Warum es sich lohnen könnte, dafür zu kämpfen, Politik an wissenschaftlichen Fakten auszurichten

Die Stär­ke der neu­en Kli­ma­be­we­gung kann aus zwei Ursa­chen abge­lei­tet wer­den. Das eine ist sicher­lich die zuneh­men­de Sicht­bar­keit und damit Dring­lich­keit des Kli­ma­wan­dels. Das ande­re ist, dass wir es hier mit wohl mit der ers­ten Bewe­gung zu tun haben, die Hand­lungs­be­darf schlicht aus Phy­sik ablei­tet. Es sind kei­ne theo­re­ti­schen Über­le­gun­gen, kein revo­lu­tio­nä­rer Über­bau, es ist schlicht die gut erforsch­te Wir­kung der Treib­haus­ga­se in der Atmo­sphä­re mit allen Kon­se­quen­zen für das Kli­ma­sys­tem, die hier zum poli­ti­schen Impuls ver­dich­tet wor­den sind. 

(Natur-)wissenschaftliche Wahr­heit als Grund­la­ge einer poli­ti­schen Bewe­gung – das ist neu. Übri­gens auch im Ver­gleich zu der bloß behaup­te­ten Wis­sen­schaft­lich­keit des Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, bei dem im Kern der Argu­men­ta­ti­on eben nicht beweis­ba­re und dem wis­sen­schaft­li­chen Pro­zess offe­ne Fak­ten lagen, son­dern ein auf Sand errich­te­tes Gedankengebäude. 

Mit Fak­ten lässt sich nicht dis­ku­tie­ren. Dar­in liegt die Stär­ke, dar­in liegt aber auch eine gro­ße Schwä­che der Kli­ma­be­we­gung. Denn die blo­ße Fest­stel­lung, dass zur Begren­zung der Erd­er­wär­mung ein maxi­ma­les CO2-Bud­get für die Mensch­heit ver­braucht wer­den darf, ist aber noch kei­ne poli­ti­sche Hand­lungs­an­wei­sung. Zudem ent­zieht sich die natur­wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit auch inso­fern dem Poli­ti­schen, als damit eine Redu­zie­rung auf Null oder Eins nahe liegt. Das erleich­tert radi­ka­le For­de­run­gen. Ent­we­der schafft die Mensch­heit – bis­her kein han­deln­der Akteur – es, das CO2-Bud­get ein­zu­hal­ten, oder sie schafft es nicht, und löst damit mit hoher Wahr­schein­lich­keit Kipp­punk­te aus. Das liegt quer zum Modus des Kom­pro­mis­ses. Ein Tref­fen in der Mit­te gibt es nicht, wenn 2,2 Grad Erd­er­hit­zung in ihren Kon­se­quen­zen genau­so dra­ma­tisch sind wie ein Plus von drei oder vier Grad.

Der Anspruch, den die Kli­ma­be­we­gung an die Poli­tik stellt, muss also zwangs­läu­fig ein radi­ka­ler sein. Ent­spre­chend hoch ist die Fallhöhe.

Das ist der eine Teil der Her­aus­for­de­rung. Der ande­re besteht dar­in, die heu­te not­wen­di­gen Maß­nah­men, um die­ses Ziel zu errei­chen, zu fin­den und zu ver­han­deln, demo­kra­ti­sche Mehr­hei­ten dafür zu suchen und in kur­zer Zeit einen Weg zu fin­den, das inter­na­tio­na­le Abkom­men von Paris ins­be­son­de­re in den zehn oder zwan­zig Staa­ten mit den größ­ten Treib­haus­gas­emis­sio­nen umzusetzen.

Das his­to­ri­sche Fens­ter hier­für – eine hohe Akzep­tanz für Kli­ma­schutz­maß­nah­men in der Bevöl­ke­rung, Druck von der Stra­ße, brei­te Mehr­hei­ten im Par­la­ment – hat die Bun­des­re­gie­rung aus CDU, CSU und SPD nicht genutzt.

Ent­spre­chend hoch ist der Druck auf die Par­tei, die sich schon immer durch hohe Kom­pe­tenz­zu­schrei­bun­gen in öko­lo­gi­schen Fra­gen aus­zeich­net, also auf Bünd­nis 90/Die Grü­nen: zwi­schen Phy­sik und Poli­tik zu ver­mit­teln, und dabei weder die Demo­kra­tie noch das Welt­kli­ma vor die Hun­de gehen zu las­sen – das scheint die Auf­ga­be zu sein, die jetzt der kleins­ten Bun­des­tags­frak­ti­on zuwächst. 

