Friedemann Karig, der mir bisher vor allem über den einen oder anderen prononcierten Tweet auf Mastodon aufgefallen war – ich bin nicht der große Podcast-Hörer, sonst wäre das sicher anders – hat vor ein paar Tagen das rund 180 Seiten umfassende Buch Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt veröffentlicht. Das Buch geht auf die Geschichte von Protesten ein, und legt einen besonderen Fokus auf die Aktionen der Letzten Generation. Es lässt sich geschmeidig weglesen – im Nachgang bin ich dann aber doch an drei Punkten hängengeblieben.
Erstens die Titelfrage, wie Proteste wirken. Wenn ich das richtig zusammenfasse, dann ist Karig eher skeptisch bezüglich quantitativen Ansätzen. Nicht jeder Protest, an dem 3,5 Prozent der Bevölkerung teilnehmen, war erfolgreich. Überhaupt stellt sich natürlich die Frage, was die Wirkung eines Protestes ist. In autoritären Regimen ist der Sturz der Regierung noch ein relativ klar umrissenes Erfolgskriterium. In Demokratien geht es darum, die politische Agenda zu verändern. Und das kann etwas sein, das sehr langen Atem braucht. Karig führt hier in Anlehnung an die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ die Idee einer „Ökologie der Aufmerksamkeit“ ein. Es geht nicht einfach um „mehr Aufmerksamkeit“, sondern darum, dass sich das richtige Narrativ durchsetzt.
Mit Narrativ meint Karig eine erzählerische Einheit, die politische Debatten strukturieren hilft, und die drei Elemente aufweist: „Wer ist Handelnder (Protagonist)? Wer ist Gegenspieler (Antagonist)? Welche Werte stehen auf dem Spiel?“ (S. 99). Daraus lässt sich dann ableiten, dass die beiden entscheidenden Fragen einer Ökologie der Aufmerksamkeit von Protesten folgende sind: „Welche Geschichte erzählt Protest über sich und seinen Gegenstand? Und: Wer sind in dieser Geschichte die Bösen?“ (S. 101).
Das ist, nebenbei bemerkt, nichts, was nur die politische Form Protest betrifft. Auch politisches Handeln von beispielsweise Parteien, aber ebenso von Lobbyorganisationen und Verbänden etc. etc. lässt sich auf diese Fragen zurückführen. Zumindest, seit im Politikmarketing überall Held:innenreisen, Storytelling und Narrative das Framing beherrschen.
Wichtiger Punkt dabei: um die Ökologie der Aufmerksamkeit zu verändern, muss Protest nicht gefallen. Jedenfalls nicht allen. Ein Protest, der nur gut ankommt, kann gar nichts bewirken. Vielmehr wirkt ein Protest dann, wenn er nach innen Bindewirkung erzielt und nach außen die Gegenseite in eine diskursive Zwickmühle, ein Dilemma, manövriert. Um letzteres zu bewirken, sind einige Voraussetzungen notwendig, die erfüllt sein müssen: „Das Wir der Protestierenden muss sozial anschlussfähig, eindeutig, kollektiv und handlungsmächtig erscheinen. Die verhandelte normative Ungerechtigkeit muss normativ eindeutig sein, gut gegen böse, schwarz gegen weiß. Der Wechsel zu diesem Wir muss Außenstehenden und Indifferenten langfristig in jeder Hinsicht […] günstiger erscheinen als das Beharren auf dem Die.“ (S. 108).
Strategisches Ziel eines Protests muss es demnach sein, zu erst einmal ein Thema auf die Agenda zu setzen, d.h. dafür zu sorgen, dass sich alle, auch Indifferente, überhaupt einmal dazu verhalten müssen. Dazu muss er die Verhältnisse irritieren, er muss in seinen zentralen Forderungen „inkompatibel mit dem Status quo“ (S. 119) sein. Karig spricht hier von einer „produktiven Frontstellung“: „Wer nicht für uns Protestierende ist, ist für das (nach all unseren Werkkategorien) eindeutig Falsche.“ (ebd.). Dann ändern sich Haltungen. Für „Säulen“ der Gesellschaft wie Medien, Kirchen, Wirtschaft, … wird das Verhalten zum Protestthema zu einer normativ aufgeladenen Frage, zumindest aber zu einem Kalkül – auf der „falschen“ Seite zu stehen, kann etwas kosten, kann Reputation beschädigen, kann wirtschaftlich schädlich sein usw.
