Es fühlt sich gerade ziemlich gut an, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen zu sein. Das hat was mit den 20 Prozent in den Umfragen zu tun, aber sehr viel mehr noch mit einer der Ursachen für diese 20 Prozent – aktuell sind wir nahe dran an der platonischen Form einer grünen Partei. So muss das sein!
Gibt es den Ausdruck eines heiteren Ernsts? Das ist in etwa die Haltung, mit der wir derzeit der Welt begegnen, und das ist die richtige Haltung.
Wir leben in Zeiten, in denen ziemlich viel schief läuft. Manches davon ist lebensbedrohend für die Zukunft der Menschheit. So kann es nicht weitergehen. Deswegen, und das ist glaube ich der Kern dessen, was Robert Habeck mit „radikal“ meint, braucht es Antworten, die dieser Situation angemessen sind. Aber nur weil die Dinge so sind, wie sie sind, werden wir nicht verbissen – ich schrieb irgendwann mal etwas über grumpy old men -, werden auch nicht moralistisch und moralinsauer, und erst recht verschließen wir nicht die Augen vor dem Zustand der Welt. Nein: wir schauen hin, wir entwickeln sehr konkrete Ideen, wie die Welt besser werden kann, und wir treten dafür ein. Überzeugt, aber nicht abgehoben, hart in der Sache, aber fair und verbindlich (oder, wie das Handesblatt schreibt, „moderat“) im Ton. Nach innen wie nach außen. (Und damit dann, um nochmal Robert aufzunehmen, auch bündnisfähig.)
Ein paar Jahre lang war es in weiten Teilen der Partei eher andersherum. Ein inhaltlicher Rutsch in die sagenumwobene Mitte, fast schon ein Weichkochen unserer Programmatik, aber dafür ein schriller, lauter, knalliger und von der eigenen Sache zu 120 Prozent überzeugter Tonfall – nach innen wie nach außen.
So herum, wie es jetzt ist, steht die Partei auf den Füßen. Wer will, kann da auch von geerdet sprechen. Das war bei diesem Parteitag in Leipzig immer wieder zu merken. In den leisen Tönen, als Igor Levit für uns die Ode an die Freude und die Goldberg-Variationen spielte. In den emotional aufgeladenen Momenten der Rede von Annalena Baerbock. In der Disziplin, mit der wir ein für grüne Verhältnisse recht knappes, aber sehr, sehr konkretes Europaprogramm beschlossen haben. Und in einer Liste, die einer „Partei der Vielen“ vollkommen angemessen ist.
Dass das Europawahlprogramm diszipliniert und mit großer Kompromissbereitschaft verhandelt wurde, auch in den Runden im Vorfeld, hat glaube ich auch etwas damit zu tun, in welcher Situation wir uns befinden. Es geht um etwas. Und das spüren wir. Nicht um Regieren oder Opposition, sondern eher darum, dass derzeit ein Kampf darum stattfindet, in was für einem Land, in was für einem Europa wir eigentlich leben wollen. Es geht um Hegemonie und Deutungsmacht. Lassen wir als Land uns auf die rechte Verführung ein, rutschen ab in dunkle Zeiten, oder stehen wir zu diesem Land genau wegen all der Dinge, die es ausmachen, und die die Rechten hassen. Verteidigen wir Europa, stehen wir für Humanität – auch im Mittelmeer – ein, und geben das Klima noch nicht auf? Oder gewinnen Ressentiments und Wurstigkeit? Darum wird in diesem Land heute gezerrt, um diese Fragen. Deswegen wissen wir, dass es um etwas geht – und deswegen lassen wir uns nicht ablenken von potenziellen parteiinternen Streits, ministerpräsidentiellen Wutausbrüchen oder dem Beharren auf die eine beste Lösung im Programm.
Die BDK in Leipzig war ein „Arbeitsparteitag“ – zum einen, weil das Programm beschlossen wurde, auch wenn hier doch sehr viel im Vorfeld geklärt wurde, zum anderen und vor allem aber deswegen, weil die Europaliste gewählt wurde. Es gibt bei uns eine Bundesliste, keine sechzehn Landeslisten, und es gibt natürlich Absprachen (in und zwischen Strömungen, klar) und Vorschläge, aber im Großen und Ganzen doch eine offene Listenaufstellung. Und weil jede Bewerberin und jeder Bewerber sich in bis zu zehn Minuten vorstellen darf, zieht sich das ganz schön hin. Die Wahl selbst erfolgt am Schluss auf Papier, während der Aufstellung aber als elektronisches Meinungsbild. Das geht schnell.