(Und ja, es gibt Län­der­re­gie­run­gen mit grü­ner Betei­li­gung, und ja, es gibt die grün-geführ­te Regie­rung in Baden-Würt­tem­berg – aber zu den Regeln des Poli­ti­schen gehört eben auch, dass ein gro­ßer Teil der für das Pari­ser Kli­ma­ziel not­wen­di­gen Maß­nah­men in Bun­des­kom­pe­tenz lie­gen wür­den, und das der Bun­des­rat ein Gre­mi­um ist, das Geset­ze ver­zö­gern oder auf­hal­ten kann, aber kaum selbst gestal­te­risch tätig wer­den kann.) 

In die­ser Situa­ti­on bricht nun eine inner­grü­ne Debat­te über evi­denz­ba­sier­te Poli­tik los. Zur Unzeit? 

Ich wür­de hier zwei­mal mit Nein ant­wor­ten. So befin­den sich Bünd­nis 90/Die Grü­nen der­zeit im Pro­zess, ein neu­es Grund­satz­pro­gramm zu erstel­len. Wenn über grund­le­gen­de Wer­te und Hal­tun­gen gestrit­ten wer­den muss, dann ist jetzt der rich­ti­ge Zeit­punkt dafür.

Das zwei­te Nein hängt von den Ansprü­chen an Kon­sis­tenz ab, die an ein Par­tei­pro­gramm gestellt wer­den. Pau­schal lie­ße sich hier zwi­schen einem „katho­li­schen“ und einem „pro­tes­tan­ti­schen“ Ansatz unter­schei­den. Leben und leben las­sen, Wider­sprü­che aus­hal­ten und viel­fäl­ti­ge Anknüp­fungs­punk­te im Pro­gramm bie­ten – oder ein von geteil­ten Wer­ten aus gedach­tes, gera­de­li­ni­ges Pro­gramm, das in Kauf nimmt, den einen oder die ande­re zu verschrecken?

Real betrach­tet hat der „katho­li­sche“ Ansatz hier lan­ge gute Diens­te geleis­tet. Par­tei­en sind nie homo­gen, und Par­tei­pro­gram­me spie­geln auch unter­halb des Kon­strukts einer Volks­par­tei immer inner­par­tei­li­che Viel­falt wider. Das liegt nicht zuletzt im Pro­zess der Pro­gramm­er­stel­lung begrün­det: von einem Komit­tee ent­wor­fen, von einem poli­tisch divers zusam­men­ge­setz­ten Vor­stand ein­ge­bracht, über auf die ein­zel­ne Text­stel­le schau­en­de Ände­rungs­an­trä­ge von einem Par­tei­tag über­ar­bei­tet – da kann kein wider­spruchs­frei­es Text­ge­bäu­de bei herauskommen.

Trotz­dem möch­te ich dafür plä­die­ren, dass wir ver­su­chen, uns die­sem Ide­al maxi­mal anzu­nä­hern. Wenn die Annah­me stimmt, dass die Stär­ke der Kli­ma­be­we­gung aus ihrer Wis­sen­schafts­fun­die­rung her­rührt, und wenn ein Teil der gestie­ge­nen Attrak­ti­vi­tät der grü­nen Par­tei etwas damit zu tun hat, dann soll­ten wir zumin­dest ver­su­chen, die­sen Gedan­ken pro­gram­ma­tisch aufzunehmen.

Das – evi­denz­ba­sier­te Poli­tik als Grund­hal­tung – wie­der­um heißt nun nicht, Wis­sen­schaft eins zu eins in Poli­tik umzu­set­zen. Wis­sen­schaft selbst ist ein sozia­les Sys­tem, das zwar theo­re­tisch nur dar­an ori­en­tiert ist, zwi­schen wahr und falsch zu unter­schei­den, das in der Pra­xis aber durch Macht, Sach­zwän­ge, Inter­es­sen, Moden und Gewohn­hei­ten struk­tu­riert ist – wie jedes mensch­li­che Han­deln. Die Ver­fah­ren wis­sen­schaf­li­cher Selbst­ver­wal­tung und wis­sen­schaft­li­cher Kon­trol­le durch die sci­en­ti­fic com­mu­ni­ty sind gut, aber sie sind weder feh­ler­frei noch frei von blin­den Fle­cken. Trotz­dem ist Wis­sen­schaft in der Gesamt­heit das sozia­le Sys­tem, das bes­ser als jedes ande­re in der Lage dazu ist, Fak­ten zu liefern. 

