Die 50. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen – gezählt seit dem Zusammenschluss beider Parteien 1993 – tagte an diesem Wochenende im schmucken Rhein Main Congress Centrum in Wiesbaden. Ich war als Delegierter für meinen Kreisverband dabei; als ich mich delegieren ließ, war die Welt noch eine andere. Bei der Aufstellung hatte ich ambivalente Gefühle – Freitag bin ich dann schon mit sehr viel mehr Zuversicht zum Parteitag gefahren.
Ausführlich lässt sich in Mastodon unter dem Hashtag #bdk24 nachlesen, wie dieser Parteitag gelaufen ist. Die Zuversicht hat sich als berechtigt erwiesen; der grüne Neustart ist gelungen.
Im Kern sind es vier Dinge, die wir auf dieser BDK gemacht haben:
- Dank und Wertschätzung
- Neuwahl des Bundesvorstands
- Start in den Wahlkampf mit dem #TeamRobert
- Beschlüsse zu aus der Parteibasis heraus gesetzten, inhaltlichen Themen
Dazu kommt noch Housekeeping, also so etwas wie die Wahl der Antragskommission oder der Rechnungsprüfungsbericht. Und auch das Networking und Familientreffen kam nicht zu kurz – am Rande des Parteitags im Foyer genauso wie bei der Parteitagsparty. Apropos: angeblich soll die bis vier Uhr nachts gegangen sein – ich bin nur bis kurz nach Mitternacht geblieben (und fand das schon grenzwertig). Was gerne übersehen wird: so ein Parteitag zieht sich ganz schön. Freitag ging‘s von 17.00 Uhr bis 0.30 Uhr, am Samstag war der offizielle Beginn um 9.30 Uhr und das Ende eben für manche erst am frühen Morgen, und Samstag wurde die Halle um 9.15 Uhr geöffnet und die letzte Rede um 14.15 Uhr gehalten. Aber: ist ja auch nett, sich in der stark wachsenden grünen Familie zu treffen. Rund 800 Delegierte waren da, nochmal eineinhalb mal so viele Gäste und Presseleute; ganz viele haben zudem im Stream zugeschaut. Und allein über das Parteitagswochenende sind wohl 2000 neue Mitglieder dazu gekommen, so dass es jetzt über 140.000 Grüne in Deutschland gibt. Wow!
Das hat was mit den oben genannten vier Dingen zu tun, insbesondere natürlich damit, dass wir mit Robert Habeck ein Angebot für alle machen, denen Scholz als Kanzler von gestern und Merz als Kandidat von vorgestern erscheint. Roberts Rede und überhaupt das ganze Setting am Sonntag war hervorragend. Annalena Baerbock stellte ihn vor, er hielt dann eine gut einstündige Rede, in der es neben Angriffen auf GroKo und deren Versäumnisse und anderen Passagen, die zu tosenden Beifallsstürmen einladen, auch nachdenkliche, fast schon philosophische Passagen gab. Das fand sich in der Kritik an einer Zeit, in der Polemik und Populismus jedes Gespräch verunmöglichen ebenso wieder wie in der authentischen Darlegung der Habeck‘schen Selbstzweifel aufgrund der Ampel-Performanz.
Kern der Rede war eine Herleitung grüner Programmatik aus einem intergenerationalen Freiheitsbegriff – Freiheit als Selbstbestimmung heute und morgen, die durch Klimakatastrophe und Erderwärmung, äußere Bedrohung und innere Spaltung unter Druck gerät und verteidigt werden muss. Gleichberechtigung spielte eine große Rolle, ein abwägender und immer humaner Umgang mit Zuwanderung – und, auch als Kampfansage, die Notwendigkeit von Investitionen in die Eindämmung der Erderwärmung und den Erhalt bröckelnder Infrastrukturen. Das ist nicht nur Wirtschaftsförderung und Unterstützung in der Transformation, sondern ebenso Voraussetzung für zukünftige Freiheit. Wie finanzieren? Im Zweifel über Schulden – ganz im Einklang mit den am Vorabend gefassten Beschlüssen zur Reform der Schuldenbremse -, lieber aber noch über eine Besteuerung der Ölkonzerne und der Superreichen.