Auf den ersten vier Plätzen gab es keine Gegenkandidat*innen. Mit Ska Keller und Sven Giegold stehen zwei wirklich europäisch profilierte Menschen an der Spitze der Liste. Es folgen die bisherigen Europaparlamentarier*innen Terry Reintke und Reinhard Bütikofer. Auf den meisten weiteren Plätzen – gewählt wurden insgesamt 40 Kandidat*innen (bei 96 Abgeordneten aus Deutschland im EP, wir bräuchten also etwa 45 Prozent, um alle Kandidat*innen ins Parlament zu bekommen …) – gab es dann fast immer mehrere Kandidaturen. Unsere baden-württembergische Europaabgeordnete Maria Heubuch verlor beispielsweise und ist jetzt nicht wieder aufgestellt, Martin Häusling wurde dagegen auf Platz 6 erneut gewählt.
Insgesamt haben wir eine sehr diverse, sehr vielfältige Liste. Dass es eine Mindestquotierung gibt, ist lange grüne Tradition, und 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts wichtiger denn je. Die Plätze 1, 3, 5 usw. gehen also an Frauen (darunter diesmal auch eine offen als solche auftretende Transfrau), die Plätze 2, 4, 6 usw. sind offene Plätze (gewählt wurden auf diesen offenen Plätzen diesmal 19 Männer und eine Frau).
Es sind viele neue Gesichter darunter, eine ganze Reihe an Fachpolitiker*innen aus den BAGen, einige sehr in Menschenrechtsfragen engagierte junge Frauen und Männer. U.a. Hannah Neumann, Friedens- und Konfliktforscherin, auf Platz 5, Anna Cavazzini, Menschenrechtsreferentin bei Brot für die Welt und BAG Europa, Platz 7. Erik Marquardt, der beeindruckende und beschämende Fotoreportagen von der Seenotrettung im Mittelmeer gemacht hat, Platz 8. Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Fähigkeiten. Die Sozialpolitikerin Katrin Langensiepen auf Platz 9 wird wohl als erste Frau mit sichtbarer Behinderung ins Parlament einziehen. Der Sinto Romeo Franz wurde auf Platz 10 erneut aufgestellt. Auf Platz 11 Jutta Paulus, langjährige Sprecherin der BAG Energie, inzwischen Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz. Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde Berlin, gewann mit einer eindrucksvollen Rede Platz 12. Menschen, die Europa leben. Henrike Hahn auf Platz 13 hat u.a. an der Sorbonne Nouvelle in Paris studiert und ist bei Pulse of Europe aktiv. Michael Bloss auf Platz 14 war Sprecher es Europaverbandes der Grünen Jugend, FYEG. Auf Platz 15 Anna Deparnay-Grunenberg, Forst- und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin mit deutsch-französischem Hintergrund, und auf Platz 16 Rasmus Andresen aus Flensburg, dänische Minderheit in Schleswig-Holstein.
Ich könnte noch weiter machen. Aber vielleicht wird auch so klar: So vielfältig (aber wohl auch so jung) war eine grüne Europaliste selten. Falls nochmal jemand nach einem Generationswechsel fragt, egal ob es um das Alter geht oder um Politikkarriere – der ist bei uns gelungen. Und mit uns wäre auch ein Europäische Republik ausrufbar.
Liste und Programm passen zusammen, ergeben ein stimmiges Bild. Über dem Parteitag stand „Europa. Darum kämpfen wir.“ – und ja, im Doppelsinn dieses Slogans hat auch dieser europäische Geist, das Gefühl, sich hier und heute als ganz klar pro-europäische Partei zu präsentieren, dazu beigetragen, dass mit großer Ernsthaftigkeit – aber nie verbissen, nie unfair, nie abgehoben – auf diesem Parteitag gearbeitet, gewählt und gerungen wurde. (Und natürlich ist die BDK mit ihren 840 Delegierten und vielen Gästen immer noch und wieder das große grüne Familientreffen – das wurde in Momenten sichtbar wie der Verabschiedung des Schatzmeisters Benedikt Mayer oder als am 11.11. die rheinische Fröhlichkeit für einen ganz kurzen Moment explodierte. Oder Claudia Roth, die auch kurz vor Mitternacht noch im Parteitagspräsidium die Delegierten wach hielt – etwa durch spontanen Wechselgesang).
Es fühlt sich gut an, Mitglied dieser Partei zu sein. Gemeinsam mit vielen anderen. Mit den Vielen, und im Bündnis mit allen Kräften – den Vielen, der Multitude – die in diesem historischen Moment darauf bestehen, zivilisatorische Errungenschaften zu erhalten und auszuweiten, und um das bessere Morgen zu kämpfen.
Warum blogge ich das? Was wäre ein Parteitag – ich war diesmal nur als BAG-Sprecher und als Ersatzdelegierter dabei – ohne Parteitagskritik?