Jetzt lie­ße sich lan­ge dar­über strei­ten, ob das denn für jede Dis­zi­plin so zutrifft, wo es Erkennt­nis­in­ter­es­sen gibt, die auf die Erfor­schung von Gesetz­mä­ßig­kei­ten abzie­len, und wo es eher um – bei­spiels­wei­se – Prak­ti­ken der Text­ex­ege­se oder die Umset­zung von Erkennt­nis­sen in prak­ti­sche Anwen­dung geht. Zu kurz gegrif­fen wäre aus mei­ner Sicht ein Wis­sen­schafts­be­griff, der auf Natur­wis­sen­schaf­ten redu­ziert wird. Auch ein gro­ßer Teil der Sozi­al­wis­sen­schaft hat pri­mär ein Inter­es­se dar­an, empi­ri­sche Daten zu unter­su­chen, um ver­all­ge­mei­ner­ba­re Gesetz­mä­ßig­kei­ten davon abzu­lei­ten. Auch sozia­le Fak­ten sind zunächst ein­mal Fak­ten, Ver­su­che, eine sozia­le Wirk­lich­keit ange­mes­sen zu beschrei­ben und die zugrun­de lie­gen­den Zusam­men­hän­ge zu ana­ly­sie­ren. Letzt­lich sind dies inner­wis­sen­schaft­li­che Streits, also Poli­tik inner­halb des wis­sen­schaft­li­chen Sys­tems, aber kei­ne extern poli­tisch zu ent­schei­den­den Fragen.

Poli­tik auf Fak­ten zu basie­ren, heißt zunächst ein­mal, die­se zur Kennt­nis zu neh­men. Das ist kein ein­ma­li­ger, son­dern ein dau­er­haf­ter Anspruch, inso­fern sich der Stand der Wis­sen­schaft fort­lau­fend ändern kann (und nein: das Wis­sen um den Kli­ma­wan­del ist ins­ge­samt betrach­tet gut abge­han­gen, sedi­men­tier­tes Wis­sen – revo­lu­tio­nä­re ande­re Sich­ten sind hier nicht zu erwar­ten). Die Ver­mitt­lung zwi­schen Poli­tik und Wis­sen­schaft ist Arbeit – Wis­sen­schafts­kom­mu­ni­ka­ti­on, Wis­sen­schafts­jour­na­lis­mus, wis­sen­schaft­li­che Poli­tik­be­ra­tung, oder eben auch die Aus­ein­an­der­set­zung mit neu­en The­men im poli­ti­schen All­tag in Form von Anhö­run­gen und Fach­ge­sprä­chen. Das alles ist Schnitt­stel­le, um Poli­tik auf Fak­ten basie­ren zu können.

Men­schen neh­men die Welt und Wis­sen dar­über selek­tiv wahr. Das ist gut erforscht. Des­we­gen muss „die Fak­ten zur Kennt­nis neh­men“ eine bewuss­te Anstren­gung beinhal­ten, offen für neue Infor­ma­tio­nen zu sein. Immer nur die eine Sei­te anzu­hö­ren, die die eige­ne Posi­ti­on bestä­tigt, wäre falsch. Genau­so falsch wäre es, alle Din­ge als zwei­sei­tig anzu­se­hen. Wenn es einen wis­sen­schaft­li­chen Kon­sens, ein sta­te of the art, eine 80‑, 90‑, 95-pro­zen­ti­ge Über­ein­stim­mung dar­über gibt, wel­che Theo­rie plau­si­bel ist und wel­che nicht trägt, dann wäre es völ­lig falsch, bei­de Sei­ten anzu­hö­ren, nur um Aus­ge­wo­gen­heit her­zu­stel­len. Offen­heit heißt nicht, frin­ge theo­ries hinterherzurennen.

Wis­sen­schaft zeich­net sich durch Spe­zia­li­sie­rung aus. Eine Phy­si­ke­rin ist nicht nur eine Phy­si­ke­rin, son­dern eben viel­leicht eine für Hoch­en­er­gie­phy­sik. Ein Lun­gen­arzt ist kein Epi­de­mo­lo­ge. Eine Bio­lo­gin kann wenig über sozia­le Zusam­men­hän­ge aus­sa­gen. Ein Metero­lo­ge ist kein Kli­ma­for­scher. Zur Ver­mitt­lung zwi­schen Wis­sen­schaft und Poli­tik gehört es damit auch, die tat­säch­li­chen Expert*innen zu iden­ti­fi­zie­ren und fal­sche Expert*innen zu ignorieren.

