Am Freitag und Samstag fand – mit Sitzungen bis in die Nacht – die 47. Bundesdelegiertenversammlung von Bündnis 90/Die Grünen statt, also unser Bundesparteitag. Im Mittelpunkt – auch der medialen Aufmerksamkeit – standen dabei die Neuwahlen des sechsköpfigen Bundesvorstands (mit Ricarda Lang und Omid Nouripour als neuen Vorsitzenden) und des Parteirats – also in etwa das, was in anderen Parteien „Präsidium“ heißt. Großen Raum nahmen daneben Satzungsänderungen sowie eine mehrstündige Aktuelle Debatte samt Verabschiedung der scheidenden Bundesvorstandsmitglieder (Annalena Baerbock, Robert Habeck, Jamila Schäfer und Michael Kellner) ein. In der Aktuellen Debatte ging es – nach einer letzten gemeinsamen Rede von Annalena und Robert – immer wieder um die Ukraine-Krise und die Haltung der Bundesregierung dazu, um die EU-Taxonomie (dazu wurde auch ein Antrag verabschiedet), aber auch um Erwartungen an die grüne Regierungsbeteiligung und um den Koalitionsvertrag.
Deutlicher Unterton: jetzt beginnt eine neue Ära. Die Häutung und Neuaufstellung der Partei, die so etwa 2015 begonnen hat, und an der Micha einen großen Anteil hat, zu der ein neues Grundsatzprogramm gehört und die mit der Wahl von Robert und Annalena 2018 dann in den Booster-Modus der Veränderung schaltete, ist zunächst einmal erfolgreich abgeschlossen. Wir sind mit 125.000 Mitgliedern keine kleine Partei mehr. Wir regieren – endlich wieder – mit. Und wir verstehen uns – Ministerpräsident Kretschmann tadelte das – nicht als „Milieupartei“, sondern als Bündnispartei, die kapiert hat, dass die notwendigen großen Veränderungen nur gemeinsam mit der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft erreichbar sind. Das alles gehört zur neuen Realität von Bündnis 90/Die Grünen – und das alles wird auch die Wahlkämpfe in diesem Jahr (Saarland, NRW, Schleswig-Holstein, Niedersachen) bestimmen.
Damit ist dann auch schon die Aufgabe des neuen Bundesvorstands umrissen: auf diesen Grundlagen aufzubauen und zu definieren, was Partei – als Treiber und Motor – in einer Regierung bedeutet. Nicht im Zurück zu zugespitzten Kernforderungen! Ein Gegenkandidat zu Omid vertrat diesen Kurs und erhielt dafür satte 17 von rd. 700 Stimmen, und auch die Abstimmungsergebnisse bei den inhaltlichen Anträgen und beim krachend gescheiterten Versuch, zur vollständigen Trennung von Amt und Mandat zurückzukehren, zeigten deutlich, dass der neue grüne Kurs breit mitgetragen wird. Vielmehr: in einer konstruktiven Rollenverteilung, zu der eben auch gehört, deutlich zu machen, wo wir noch mehr wollen – und gleichzeitig immer wieder, nach innen gerichtet, die Grenzen des Möglichen zu vermitteln. Grenzen erweitern und kommunizieren, Erwartungsmanagement betreiben, sich aber nicht als Servicestelle der Regierung zu verstehen – und das in einer Partei, die immer noch Beteiligung und Basisdemokratie groß schreibt (s.u.): das wird für Ricarda und Omid nicht einfach. Die notwendige Unterstützung der Partei dafür haben die beiden, und als Bundesvorstand insgesamt steht da ein Team, dem ich einiges zutraue.
Das wird auch notwendig, denn eine Frage wurde auf der BDK nicht beantwortet: die nach dem künftigen Machtzentrum und der künftigen Koordination des Handelns von Grünen in Landesregierungen und Bundesregierung, in der Partei und im europäischen Parlament, in den Fraktionen und – nicht zuletzt – in den sozialen Bewegungen, die ebenfalls Druck machen werden. Der Parteirat bildet vielfältige Ebenen und Strömungen der Partei ab, aber er wird nicht die Rolle dieses Koordinationszentrums einnehmen können. Dazu sind zu viele Akteure nicht mit am Tisch.