Soweit, so einleuchtend: friedlicher Protest ist dann erfolgreich, wenn er es schafft, die Gesellschaft dazu zu bringen, sich zum Gegenstand des Protestes verhalten zu müssen, und zwar so, dass klar ist, was die „gute“ Seite ist.
Karig geht dann ausführlich auf die strategischen Überlegungen der Letzten Generation ein und auch auf die Frage, wie weit ziviler Ungehorsam gehen kann. Der wunde Punkt bei deren Strategie ist, ob Aktionen wie das Bewerfen von Glasscheiben vor Kunstwerken, das Festkleben auf Straßen oder die Blockade von Privatflughäfen im Sinne der aufmerksamkeitsökologischen Überlegungen zielführend sind. Sie tragen auf jeden Fall dazu bei, dass über Protest berichtet wird, dass Protest sich nicht ignorieren lässt. Insoweit sind sie zielführend.
Gleichzeitig lassen sie diese Aktionen aber leicht als „Gewalt“ framen – und bieten damit, „denjenigen, die als Antagonist:innen in das ethische Narrativ gezwungen werden sollen, einen leichten Ausweg aus dem Dilemma“ (S. 129). Aus dem Klimaschutznarrativ wird ein Narrativ der Aufrechterhaltung der guten Ordnung, das eigentlich Thema der Proteste verschwindet von der Agenda. Karig mag sich nicht wirklich festlegen. Trotz einiger Ausführungen zum Wert radikalerer Flanken (die dann den „gemäßigteren“ Protest akzeptabler und anschlussfähiger erscheinen lassen) lese ich aber doch eher aufmerksamkeitsökologisch begründete Skepsis gegenüber Protestformen, die eine Narrativverschiebung in die falsche Richtung zu einfach machen.
Der zweite Punkt, an dem Karigs Buch bei mir nachgewirkt hat – auch, weil mir ähnliches spätestens seit „Pegida“ durch den Kopf geht, lässt sich auf den Punkt bringen, dass auch „Protestierende auf der rechten Seite […] die entsprechenden Vorbilder studieren, Bücher wir das von Gene Sharp über zivilen Ungehorsam lesen und Reden anhören“ (S. 140).
Vor kurzem hatte ich mal wieder das Handbuch der Kommunikationsguerilla aus den 1990er Jahren in der Hand. Ich erinnere mich noch gut daran, wie cool ich das damals als politisch aktiver Mensch fand. Lustige, subversive Aktionen, um den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen und den Gang der Dinge zu stören, yeah!
Heute fühlt sich das Buch anders an. Und das liegt eben auch daran, dass deutlich geworden ist, dass „Identitäre“ und andere rechte Bewegungen lesen können und sich diese kommunikativen Strategien – von Gramsci bis Blissett – längst zu eigen gemacht haben.
Insofern hat es mich gefreut, dass Karig diese Entwicklung nicht ausblendet, wie es ja in Büchern aus der linken bis zivilgesellschaftlichen Ecke gerne gemacht wird, sondern sich auch intensiv mit Protesten von „rechts“ befasst, und der Frage nachgeht, warum ein paar tausend Trecker so viel schneller wahrgenommen werden als hunderttausende Klima-Demonstrant:innen.
Karig betont, dass es einen zentralen Unterschied zwischen „linken“ pluralistischen und „rechten“ populistischen Protesten gibt. Erstere wollen demokratische Institutionen in ihrem Sinne beeinflussen und setzen auf Pluralität und die Unterstützung von beispielsweise Wissenschaft und Kunst – letztere wollen demokratische Institutionen delegitimierten, sehen Pluralität als Gefahr und stellen auf „wir da unten“ gegen „die da oben“ ab. Es gibt einen gewaltigen qualitativen Unterschied zwischen dem Versuch, Ölkonzerne zu Antagonisten zu erklären, und dem Versuch, bestimmte Bevölkerungsteile – nach Herkunft, Geschlecht, … – auszugrenzen und zu antagonisieren!
