Ich hatte ja aufgeschrieben, dass ich durchaus mit Sorge auf den grünen Bundesparteitag schaue. Nach vier Parteitagstagen (bei mir: drei im Stream, einer vor Ort) stelle ich fest, dass wir Grüne lebendiger sind, als manche das gerne hätten. Ich würde mich freuen, wenn ein bisschen von dem – zuweilen auch trotzigen – Aufbruchsgeist und Mut, den diese vier Tage ausgestrahlt haben, in die nächsten Wochen und Monate hineinwirken würde. Denn Koordination und Zusammenhalt, gemeinsames Streiten um die Sache und gemeinsames Hinstehen für das Erreichte, das bleibt dringend angesagt.
Die ganz großen Überraschungen sind ausgeblieben. Die Bundesvorsitzenden und der (bis auf den Schatzmeister) gleich gebliebene Bundesvorstand wurden mit guten bis sehr guten Ergebnissen bestätigt, die Europaliste mit Spitzenkandidatin Terry Reintke ist jünger, weiblicher und linker geworden. Was leider nicht gut gelungen ist: Leute mit fachlicher Expertise, aber ohne intensive Partei-Einbindung auf die Liste zu bringen. Das war mal eine grüne Stärke, inzwischen kopieren es andere, und bei uns sieht es diesbezüglich eher mau aus. Gleichwohl: auf der jetzt gewählten Liste sind sehr starke Kandidat*innen, und es ist immer wieder erfreulich, zu sehen, wie vielfältig und herausragend unsere Leute sind.
Neben den Wahlen – gewählt wurde auch noch das Schiedsgericht und der Parteirat – waren die vier Parteitagstage vor allem mit inhaltlichen Debatten gefüllt. Fast noch wichtiger als die beschlossenen Texte (zu Frieden im nahen Osten und zur Solidarität mit Israel, zu Migration – und, über alle Themen greifend, das Europawahlprogramm) wirkten auf mich dabei diesmal einige der Reden. In Erinnerung bleiben mir die Beiträge von Omid Nouripour und Robert Habeck in der Aussprache, die sehr differenzierte und zugleich emotionale Rede von Annalena Baerbock zu den Graustufen der Situation in Israel, die Einbringungsrede von Ricarda Lang für einen Europawahlprogrammteil und selbstverständlich die zahlreichen herausgehobenen Gastredner*innen.
Persönlichkeit schlägt Programm. Trotzdem bleiben wir Programmpartei mit entsprechender Debattendichte. Bei rund 1500 Anträgen im Vorfeld hat die Antragskommission ganze Arbeit geleistet und durch viele Übernahmen und Kompromisse am Schluss nur wenige strittige Abstimmungen offen gelassen. Diese gingen dann ganz überwiegend mit großer Mehrheit für den Bundesvorstand aus. Die einzige deutlich Ausnahme war die Abstimmung zu Mercosur. Hier setzten die Delegierten durch, dass für dieses Abkommen härtere Regeln gelten sollen als bisher vorgesehen, um Klimaschutz und Menschenrechte zu berücksichtigen.
In medialer Erinnerung bleiben wird dieser Parteitag allerdings vermutlich aufgrund des Samstagabends. Da fand die Aussprache und Abstimmung zum Thema Migration ab. Auch hier hatte es im Vorfeld zahlreiche Änderungsanträge zum Dringlichkeitsantrag des Bundesvorstands gegeben, der durch Übernahmen etc. deutlich „grüner“ wurde. Migration war in sehr vielen Reden auch an anderen Stellen des Parteitags Migration immer wieder ein Thema war – bei Winfried Kretschmann, der Donnerstagabend für sein Vorgehen warb, Sonntag in der Programmdebatte mit einer Gastrede eines aus Seenot geretteten Geflüchteten, und auch beispielsweise in der Bewerbung von Omid Nouripour („Wer Menschen aus Seenot rettet, sollte nicht kriminalisiert werden, sondern einen Orden erhalten.“). Unterm Strich ist und bleibt der grüne Kompass an Humanität und Menschlichkeit ausgerichtet. „Ordnung“, die zweite Vokabel in diesem Diskurs, ist im Vergleich dazu viel interpretationsoffener. Die einen meinen damit geregelte Verfahren und eine schnelle Entscheidung über Asylanträge, andere nehmen, wenn sie von Ordnung sprechen, Anleihen bei der CSU und denken an Überforderung und Obergrenzen.