Ach ja, fast schon Normalität: das ganze war erneut ein digitaler Parteitag auf der Plattform bdk.gruene.de, im Velodrom in Berlin waren nur die Technik, Journalist*innen und die Parteispitze. Umso wichtiger die Nebenbei-Diskussionen, u.a. auf Twitter (#dbdk22), und auf den diversen innerparteilichen Chat-Kanälen, Kreisverbands-Whatsapp-Gruppen und so weiter. Für einen digitalen Parteitag erstaunlich: dadurch, vielleicht auch durch die lange Sitzungszeit – wie bei uns üblich ohne Pausen – und den einen oder anderen Geschäftsordnungsantrag entstand fast schon das Gefühl eines „normalen“ Hallenparteitags.
Ich hatte meine Follower gebeten, mir Fragen für diesen Text zuzuwerfen:
Wer war verantwortlich für die Auswahl an Musikstücke zum „Abschied des jeweiligen Vorstandsmitglied“?
Keine Ahnung – die Auswahl war jedenfalls durchaus interessant („Westerland“ …). Teilweise grenzwertig dagegen fand ich die Warteschleifenmusik, die immer dann zum Einsatz kam, wenn das Überbrückungsmoderationsduo Marco und Ninia nicht dran war, und auf Ergebniseinblendungen und ähnliches gewartet wurde. Eine Party gab es nicht, aber viele Versprechen (Annalena: letzte Amtshandlung als scheidende Vorsitzende – Omid: auf jeden Fall!), dass die Parteitagsparty im Herbst 2022 die größte, beste und schönste überhaupt werden wird.
Stichwort Musik: die Verabschiedung von Annalena durch Claudia Roth war nicht nur einer der emotionalen Höhepunkte des Parteitags, sondern auch ein Stück Poetry Slam der Bundeskulturstaatsministerin. Ich habe nicht jedes Pop-Zitat erkannt, dafür waren das einfach zu viele. (Leider gibt’s davon – noch? – kein Video auf der grünen Youtube-Playlist).
Welche Pflanzentipps hast du von der BDK mitgenommen? Wo stelle ich die ganzen vermehrten Sukkulenten hin?
Wer jetzt „hä?“ denkt – ein größerer Teil der immer mal wieder notwendigen Pausenüberbrückung durch Ninia und Marco bestand in Zimmerpflanzentipps. Passend dazu haben alle Delegierten des Parteitags (ich diesmal leider nicht …) ein Giveaway-Paket erhalten, in dem u.a. Samentütchen (Schnittlauch, Petersilie und – hochkontrovers – Koriander) enthalten waren. Wer wollte, konnte also einiges lernen über Zimmergärten, Aloe Vera, die Vermehrung von Sukkulenten (Trieb mit einem sauberen Messer abschneiden und wurzeln lassen) und überhaupt alles andere, was mit „Wurzeln für die Zukunft“ (Parteitagsmotto) zu tun hatte.
Und de Frage, wohin damit, die kann ich leider auch nicht beantworten. Meine Fensterbank ist leider schon voll …
Sind Abstimmungen bis nachts um 1.15 Uhr zumutbar, wenn ein Ende um 22 Uhr angekündigt war? Gab es wenigstens einen Nachtzuschlag?
Das war auch aus meiner Sicht ein Wagnis. Getagt werden sollte laut Programm von Freitag 17.00 bis 22.00 Uhr und Samstag von 9.00 bis 22.00 Uhr. Faktisch dauerte es dann Freitag bis spät in die Nacht und auch Samstag zog der Parteitag sich bis 23.00 Uhr. Es gab einige Punkte, die dazu beigetragen haben – die Tatsache, dass digitale Abstimmungen langwieriger sind, die eine oder andere überraschende Kandidatur, Geschäftsordnungsdebatten (und gut gemeinte Verbesserungsvorschläge, grüne Spezialität) Samstagnacht, aber eben auch eine mit 36 Redebeiträgen sehr umfangreiche Aussprache zur Aktuellen Debatte und neben der Pausenüberbrückung immer wieder auch Einspieler und Zusatzaktionen, über deren Sinnhaftigkeit sich streiten ließ.
