben der Kassen gegenüber. Was einmal mehr belegt, dass man mit dem Hantieren von Zahlen (du spekulierst ja mit 1 bis 5% des Krankenkassenbudgets) sehr vorsichtig sein sollte. (Wobei ich natürlich auch nicht weiß, ob die Zahlen des Spiegel stimmen)
Bei der Frage der Unentschiedenheit stimme ich euch, Till und Jan-Hendrik, absolut zu. Aber Unentschiedenheit darf nicht zur Beliebigkeit werden. Da hat Christian das Problem schon richtig erfaßt. Was lasse ich noch zu? Wo ist die Grenze? Die ist doch je nach Weltanschauung fließend. Die einen finden Homöopathie noch ok, die anderen nicht mehr, während Dritte vielleicht Sogar Fernheilung oder Handauflegen drinhaben wollen. Wieviel Unentschiedenheit lasse ich denn zu? Nach welchen Kriterien wähle ich die unentschiedenen Verfahren, die ich noch zulassen will, aus?
Ich denke, auch hier helfen nur wissenschaftliche Kriterien. Eine paramedizinische Methode, deren Wirkung noch nicht hundertprozentig belegt ist, für die aber bereits einiges spricht, zuzulassen, halte ich in diesem Rahmen für absolut legitim. Ein Beispiel wäre die Akupunktur. Da gibt es wenigstens auch aus qualitativ brauchbaren Studien hinreichend Hinweise darauf, daß eine Wirksamkeit, auch gegenüber der Schein-Akupunktur, gegeben ist, so z. B. auch aus einer ganz aktuellen Studie aus Heidelberg. In diesem Falle fand ich die Übernahme durch die Krankenkassen schon immer ok. Hier haben wir es in der Tat mit Unentschiedenheit zu tun, über die man diskutieren kann.
Aber der Fall unterscheidet sich klar von dem der Homöopathie, wo sich eindeutig zeigen läßt, daß die wenigen positiven Ergebnisse negativ mit der Studienqualität korrelieren und zuverlässige Studien seit Jahren keinerlei Wirksamkeit gezeigt haben. Hier spricht alles dagegen, das von der Krankenkasse übernehmen zu lassen, auch in Form des von Jan-Hendrik vorgeschlagenen Modells. Denn von Unentschiedenheit kann hier wahrlich keine Rede mehr sein. Der Fall Homöopathie ist wissenschaftlich längst entschieden. Und zwar gegen selbige. Es kann m. E. nicht sein, daß angesichts dieses klaren Forschungsstandes noch öffentliche Gelder dafür verpulvert werden.
Auch der soziologisch und psychologisch sicherlich ernstzunehmende immer noch vorhandene Glaube vieler Menschen an die Wirksamkeit der Homöopathie ist kein Grund. Denn wenn man sich das mal vergleichend anschaut, glauben beispielsweise ähnlich viele Menschen an Geister. Mit welcher Begründung also verweigert man Menschen, die zu einem „Schamanen“ gehen, der behauptet, „böse Geister austreiben“ zu können, die Übernahme der Kosten durch die Kasse, während Homöopathie bezahlt wird? Der einzige Grund ist m. E., daß Homöopathie für die meisten Menschen in einem wissenschaftlicheren Gewand daherkommt. Aber das kann und darf kein Grund sein.
@Till: Ohne die durchaus spannenden Überlegungen zur Spielräumen bei sozio-technischen Systemen in Frage stellen zu wollen, würde ich noch gerne einen weiteren Aspekt ins Spiel bringen: die Vermittelbarkeit der Kosten. Da eine Krankenkasse letztendlich eine Solidargemeinschaft ist, muss den Mitgliedern jederzeit vermittelbar sein, warum und wofür die Mitgliedsbeiträge verwendet werden – und da hapert es eben bei der Homöopathie, insbesondere wenn man sich die zigfachen Negativ-Studien ansieht. Will sagen: Wenn jemand privat Geld für eine homöopathische Behandlung ausgeben möchte – kein Problem. Wenn aber die Kosten auf die Solidargemeinschaft umgelegt werden, dann muss auch ein nachweisbarer Nutzen erkennbar sein, ansonsten droht in der Tat die Beliebigkeit.
