Weihnachten ist ja gerne gesehen als Zeitpunkt für Rückblicke auf das vergangene Jahr. Persönlich kann ich nicht klagen, wenn ich auf 2017 zurückblicke. Aber das große Ganze liegt mir schwer im Magen – nach Brexit und Trump gab es 2017 nicht nur neu aufflammende Kriege und Konflikte, sondern auch Wahlergebnisse in Europa, bei denen doch erschreckend viele Menschen rechtspopulistische Parteien und deren Kandidat*innen gewählt haben. Die AfD sitzt jetzt nicht nur in diversen Landtagen, sondern auch im Bundestag. In Frankreich und in Österreich wurden Rechtsaußen-Präsident*innen nur knapp verhindert. Und in Österreich regiert nun die FPÖ mit und dreht das Rad des Fortschritts zurück.
Und wenn ich bei meinen häufigen Zugfahrten – oder selbst im Bekanntenkreis – mitkriege, über was Menschen sich unterhalten, was sie bewegt, was ihre Grundannahmen sind: auch dann ist da erschreckend viel dabei, was gut zu diesen rechten Tendenzen passt. Und ich frage mich, was in diesen Menschen eigentlich vorgeht. Wie sie die Welt sehen.
Als Spezies fahren wir Menschen ja ab auf Intrigen und Skandale; ganze Industrien leben davon. Aus dieser Perspektive sind das gute Neuigkeiten. Aus allen anderen: eher nicht. Und ich frage mich, wie es eigentlich dazu kommen konnte.
Ich habe irgendwann mal Soziologie studiert. Eine Hauptmotivation für die Entscheidung, dieses Studium aufzunehmen, war für mich der Wunsch, Menschen im Plural besser verstehen zu können. Wie funktioniert das eigentlich?
Jetzt kann Soziologie vieles (und ich habe auch vieles gelernt), aber eine gute Erklärung dafür, warum 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung zu menschenfeindlichen Einstellungen neigt, ist mir bisher nicht untergekommen. Jedenfalls scheint es sich mir dabei nicht um rationale Entscheidungen zu handeln. Und auch Klasseninteressen passen als Erklärmuster nicht wirklich (da reicht ein Blick auf die Steuerpolitik der „Kleine-Mann-Parteien“). Habitus? Lebensstile? Wo wäre da der Ansatzpunkt, wenn traditionelle Arbeitermilieus und Professor*innen plötzlich AfD wählen?
Am ehestens scheinen mir noch diskurs- und wissenssoziologische Ansätze brauchbar zu sein. (Also Theorien, die die unterschiedlichen mentalen Vorstellungen darüber, wie die Welt ist, in den Mittelpunkt stellen). Wenn es stimmt, dass ein großer Teil der Menschen, die sich für rückwärtsgewandte politische Angebote entscheiden, dies tun, weil sie fest davon überzeugt sind, in einer Welt zu leben, in der sie nach Strich und Faden hinters Licht geführt werden, in der Verschwörungen der Mächtigen Wirklichkeit sind, in der Umerziehungsprogramme stattfinden und in der das eigene kleine Leben massiv bedroht ist – dann wäre das eine schlechte Nachricht. Und zwar deshalb, weil sich derartige verfestigte Vorstellungen kaum knacken lassen. Argumente helfen nicht: menschliche Gehirne sind ziemlich gut darin, nur sehen zu wollen, was zu dem passt, was sie schon wissen.
Wenn das so stimmt, das ein größerer Teil der für rechte Tendenzen empfänglichen Menschen das nicht tut, weil sie davon überzeugt sind, dass der Nationalsozialismus eine gute Sache war, und das auch nicht tut, weil sie darin ein zynisches Instrument sehen, denen da oben mal eines auszuwischen, und dabei noch für unterhaltsame Schlagzeilen zu sorgen – sondern weil Diskursfragmente wie die im vorherigen Absatz skizzierten sich tatsächlich verankert und niedergesetzt haben, dann stellt sich am Ende die Frage nach der Demokratie.