An die Rede schloss sich noch ein Kreisgespräch mit ausgelosten Delegierten an, wie überhaupt das Miteinander-Reden – am vielzitierten Küchentisch ebenso wie in öffentlichen Räumen – ein zentrales Element der Habeck‘schen Methode ist. Für einen Parteitag war Gespräch statt Rede ein Innovationselement. Selbst wenn eine Spur Inszenierung mitschwingt: gerne mehr davon. (Apropos: es wurde in diesem Zusammenhang deutlich, dass er sehr genau weiß, dass X, TikTok und Insta kommerzielle Plattformen sind, deren Algorithmen an Geschäftsmodellen und Klickzahlmaximierung ausgerichtet sind – das ist wichtig als Hintergrund für die Entscheidung, diese Plattformen im Wahlkampf zu nutzen.)
Robert Habeck erhielt nicht nur kaum endende Beifallsstürme, sondern in geheimer Abstimmung – über den Antrag zur Aufstellung im Wahlkampf – auch eine Zustimmung von über 96 Prozent der Delegierten. Zu Recht. Und mit diesem Rückenwind kann ein Wahlkampf starten, in dem wir einen Kanzlerkandidaten nach vorne stellen. Mit zwölf Umfrageprozent mag die eine oder andere Stirn gerunzelt werden. Aber dabei muss es ja nicht bleiben in den nächsten 99 Tagen. Die SPD fängt an, an Scholz zu zweifeln. Ich bin gespannt auf die nächsten Umfragen. Und nehme eine große Bereitschaft im grünen Umfeld wahr, sich in diesen Wahlkampf zu stürzen.
Dazu ein Wahlprogramm vorzulegen, wird eines der Gesellenstücke des neu gewählten Vorstands. Abgestimmt werden soll über das dann wohl kürzer als sonst von uns Grüne gewohnt ausfallende Programm am 26. Januar auf einem eintägigen Präsenzparteitag. Ein Antrag, diesen digital abzuhalten und dafür mehr Zeit einzuräumen, fand keine Mehrheit.
Der neue Vorstand wurde mit guten bis sehr guten Ergebnissen gewählt. Es gab zu fast allen Posten mehr oder weniger seriöse Gegenkandidaturen (erstaunlich, was für ein Sendungsbewusstsein manche mitbringen), die aber nur eine sehr geringe Resonanz auslösten. Franziska Brantner, Felix Banaszak und die weiteren vier Vorstandsmitglieder haben damit einen großen Vertrauensvorschuss aus der Breite der Partei erhalten. Ich bin zuversichtlich, dass sie diesem gerecht werden. Alle Vorstände sind lange in der Partei verankert – Franziska kenne ich aus unserer gemeinsamen Zeit bei der damaligen Grün-Alternativen Jugend Mitte der 1990er Jahre, und alle bringen ein Verständnis dafür mit, dass wir als Partei nur gemeinsam Erfolg haben. Und Profis sind ebenso alle der Vorstandsmitglieder. Nicht nur nach innen, parteiorganisatorisch, sondern auch nach außen, im Kampf um öffentliche Wahrnehmung, sind wir da gut vertreten.