Am Samstagabend jedenfalls ging es heiß her. Insbesondere der Grünen Jugend gingen die Kompromissformulierungen im Bundesvorstandsantrag nicht weit genug bzw. zu weit. Die Stimmung: volatil. Fast alle Parteigrößen warben noch einmal dafür, Vertrauen in die grünen Regierungsmitglieder zu haben und diesen Verhandlungsspielräume zu lassen. Der Negativkatalog der Grünen Jugend wurde als Misstrauensvotum in die Ampel dargestellt und überinterpretiert. Aus der Abstimmung über mehr oder weniger Pragmatismus in der Migrationspolitik wurde damit eine über den Verbleib in der Bundesregierung. Der Antrag des Bundesvorstands erhielt schließlich (auch nach Werbung dafür in beiden Flügeln der Partei) eine deutliche Mehrheit. Ich kann aber die in der Presse geäußerte Vermutung teilen, dass hier keine inhaltliche Befriedung der Partei, kein echter Kompromiss gefunden wurde, sondern dass es sich – um bei militaristischen Bildern zu bleiben – eher um eine Art Waffenstillstand handelt. Regierungsseitig dürfte deutlich geworden sein, dass die Partei durchaus rote Linien kennt – und gleichzeitig haben Annalena Baerbock und die anderen grünen Verhandler*innen formal jetzt die Unterstützung des Parteitags für ihre Linie in den Verhandlungen um Migration und Asyl. Knackpunkte in den nächsten Wochen dürfte beispielsweise die Frage sein, ob die Kriminalisierung der Seenotrettung, wie von Nancy Faesers Haus vorgeschlagen, weiter in den Novellen der Asylgesetze zu finden sein wird – oder ob es gelingt, diesen und andere Punkte zu streichen und grüne Akzente zu setzen.
Ich hatte in meinem Beitrag vor dem Parteitag gefragt, ob es zu einer Neuerfindung der Partei, zu einer weiteren Häutung kommt (wie dies etwa mit dem Bielefelder Sonderparteitag 1999 oder mit der Wahl von Robert Habeck und Annalena Baerbock 2018 der Fall war). Geschlossenheit, Mut, trotzige Selbstbehauptung, auch – in der einen oder anderen Rede – Ansätze von Selbstkritik und Zweifel. All das war in Karlsruhe zu finden (nach dem Gründungsparteitag 1980 und nach dem 20-jährigen Jubiläumsparteitag 2000 übrigens das dritte Mal an diesem Ort). Es gab Verschiebungen der Programmatik (bei CCS, und natürlich beim Thema Asyl). Wenn es eine Botschaft gab, dann war diese eher „wir machen weiter – jetzt erst recht“ als das Parteitagsmotto „Machen, was zählt“.
Ob das dem aktuellen politischen Alltag angemessen ist, werden wir sehen. Ein wenig wirkte es so, als läge in der Holzbauhalle der Karlsruher Messe ein ganz anderes Land, und als würden die tagespolitischen Verwerfungen hier nur stark gefiltert aufschlagen. Gleichzeitig betonte insbesondere Robert Habeck, dass wir Politik für die Wirklichkeit machen. Das ist richtig, und das war – samt Angriff auf die CDU – hervorragend ausgeführt. Ob es über den Moment hinaus wirkt, ob Delegierte und Gäste das mit in die Kommunalwahlen und das politische Wirken nehmen? Im Zweifel ist das Selbstbewusstsein, schon auf der richtigen Seite zu stehen, dann vermutlich doch stärker.
Insofern ein durchwachsenes Fazit – durchaus ein Parteitag mit Motivationselementen, und auch das ist ja in diesen Zeiten wichtig, und einer, der zeigt, dass wir gute Leute haben, dass wir die aktuellen Fragen diskutieren. Aber ein, zwei Schritte weiterzugehen wäre möglich gewesen. Und: vier Tage Parteitag sind, auch wenn’s etwas nachzuholen gab, definitiv zu lang. Das hat sich dann auch in der Berichterstattung niedergeschlagen.
Dass die konservative Presse sich vor allem mit dem Catering (aus meiner Sicht okay), Pizzalieferungen, Pfandrückgabeschlangen und der Kaffeeversorgung beschäftigte, während von links moralisch der Verrat an den bisherigen Idealen hochgezogen und die neue Bewegungspartei „LINKE“ hochgeschrieben wurde, passt dann irgendwie auch zu diesem Parteitag. Denn es gab keinen großen Knall, sondern solide Debatten; kein Abstrafen der eigenen Leute, sondern ein Versammeln hinter Robert Habeck und Annalena Baerbock, hinter Ricarda Lang und Omid Nouripour; keine Sektiererei, sondern ein Zusammenkommen eines breiten, liberal-intellektuell-ökologischen Milieus. Und all diese Optionen haben natürlich weniger Nachrichtenwert als Aufstand, Knall und Zerstrittenheit.