Hinweis: in der ersten Fassung dieses Textes fehlten noch einige Änderungsanträge, die zum Zeitpunkt der Auswertung am 4.5.2017 noch nicht online waren. Inzwischen sind 2127 Änderungsanträge erfasst; den Artikel unten habe ich daraufhin deutlich überarbeitet.
Vor kurzem endete der Antragsschluss für Änderungsanträge zum grünen Bundestagswahlprogramm 2017. Ein Anlass, sich einmal anzuschauen, wer wie viele Änderungsanträge gestellt hat.
Zu beachten ist dabei zunächst die Grundlage, auf die sich die Änderungsanträge beziehen. Mit rund 330.000 Zeichen ist der Entwurf für das grüne Bundestagswahlprogramm 2017 deutlich kürzer ausgefallen als das Programm zur Bundestagswahl 2013, das im Entwurf etwa 450.000 Zeichen umfasste, und nach der Beschlussfassung der Bundesdelegiertenkonferenz auf eine Länge von rund 660.000 Zeichen anwuchs. Damals waren rund 2500 Änderungsanträge gestellt worden.
Zwischen 2013 und 2017 sind einige Dinge passiert. Eine wichtige Änderung betrifft die Art und Weise, wie Änderungsanträge gestellt werden können.
Dies betrifft insbesondere die Änderungsanträge von Einzelantragssteller*innen. Dazu kurz noch einmal ein Blick in die grüne Satzung: Antragsberechtigt sind prinzipiell die Landesverbände, die Kreisverbände, die Ortsverbände, die Bundesarbeitsgemeinschaften, die Grüne Jugend und der Bundesfrauenrat. Zudem können 20 Personen gemeinsam einen Antrag einreichen. Auf der letzten Bundesdelegiertenkonferenz gab es nun den Vorschlag, für Änderungsanträge zum Wahlprogramm – auch als Reaktion auf die große Zahl an Änderungsanträgen im Jahr 2013 – diese Hürde auf 60 Personen hochzusetzen. Dieser Vorschlag war nicht erfolgreich. Festgelegt wurde allerdings ein recht früher Antragsschluss (sechs Wochen vor dem Programmparteitag), und die mehr oder weniger obligatorische Nutzung des Tools Antragsgrün zur Einreichung und Authentifizierung der Unterzeichner*innen eines Antrags.
(Mehr oder weniger, weil weiterhin die Einreichung von Unterschriften per Fax oder Brief möglich ist – was nicht mehr akzeptiert wurde, war die einfache Nennung von Unterzeichner*innen, da es Missbrauchsfälle gegeben hatte, also Menschen auf Unterzeichnerlisten gelandet waren, die einen Antrag gar nicht unterstützt hatten. Dieses neue Verfahren führte in einigen Kreisen zu Unmut, da früher eine einfache „Ich bin dabei“-Mail reichte.)
Vielleicht noch ein Wort zu Antragsgrün: aus meiner Sicht ist dies ein sehr komfortables Tool. Dabei können gewünschte Änderungen direkt im Antragstext markiert werden, und – bei Erfüllung der formalen Voraussetzungen – als Änderungsantrag eingebracht werden. Dazu ist ein Login in das grün-interne Netzwerk (früher als „Wurzelwerk“ bekannt) notwendig. Änderungsanträge können kommentiert werden, und es können für Entwürfe per Link „Unterschriften“ gesammelt werden. Alles sehr komfortabel – nur fehlt eine Funktion, mit der ein Überblick über die auf Unterstützung wartenden Anträge gegeben wird. So sind Menschen, die einen Antrag als Personenantrag einbringen wollen, darauf angewiesen, auf Facebook oder in Mailinglisten um Unterstützung zu werben.
Die einzelnen Änderungsanträge (Kapitel-Unterkapitel-Zeile-ggf.Nummer) können dann durch Tabs am Rand des Textes aufgerufen werden und werden beim Berühren mit der Maus in den Urtext des Antrags eingeblendet – siehe oben. Damit ist eine Arbeit nah am Programmtext möglich, und trotz einer großen Zahl an Änderungsanträgen bleibt die Übersicht erhalten.
Interessant ist angesichts dieser Änderungen im Verfahren nun die Frage, ob sich am Antragstellungsverhalten etwas verändert hat. Dazu habe ich die Liste aller Änderungsanträge mit Hilfe von Excel ausgewertet. Nicht berücksichtigt wurden hierbei die 13 Anträge, die sich auf das Programm insgesamt beziehen, und beispielsweise die Ersetzung bestimmter Begriffe im gesamten Programm behandeln, ebenso nicht die „Ur-Anträge“ des Bundesvorstands zu den einzelnen Kapiteln. Zurückgezogene Anträge wurden ebenfalls nicht berücksichtigt.