Poli­tik auf Fak­ten zu basie­ren, ist ein Anfang. Wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se erset­zen kei­ne poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen. Mehr­hei­ten müs­sen gefun­den wer­den, in Frak­tio­nen und Par­tei­en, in Koali­tio­nen und in der Bevöl­ke­rung. Inter­es­sen ste­hen gegen­ein­an­der. Unter­schied­li­che posi­ti­ve und nega­ti­ve Fol­gen unter­schied­li­cher Wege sind gegen­ein­an­der abzu­wä­gen. Dabei hilft ein Kom­pass aus Grund­wer­ten und Über­zeu­gun­gen. Poli­ti­sche Hand­lungs­räu­me im Meh­re­be­nen­sys­tem sind begrenzt. All das macht Poli­tik lang­sam, aber im bes­ten Fall nachhaltig.

Den­noch gibt es über ein Zugrun­de­le­gen der Fak­ten hin­aus Din­ge, die Poli­tik von Wis­sen­schaft ler­nen kann. Mög­lichst objek­ti­ve Ver­fah­ren und Kri­te­ri­en am Anfang von Pro­zes­sen gehö­ren bei­spiels­wei­se dazu. Das Dra­ma um die Ver­ga­be der Bat­te­rie­for­schungs­fa­brik wäre erheb­lich weni­ger hef­tig aus­ge­fal­len, wenn nicht mit­ten im Ver­ga­be­ver­fah­ren die Ent­schei­dungs­kri­te­ri­en ver­än­dert wor­den wären. All­zu oft ent­steht der Ein­druck, dass das eige­ne Bun­des­land, der eige­nen Wahl­kreis ein nicht genann­tes Kri­te­ri­um ist, wenn es um För­der­maß­nah­men geht. Auch bei der Prio­ri­sie­rung bei­spiels­wei­se von Bau­vor­ha­ben sind poli­tisch fest­ge­setz­te Kri­te­ri­en, die vor­her fest­ste­hen, hilf­reich. Ohne Ermes­sens­spiel­räu­me geht es nicht, aber auf lan­ge Sicht ist bes­ser ver­mit­tel­bar, was nicht im Ermes­sen ent­schie­den wird, son­dern anhand von vor­her fest­ge­leg­ten Maßstäben.

Zu einer Ori­en­tie­rung an Fak­ten und zu einem Ent­schei­den anhand von Kri­te­ri­en gehört immer auch die Mög­lich­keit, dass Uner­war­te­tes her­aus­kommt, dass schein­ba­re Gewiss­hei­ten über den Hau­fen gewor­fen werden.

Auch Par­tei­en sind – Stich­wort sozia­le Fak­ten – sozia­le Gebil­de. Pro­gram­ma­ti­sche Ver­än­de­run­gen brau­chen Mehr­hei­ten und las­sen sich nicht von heu­te auf mor­gen durch­bo­xen. Wer an Wis­sen­schaft ori­en­tier­te Poli­tik in einer Par­tei machen will, muss das wis­sen. Sonst über­wiegt hier schnell die Ent­täu­schung. Den­noch glau­be ich, dass es sich lohnt, für eine evi­denz­ori­en­tier­te Poli­tik zu kämp­fen. Gera­de auch bei Bünd­nis 90/Die Grünen.

War­um blog­ge ich das? Das The­ma geht mir schon seit eini­ger Zeit durch den Kopf. Ein Aus­lö­ser für die­sen Blog­bei­trag ist ein Anfang Okto­ber in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung erschie­ne­ner Essay von Andre­as Frey, der heu­te noch ein­mal in der Badi­schen Zei­tung ver­öf­fent­lich wur­de. Eine Grund­la­ge für die­sen Essay ist ein von Pau­la Piech­ot­ta und mir 2018 geschrie­be­ner Dis­kus­si­ons­bei­trag für den Grund­satz­pro­gramm­pro­zess, eine ande­re der Homöo­pa­thie-Antrag für die BDK in Bie­le­feld. In die­sem Essay fin­den sich auch Zita­te von mir – aus einem län­ge­ren Gespräch mit Herrn Frey her­aus­ge­nom­men und hier lei­der recht platt und pole­misch ver­packt. Rich­tig glück­lich bin ich damit nicht, denn dass eine an Wis­sen­schaft ori­en­tier­te Poli­tik nicht ein­fach ist, wird dabei nicht so rich­tig klar. Des­we­gen die­ser Text.

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