„Um das Beispiel AKWs aufzugreifen: erst die Popularisierung »gegen«-wissenschaftlichen Wissens durch die Umweltbewegung hat im Alltagswissen die Proposition »AKWs sind gefährlich« verankert, und macht seitdem eine strikte »fortschrittliche« Pro-AKW-Politik schwierig.“
Richtig. Warum sollte es dann aber keine Aufgabe (auch grüner) Politik sein, falsche Vorstellungen von der Wirksamkeit unwirksamer Medizinprodukte ebenso zu korrigieren, wie man auch falsche Vorstellungen von der Sicherheit von AKWs korrigiert hat? In beiden Fällen geht schließlich von den Fehlvorstellungen eine gesundheitliche Gefahr aus (die ist – zugegebenermaßen – bei AKWs ganz anders zu bewerten als bei der Homöopathie, es bleibt ja aber das von Christian S. angeführte Beispiel…).
Meines Erachtens ist diese ganze Debatte eine Nebelkerze und Scheindebatte.
- Die Gespräche von den Kassen nicht gezahlt. Nur die Medikamente werden teilweise von den Kassen gezahlt. Dabei handelt es sich allerdings um Zusatzleistungen, nicht um Regelleistungen. Wer also keine Homöopathie zahlen möchte, kann jederzeit die Kasse wechseln.
- Die tatsächlichen Kosten für die Homöopathie sind gering. Für rezeptfreie Arzneimittel wurden in dt. Apotheken im Jahr 2008 insgesamt 5,42 Mrd. Euro (Endverbraucherpreise) ausgegeben. Verordnete homöopathische Arzneimittel sind davon 2%, also 108,4 Mios (die anderen Medikamente sind nicht verordnet). Wieviel davon tatsächlich erstattet wurde, ist unbekannt, da nicht alle Kassen erstatten. => Das ist geradezu lächerlich.
Die Kosten für sämtliche Medikamente belaufen sich auf 39,6 Mrd. Euro.
Sämtliche Gesundheitskosten beliefen sich 2008 auf 263 Milliarden Euro.
Und hier wird so ein G’schiss wega den paar Scharlatanen gemacht. Das einzige was bedenklich ist, ist, wenn Kindern eine angemessene ärztliche Versorgung vorenthalten wird. Sonst nichts. Die Kosten sind nicht der Rede wert, da sind die Mehrkosten der Elbphilharmonie höher.
Das von Christian S. aufgeführte Beispiele finde ich im Kontext „Krankenkasse“ immer noch nicht sonderlich stichhaltig.
Zum Punkt Solidargemeinschaft: genau da wird es spannend, weil ich eben meine, dass es da – um den Preis von „Effizienzverlusten“ – eben notwendig ist, in einem begrenzten Umfang Ressourcen für nicht festgelegte Räume zu allozieren. Oben sagt jemand, dass es bei den Homöopathiekosten um 0,6 % des Budgets der Krankenkassen geht. Je nach Sichtweise ist das viel oder wenig. Für mich ist die Frage, was damit bezahlt wird – wenn dass die Zusatzkosten sind, um „Löcher“ im System offen zu halten, dann halte ich 0,6 % nicht für besonders teuer und für etwas, das durchaus auch im Sinne der Solidargemeinschaftsidee vertretbar ist.
(Nota bene: ich argumentiere hier gar nicht auf der Ebene der (fehlenden) Stichhaltigkeit von Homöopathie, sondern auf der Ebene damit verbundener Systemeffekte).
Flin, ich halte das nicht für eine Scheindebatte, sondern für eine dringend notwendige Debatte. Du stellst m. E. eine falsche Rechnung auf, wenn du ausrechnest, was allein für Homöopathie ausgegeben wurde. Nicht darin enthalten sind nämlich Folgekosten, die die Spätfolgen solcher Fehlbehandungen enthält. Denn eine Krankheit wird in der Regel nicht besser, wenn man sie falsch oder – wie in diesem Falle mangels Wirksamkeit – schlicht nicht behandelt.