Anhand dieser Unterscheidung kommt Karig zu der normativen Feststellung, dass Universalismus Protesten gegenüber falsch wäre. Das heißt: „Ziviler Ungehorsam und disruptiver Protest sind nur legitim, solange sie die demokratisch gewählte Regierung als Adressaten haben und deren grundsätzliche Souveränität akzeptieren.“ (S. 143). Ich kann das unterschreiben, bin mir aber beim Blick auf den antikapitalistischen Pol beispielsweise der Klimabewegung (oder die an einigen Ecken wieder aufkeimende, neue Solidarität einiger linker Bewegungen mit der RAF) nicht sicher, ob eine solche Abgrenzung in diesen Bewegungen allgemein geteilt wird.
In diesem Zusammenhang weist Karig zu Recht auch darauf hin, dass rechtspopulistische Proteste einen Effekt haben. Mindestens führen sie dazu, dass die liberale Öffentlichkeit sich damit beschäftigen muss, „auch wenn diese Beschäftigung von den eigentlich zu bearbeitenden politischen Problemen eher ablenkt und die zersetzenden Kräfte eher noch stärkt.“ (S. 142).
Da ist es dann kein Wunder, dass staatliche Akteure wie Russland gerne dazu beitragen, rechtspopulistische Bewegungen und Parteien zu unterstützen.
Wir müssen etwas tun! Trotzdem bleibt auch in Karigs Buch, drittens, eine gewisse Ratlosigkeit zu spüren, wenn es darum geht, wie dieses Tun tatsächlich aussehen kann. Ähnlich fühlte es sich beim Demokratiebarcamp an – viele, die etwas tun wollen, die auf keinen Fall zusehen wollen, wie AfD und andere die politische Agenda bestimmen; im Konkreten dann aber nur wenig an Handlungsoptionen.
Karig sieht hier eine „erlernte Hilflosigkeit“ am Werk – es geht uns (noch) zu gut, und zugleich haben wir verlernt, uns als politische Wesen in einer Demokratie zu begreifen. „Das ganze Unglück der Menschheit rührt daher, dass sie zu ruhig in einem Zimmer bleiben.“ (S. 163). Demgegenüber stellt er das Bild einer neuen Normalität, in der die allermeisten Menschen aktiv für etwas wirken. Ein narrativ verdichtender Protest, eine Erzählung des Dafür-Dagegen kann dazu beitragen: durch das Schaffen eines „hoffnungsvollen Gruppenbewusstseins“ (S. 162) ebenso wie dadurch, dass ein Verständnis dafür entsteht, was die „wirklich gerechte Sache“ (S. 163) ist, für die man protestiert.
Das ist eine schöne Vorstellung. Und es lässt sich nur unterstreichen, dass es richtig ist, dass zu einer lebendigen Demokratie gehört, für etwas zu streiten, egal wie finster die Umstände sein mögen. Und ja, Karig hat recht: das muss gelernt und sollte normalisiert werden.
Ich würde hier – da bin ich dann doch zu sehr Parteimitglied – allerdings davor warnen, sich alleine auf Protest zu fokussieren. Das ist nicht die einzige Form, etwas zu bewirken. Demokratie findet nicht nur auf der Straße statt. Bürgerbeteiligung kann mehr sein als Wählen. Und die demokratischen Institutionen mögen mühsam und fern erscheinen: sie existieren, und sie sind eben nicht nur Adressat:innen des Protests, sondern stehen auch zur direkten Mitgestaltung offen. Hier würde ich also weiter denken im Plädoyer, demokratische Teilhabe zu normalisieren. Protest ist ein Weg, ein Instrument der Veränderung – aber eben nicht der einzige.
Gleichzeitig tue ich mich schwer damit, als Antwort auf den von Karig diagnostizierten Zustand (der auf das Paradox zurückgeführt wird, dass heute alles politisiert sein kann, bis hin zu einzelnen Konsumentscheidungen, und damit dann letztlich nichts politisch ist) nur nach politischer Bildung, mehr Beteiligung und „bringt euch ein“ zu rufen. Das blendet für mich eine Mitverantwortung von Parteien, Parlamenten, aber auch von Medien und anderen Akteur:innen der Öffentlichkeit aus. Ja: all diese Akteur:innen haben eine über ihr Tagesgeschäft hinausreichende Verantwortung dafür, unsere liberale Demokratie zu erhalten. Alleine kriegen das nämlich nicht hin.