Ehrlicher wäre es vermutlich gewesen, den Parteitag von vorneherein bis Sonntagmittag anzusetzen. Und eine Begrenzung der Sitzungszeit wäre durchaus sinnvoll.
Dennoch: mir ist es lieber, es gibt lebhafte Debatten und spontane Kandidaturen als – siehe CDU – Aussprachen, bei denen sich niemand meldet. Das zeichnet eine lebendige Partei aus.
Deine Analyse darüber, was die Satzungsänderungen für die Arbeit in den Kreis- und Landesverbänden konkret bedeutet. Was bedeuten 0,1% genau, für Anträge?
Wie angesprochen, bestand ein großer Teil des Parteitags aus Satzungsdebatten. Nicht alles, was dabei vorgeschlagen wurde, wurde auch umgesetzt bzw. bekam die notwendige 2/3‑Mehrheit – das betrifft insbesondere auch die Versuche des Bundesvorstands, das Quorum für Anträge stark zu erhöhen und das Antragsrecht für Ortsverbände zu streichen. In einem mehrstufigen Prozess wurde dieses Quorum jetzt auf 50 Antragsteller*innen erhöht, bisher waren 20 Personen notwendig. Ob das wirklich dazu beiträgt, die sehr große Zahl an Anträgen zu reduzieren, werden wir sehen. Ich befürchte, dass einige Dauerantragsteller[*innen] sich davon nicht abhalten lassen und ihre Unterstützer*innen trotzdem finden. In dem Zusammenhang wurde auch darüber diskutiert – aber noch nichts dazu beschlossen – die Vorphase der Antragstellung zu verbessern. Bisher werden Anträge über die Plattform Antragsgruen eingereicht und können dort auch kommentiert werden. Das funktioniert soweit auch gut. Sichtbar sind Anträge allerdings erst, wenn das Quorum erreicht ist – eine „Börse“ für noch nicht finalisierte Anträge gibt es bisher nicht.
Die Antragskommission wurde vergrößert.
Zudem wurden in der Satzung einige Professionalisierungsschritte beschlossen, etwa im Hinblick auf die Arbeit des Schiedsgericht und auf den Datenschutz.
Und, nicht unwichtig: das Grundsatzprogramm wurde als Wertehorizont der Partei in der Satzung verankert und löst dort den „Grundkonsens“ ab.
Insgesamt glaube ich nicht, dass sich durch die Satzungsänderungen hier groß etwas im Parteileben ändern wird. Wir bleiben eine Partei, die gerne Anträge stellt und berät und Antragskommissionen an den Rand der Verzweiflung treibt. Wichtigere Ansatzpunkte sehe ich im „capacity building“, also beispielsweise in Schulungen zum Antragstellungen, in redaktionellem Support der Geschäftsstelle und ähnlichem.
Sollten wir nicht dauerhaft digitale/hybride Parteitage machen?
Auch zum Thema digitale Versammlungen gab es eine Satzungsänderung. Damit sind diese jetzt in der Satzung verankert (bisher finden digitale Parteitage auf Grundlage einer Ausnahmeregelung zum Parteiengesetz statt). Es zeigen sich hier aber auch die Grenzen der Satzungshoheit der Partei: jenseits der Pandemie sind beschließende digitale Versammlungen rechtlich schwierig, auch jetzt müssen alle Ergebnisse noch einmal per Briefwahl bestätigt werden.
Ob generelle hybride Parteitage besser wären: das ist ein längeres Thema – schreibe ich nochmal extra was dazu.