Mir geht es aber dabei gar nicht primär um die Höhe der Kosten. Denn dabei entstehen dann nicht nur materielle Schäden, sondern es werden – viel schlimmer – mitunter Menschenleben auf’s Spiel gesetzt oder Menschen irreparabel geschädigt. Das Leid, das dadurch entsteht, läßt sich nicht in Geld bemessen. Mir geht es daher primär darum, daß wir Standards aufweichen, wenn wir zulassen, daß Methoden, deren Wirksamkeit nun über Jahrzehnte hinweg mit standardisierten wissenschaftlichen Methoden in keinster Weise belegt werden konnten, im System belassen. Das kann nicht zum Wohle der Patienten sein. Und das, Fin, ist nicht nur bei Kindern bedenklich. Wenn ein Erwachsener durch eine solche Fehlbehandlung stirbt oder irreparable Schäden erleidet, macht das die Sache nicht besser.
Fazit: Die von dir, Till, angestoßene Systemdebatte um nicht festgelegte Räume kann man m. E. zwingend erst dann führen, wenn sichergestellt ist, daß Methoden, die diese nicht festgelegten Räume füllen sollen, Mindeststandards erfüllen, die gewährleisten, daß niemand zu Schaden kommt. Das ist bei der Homöopathie m. E. nicht der Fall. Daher halte ich die Debatte in dem Fall nicht für zielführend.
Alex, damit wären wir dann aber in einer ganz anderen Debatte: nämlich in der, wie unkritisch bzw. kritisch „Schulmedizin“ zu betrachten ist. Meine persönliche Position ist dabei eher eine skeptische: eine relativ große Zahl an „Krankheiten“ sind keine, oder sind jedenfalls nicht so, dass eine „Behandlung“ jenseits von Hausmittelchen etc. notwendig wäre, auch wenn die Pharmaindustrie hier gerne anderes verbreitet. Und gerade hier spielt sich meiner Wahrnehmung nach ein großer Anteil der real existiertenden Homöopathie ab – ohne Folgekosten, Spätfolgen und Fehlbehandlungen.
An alle, die hier argumentieren, dass Homoöphatie nicht so große Kosten verursacht und deshalb ruhig von den Kassen bezahlt werden kann:
Fändet ihr es auch OK, wenn von Euren Steuergeldern Kreationismus-Biobücher gekauft werden?
Letztlich ist das eine ähnliche Sorte Pseudo- bzw. Anti-Wissenschaft, die in den letzten Jahren ebenfalls in Mode gekommen ist. Solche Anti-Wissenschaften florieren vermutlich aufgrund einer Legitimationskrise der klassischen Naturwissenschaften.
Was ist, wenn die Schüler selbst sagen, dass sie sich in einem „christlichen“ Bio-Unterricht wohler fühlen?
Wenn man vom Kostenstandpunkt argumentiert, könnte man höchstens sagen, dass ein Schüler, der kreationistischen Biounterricht vorzieht, höhere externe Kosten verursacht (weil er auf jeden Fall ein bestimmtes in der Arbeitswelt wertvolles Bio-Wissen nicht hat), während der mit Homöophatie behandelte Patient vielleicht sogar Kosten spart (wenn das konventionelle Medikament teurer gewesen wäre und nicht später doch noch eine konventionelle Behandlung erforderlich ist)
@Niklas:
Der Vergleich mit Kreationismus-Biologie-Unterricht/Büchern hinkt doch sehr.
Beim Schulunterricht wird ja gerade der Anspruch erhoben, die SchülerInnen ziemlich fundiertes Grundwissen beizubringen bzw. einzuflößen. Es ist ja gar nicht möglich, dass in dem sozio„technischen“ System Schule eine kleine Gruppe individuell heraussticht.
Viel naheliegender wäre es, den Vergleich zu den anthroposophischen Waldorrf-Schulen zu ziehen. Da wird es dann spätestens mit den Thesen/Gedanken von Till (die mich übrigens sehr erhellt haben) kritisch.
(Noch ein kleiner Nachtrag zum Thema der gesellschaftlichen Resonanzfähigkeit – im gestrigen Sonntag in Freiburg gab’s einen langen Artikel zum Thema Homöopathie – inkl. des Hinweises darauf, dass in der Schweiz ein Volksentscheid mit einer Mehrheit von 70% Homöopathie zur Kassenleistung (o.ä.) gemacht hat.)