Insgesamt ergeben sich damit 2127 Änderungsanträge zum Wahlprogramm – das entspricht gut der am 4.5.2017 von Michael Kellner getweeten Aussage, dass rund 2200 Anträge eingegangen seien.
Wie ist die Zahl von 2127 Änderungsanträgen nun zu bewerten? Absolut betrachtet ist das eine große Zahl an Anträgen; soweit mir bekannt, auch im Vergleich zu anderen Parteien. Allerdings waren es 2013 mit rund 2500 Änderungsanträgen sogar noch einige mehr. Zu beachten ist dabei allerdings, dass der Programmtext, wie bereits angesprochen, diesmal um rund ein Viertel kürzer ausgefallen. Bezogen auf das Textvolumen (2013: rechnerisch alle 180 Zeichen im Programm ein Antrag; 2017: rechnerisch sogar alle 155 Zeichen im Programm ein Antrag) ist die Zahl sogar gestiegen.
Auffällig ist, das sei an dieser Stelle bemerkt, dass nur wenige Anträge Globalalternativen darstellen. Vielmehr geht es oft um einzelne Sätze oder bestenfalls Absätze. Das relativiert die sehr groß erscheinende Zahl etwas.
Es gab in verschiedenen Gremien die Ansage, sich doch bitte mit der Stellung von Anträgen zurückzuhalten. Auch – aber das ist meine persönliche Sicht – die Tatsache, dass der Text diesmal geschlossener und runder formuliert ist als 2013, hat nicht zu einer deutlich geringeren Zahl von Änderungsanträgen geführt. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass die Größenordnung sehr ähnlich ist wie 2013. Unkenrufe, dass es nur einige hundert Änderungsanträge geben würde, haben sich nicht bestätigt – und auch die Hoffnung auf ein deutlich vereinfachtes Verfahren auf dem Programmparteitag und auf einen stärkeren Fokus auf Abstimmungen dürfte sich aufgrund der immer noch sehr hohen Zahl an Änderungsanträgen nicht erfüllen.
Wie verteilen sich die Anträge nun auf das Programm? Ein direkter Vergleich mit 2013 ist hier nicht möglich, da das Programm anders aufgebaut ist. Es gibt vier große Kapitel („Umwelt im Kopf“, „Welt im Blick“, „Freiheit im Herzen“, „Gerechtigkeit im Sinn“ [sowie eine Präambel]), denen jeweils fünf bis sieben Unterkapiteln zugeordnet sind. 2013 waren dagegen kürzere Themenkapitel mit einer bereits vom Aufbau her stärkeren fachpolitischen Ausrichtung aneinandergereiht. Die folgende Abbildung gibt einen ersten Überblick über die Verteilung der Anträge auf die Kapitel.
Sichtbar wird dabei, dass Umwelt, Weltpolitik und Freiheit jeweils etwa gleich stark mit Änderungsanträgen bedacht wurden, während auf das Gerechtigkeitskapitel weniger Anträge – nur 17 statt 25–27 Prozent aller Änderungsanträge – entfallen.
Die Verteilung der Anträge lässt sich nun auch noch einmal auf die einzelnen Unterkapitel (und theoretisch dort auch noch einmal auf einzelne Zeilen …) herunterbrechen. Dann ergibt sich, ohne die leicht unterschiedliche Länge der Unterkapitel zu berücksichtigen, folgendes Bild:
Oder als Top-10 der am stärksten von Anträgen betroffenen Unterkapitel:
- WB-EZ („Wir kämpfen um Europas Zusammenhalt“): 160 Anträge (8%)
- WB-FU („Wir bekämpfen die Fluchtursachen und schützen Flüchtlinge“): 150 Anträge (7%)
- UK-BM („Wir sorgen für saubere, bezahlbare und bequeme Mobilität“): 136 Anträge (6%)
- WB-FM („Wir stehen ein für Frieden und Menschenrechte“): 123 Anträge (6%)
- FH-DS („Wir stärken die Demokratie“): 120 Anträge (6%)
- UK-GL („Wir sorgen für gesunde Lebensmittel ohne Gift und Tierquälerei“): 108 Anträge (5%)
- GS-SZ („Wir machen den Sozialstaat sicher und zukunftsfest“): 107 Anträge (5%)
- FH-SF („Wir sorgen für Sicherheit und erhalten die Freiheit“): 106 Anträge (5%)
- UK-UN („Wir erhalten unsere Natur“): 98 Anträge (5%)
- GS-KS („Wir investieren in Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten“): 95 Anträge (4%)
Aufschlussreich ist auch der Blick auf die Antragsteller*innen.