Wahrscheinlich ist es mit der Demokratie so wie mit anderen großen Utopien auch: der Lackmustest dafür, ob diese Vorstellung, wie die Welt besser funktionieren könnte, etwas taugt, sind Menschen, die davon nicht überzeugt sind, die auf ihre eigenen Vorteile bedacht sind, die hartherzig und kleinlich sind. Die meisten literarischen Utopien sind ja eher langweilig, weil dort keine derartigen Menschen vorkommen, entsprechend auch keine Konflikte, Intrigen und Skandale. Und damit fehlt schlicht der Unterhaltungswert.
Demokratie ist dann für Medien spannend, wenn es um knappe Ergebnisse geht. Klare Frontlinien sind hervorragend, am Zwischenmenschlichen oder am Größenwahn einzelner Akteure scheiternde Verhandlungen ebenso.
Demokratie ist dann langweilig, wenn Unterschiede zwischen den Parteien nicht erkennbar sind oder kleingeredet werden können. Wenn sie sich mit Themen befasst, die nur begrenzt ins Schema der erwartbaren Konflikte passen. Und natürlich ist Demokratie auch dann langweilig, wenn Wahlergebnisse zu klaren Koalitionen führen.
Demokratie als Utopie geht davon aus, dass – im Ideal: alle Menschen – bewusste und wohl abgewogene Entscheidungen treffen, und dass damit dann zumindest umgesetzt wird, was eine Mehrheit richtig findet. Die Utopie Demokratie geht weiter davon aus, dass diese Mehrheit dann auch noch in der Lage ist, die für sie beste Option zu wählen – egal, ob es um ein Thema geht oder darum, wer die Wähler*innen repräsentieren soll.
Die Utopie Demokratie sieht nicht vor, dass Menschen nicht zur Wahl gehen, aus einer Laune heraus irgendwas ankreuzen, ihre Interessen nur verzerrt durch mediale Projektionen und Facebook-Suchergebnisse wahrnehmen, auf vermutete Gewinnertickets setzen oder mehr oder weniger nachvollziehbare taktische Erwägungen in ihre Wahl einfließen lassen.
Aber es ist doch so: Die selben Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, im Zug zu erkennen, was eine Wagennummer ist, wo die Wagenklasse steht, und wann ein Sitzplatz reserviert ist, sind auch die, die zur Wahl gehen. Und die selben Menschen, die davon ausgehen, dass selbstverständlich jedem die Grundsätze humanistischer Bildung bekannt sind, und dass wer kein Brot hat, Kuchen essen kann – auch das sind die, die zur Wahl gehen. Das gehört zum ganzen Bild dazu.
Was ich damit sagen will: Ich mache mir sorgen, dass die Utopie Demokratie in ihrer derzeitigen praktischen Umsetzung auf Wähler*innen stößt, die nicht nur andere Interessen haben, als es meine sind, und die nicht nur ganz andere Dinge für normal und selbstverständlich halten, als ich es tue, sondern die sich möglicherweise nur sehr begrenzt dafür interessieren, was eigentlich die Folge ihrer Wahlentscheidung ist. Und darauf ist Demokratie nicht wirklich ausgelegt.
Jetzt wäre es billig (und im utopischen Sinne undemokratisch), nach Tests zur politischen Bildung vor Wahlteilnahme zu rufen oder dergleichen mehr. Wer unbedingt etwas positives darin sehen will, dass jetzt die AfD im Bundestag sitzt, kann sie auch als eine Partei sehen, die einen bisher nicht repräsentierten Teil der Bevölkerung offensichtlich angesprochen und damit die Wahlbeteiligung erhöht hat. Und eigentlich macht mir ja auch weniger die AfD sorgen, als die Tatsache, dass andere – FDP, Teile der Union, wohl auch der eine oder andere in der SPD und Linkspartei, und vielleicht auch Boris Palmer – glauben, dass es an ihnen wäre, der AfD ihre Wähler*innen wieder wegzunehmen, indem weiter nach rechts gerückt wird. Dass kann dann leicht der Dominoeffekt sein, der uns am Ende in Österreich landen lässt. Und da will ich nicht hin.