Mit den Neuwahlen gingen Verabschiedungen einher. Die Art und Weise, wie diese geschehen sind, haben sehr deutlich gemacht, dass ein wertschätzender Umgang miteinander inzwischen fester Teil unserer Parteikultur geworden ist – das war nicht immer so. Dass immer wieder ‚Danke‘ eingeblendet wurde, dass es Applaus nicht nur für Promis gab, sondern ebenso für Sicherheitspersonal und Präsidium, Geschäftsstelle und Antragskommission, Gebärdensprachdolmetscher*innen und Hallenteam – das zeichnet uns aus. Die Verabschiedungen der ausgeschiedenen Vorstände waren allesamt bewegend. Ganz besonders galt das für die der Politischen Geschäftsführerin Emily Büning, die deutlich machte, dass grüne politische Kultur eine andere ist als Alphaspielchen in Berliner Runden (und der wir einen großen Teil von Wachstum und Kulturwandel verdanken) und natürlich für Ricarda Lang. Diese wurde von Luisa Neubauer mit einer hervorragenden Rede verabschiedet. Sie selbst gab uns ein paar Gedanken dazu mit, wie wir es schaffen, eine Politik zu machen und eine politische Sprache zu finden, die nichts mit Sprechrobotern und Staubsaugervertretern zu tun hat. Das fand ich sehr wertvoll, die kluge Rede sehenswert.
Deutlich wurde jedenfalls: die Partei würdigt nicht nur, dass und wie durch den Rücktritt Verantwortung übernommen wurde. Sie hat auch sehr klar gemacht, dass diese Persönlichkeiten weiter gebraucht werden – im welcher Rolle das auch immer sein wird.
Verabschiedet wurden ebenfalls die aus dem EU-Parlament ausgeschiedenen Abgeordneten. Ska Keller und Reinhard Bütikofer wurden dabei besonders hervorgehoben. Reinhard revanchierte sich mit einem scharfsinnigen Blick auf die Parteigeschichte – nach frechem Aufmerksammachen, konstruktiver Mitarbeit an Lösungen und dem Angebot einer eigenständigen Führungsrolle sieht er unsere Aufgabe als Partei nun zusätzlich darin, Brücken zu bauen in die (globale) Zivilgesellschaft. Ebenso verabschiedet wurde Jürgen Trittin, und auch er zeigte in gewohnter Klarheit in einer großen analytischen Rede auf, wo wir stehen, und welche Herausforderungen auf uns zukommen werden.
Bleibt noch die inhaltliche Arbeit. Aus der Partei heraus waren über hundert V‑Anträge gestellt worden, zudem eine ganze Reihe von Dringlichkeitsanträgen. Aus den V‑Anträgen hatte die Parteibasis (bei allerdings recht geringer Beteiligung) im Vorfeld über ein Ranking die zehn wichtigsten Themen ausgewählt. Entsprechend befasste sich der Parteitag – erst spät abends – mit Verkehrswende und Klimageld, Desinformation und AfD-Verbot. Zu Migration wurde nach intensiverer Debatte (die vorliegenden 180 Änderungsanträge hatten allerdings noch deutlich mehr Streit vermuten lassen) einhellig ein geeinter Antrag beschlossen, ähnlich sah es bei den Themen Ukraine, Steuerreform und Reform der Schuldenbremse statt. Viele Änderungswünsche, viel davon im Vorfeld geeint – und einige wenige Abstimmungen.
Der Wunsch aus der Grünen Jugend, die Schuldenbremse nicht nur für Infrastruktur-Investitionen zu öffnen, sondern ganz abzuschaffen, wurde immerhin von rund einem Drittel der Delegierten geteilt. Die Mehrheit der nicht geeinten Anträge hatte allerdings etwas mit den Gegenkandidaturen zum Vorstand gemeinsam: eine sehr kleine und weitgehend schon von den letzten Parteitagen bekannte Gruppierung stellte ihre Sicht der Dinge da – und erntete maximal geringe Resonanz. Ich würde mich freuen, wenn diese Kleinstgruppierung etwas daraus lernt, befürchte aber, dass das nicht der Fall sein wird, und wir uns auch weiter mit V‑13–99‑3 und ähnlichem herumschlagen dürfen. Immerhin: für das Wahlprogramm wurden die Rechte der Antragskommission ausgeweitet; diese darf zu detaillierte oder thematisch sprengende Anträge zur Nichtbefassung vorschlagen.
In der Summe: ein gelungener Neustart, ein belebendes Treffen der grünen Familie, und ein Parteitag, der dem „Team Robert“ viel Rückenwind für den Sprint-Wahlkampf bis zum 23. Februar mitgibt.