Das ganze hat auch noch eine andere Seite. Vor ein paar Tagen war der Tag des Ehrenamtes. Auch das Bundesfamilienministerium wirbt derzeit um das Ehrenamt und für gesellschaftliches Engagement. Zusammen kommt das Ministerium – inklusive zum Beispiel der Sportvereine – auf rund 30 Millionen Engagierte in Deutschland (Youtube-Spot). Das ist einerseits eine ziemlich schöne Zahl. Andererseits heißt das auch, selbst wenn angenommen würde, dass es hier keine „Doppelengagierten“ gibt, dass in der Altersgruppe zwischen – sagen wir mal – 16 und 70 Jahren nur rund jede und jeder Zweite irgendwie ehrenamtlich engagiert ist. Und andere Statistiken fallen noch deutlich geringer aus. (In Parteien und anderen Formen des dezidiert politischen Engagements ist es übrigens nur ein winziger Bruchteil davon …)
Ich weiß selbst, wie anstrengend es sein kann, Familie, Beruf, Freizeit irgendwie zusammenzubringen, und wie schnell dann schlicht keine Zeit mehr übrig bleibt. Insofern mag es gute Gründe dafür geben, sich in keinem Verein und keinem Projekt zu engagieren. Und natürlich ist es nicht nur Zeit, sondern schnell auch finanzieller Aufwand, ehrenamtlich tätig zu sein. Trotzdem würde ich gerne wissen, was eigentlich diese Menschen machen, und vor allem: wie deren Bezug zur Gesellschaft, zum Ganzen aussieht. Auch das kann ja unterschiedlich sein – vielleicht gibt es große Freundeskreise, in denen etwas unternommen wird, vielleicht findet zwar kein „formales“ Engagement statt, aber dafür werden die Pakete im Haus angenommen und in Abwesenheit die Blumen gegossen.
Das wäre alles denkbar. Trotzdem habe ich den Verdacht, dass es Menschen gibt, die eigentlich von dem Land, in dem sie leben, nichts wissen wollen. Die zwar möglicherweise zur Wahl gehen, sich aber nicht dafür interessieren, wie es anderen Menschen geht. Und die ganz schnell dabei sind, sich abgehängt und hinters Licht geführt zu fühlen. Dann sind die anderen schuld.
Das ist nur ein Verdacht. Und es gibt natürlich auch die hoch engagierten Rechten, im sächsischen Heimatverein oder auf wöchentlichen Demonstrationen, etc. Um die geht es mir hier nicht, sondern um den vermuteten Teil der Menschen in Deutschland, der weder in neuartigen noch in traditionelleren Formen des Zusammengehörigseins eingebunden ist. Ich vermute, dass ein Teil der AfD-Wähler*innen genau hier zu finden ist. Auch das ist in der Demokratie als Utopie nicht vorgesehen, dass sich Menschen an Wahlen beteiligen, die sich an Gesellschaft nicht beteiligen wollen. Aber selbstverständlich gehört auch das zur realen Demokratie dazu.
Hoffnungen, diese vermutete Gruppe zu erreichen, habe ich wenige. Ich kann mir vorstellen, dass sich über die Zeit im Sinne eines Generationeneffekts etwas ändert. Aber vielleicht ist auch das nur eine Utopie – diesmal die der Bildung und der Aufklärung.
Warum blogge ich das? Als erste Iteration einer Annäherung an seltsame Lebenswelten.
Hallo Till, Weihnachten ist inzwischen längst vorbei, das neue Jahr aber noch jung. In diesem Sinne wünsche ich Dir ein gutes (noch besseres) Jahr 2018.
Zum Text: Danke für die vielen Gedankenanstöße. Deine Gedanken verbinden sich gerade mit denen aus einem anderen Text und lassen bei mir ein plausibles Bild über die „Gruppe der schwer Erreichbaren“ entstehen.
http://www.tagesspiegel.de/politik/die-globale-klasse-eine-andere-welt-ist-moeglich-aber-als-drohung/14737914.html
LG Aebby