Die meisten Anträge, ein gutes Drittel – das hat sich durch die noch hinzugekommenen Anträge gegenüber der ersten Fassung dieses Textes noch verändert – sind Personenanträge (735, 35%). 2013 lag diese Zahl mit rund 47 Prozent aller Anträge allerdings noch deutlich höher – das betrifft sowohl die Personenanträge insgesamt als auch die von den Bundestagsabgeordneten gestellten Anträge. Von den Personenanträgen entfallen 200 auf MdBs (rund 9% aller Anträge), dazu kommt noch eine recht große Zahl von Anträgen aus dem europäischen Parlament. Insbesondere Volker Beck (52 Anträge), Beate Müller-Gemmecke (18 Anträge), Julia Verlinden (16 Anträge), Peter Meiwald (15 Anträge) und Franziska Brantner (14 Anträge) waren unter den MdB recht fleißig, bei den MdEP sind mit Anträge von Sven Giegold (20 Anträge) und Ska Keller (12 Anträge) aufgefallen.
Ein weiteres knappes Drittel der Anträge (624 Anträge, 29%) entfallen auf die Bundesarbeitsgemeinschaften (BAGen) der Partei. Das liegt in absoluten Zahlen noch einmal deutlich über den Antragsstellungen im Jahr 2013. Danach folgt mit rund einem Viertel der Anträge die Kreis- und Ortsverbände (zusammen 529 Anträge, 25%), Landesverbände (125 Anträge, 6%), sowie die Grüne Jugend (75 Anträge, 4%) und der Bundesfrauenrat (39 Anträge, 2%). Auch das alles entspricht in etwa den Zahlen aus dem Jahr 2013 – abgesehen von der Grünen Jugend, die 2013 noch 138 Anträge gestellt hatte, also 2017 nur etwa halb so aktiv war.
Anders gesagt: insbesondere gab es geringere Zahlen von Änderungsanträgen von Einzelpersonen sowie von der Grünen Jugend sowie mehr Änderungsanträge von den BAGen. Wer möchte, kann dies als eine Verschiebung von Einzelanträgen hin zu den fachlichen Gremien in der Partei, also den BAGen, lesen.
Bei den BAGen war 2013 die BAG Arbeit, Gesundheit, Soziales ganz vorne, gefolgt von der BAG ChristInnen. Diesmal sieht es so aus – mit einer Reihe von Parallelen zu den Kapiteln mit den meisten Anträgen:
- BAG Frieden und Internationales (80 Anträge)
- (GRÜNE JUGEND [75 Anträge])
- BAG Europa (55 Anträge)
- BAG Demokratie und Recht (50 Anträge)
- BAG Wirtschaft und Finanzen (45 Anträge)
- BAG Mobilität und Verkehr (40 Anträge)
- (Bundesfrauenrat [39 Anträge])
- BAG Globale Entwicklung (38 Anträge)
- BAG Tierschutzpolitik (31 Anträge)
- BAG Frauenpolitik (29 Anträge)
- BAG Arbeit, Soziales, Gesundheit (27 Anträge)
- BAG Energie (26 Anträge)
Trotz der Veränderungen im Antragstellungsverhalten hat die wie auch immer gefasste Parteibasis mit 2127 Anträgen insgesamt der Antragskommission doch eine erhebliche Arbeit beschert – weiterhin ein Zeichen für eine lebendige innerparteiliche Demokratie. Ich bin nun gespannt, wie auf dem Parteitag und in den vorgeschalteten Antragssteller*innen-Treffen mit diesen Änderungsanträgen verfahren wird.
Warum blogge ich das? Vor allem deswegen, weil sich meine Vermutung, dass es doch wieder eine sehr große Zahl an Änderungsanträgen geben wird, bestätigt hat.
Lieber Till, ich fand Deine Zusammenstellung sehr erhellend und habe sie gerne gelesen. Die Grünen sind halt ein debattenfreudiges Grüppchen. Das macht sie mir auch immer wieder sympathisch. Worauf du noch nicht Bezug genommen hast sind die absoluten Zahlen der übernommenen Anträge. Wenn von 2013 auf 2017 eine Verschiebung der Antragstellenden stattgefunden hat, zu Gunsten der BAGen. Könnte man postulieren dass die BAG Anträge in ihrer Gesamtheit damit auch ausgewogener sein könnten und ein höherer Anteil davon übernommen werden könnte – als das 2013 der Fall war. Damit hätte die im Vorfeld inhaltlich in Fachgremien geführte Debatte am Ende schon zu weniger Kontroversen Anträgen geführt. Eben durch besser gestellte und damit übernommene Anträge. Deswegen freue ich mich schon auf Deinen nächsten Artikel in welchem du den Anteil der zurückgezogenen, übernommenen und zur Abstimmung gesellten Anträge vergleichst.
Guter Hinweis, danke! Das systematisch auszuwerten, wäre etwas aufwändiger (auch wenn ich irgendwo sogar noch Scans der 2013 verteilten Verfahrensvorschläge haben müsste). Meine Erfahrung, die sich auch im „Aufblähen“ des 2013er-Programms spiegelt: nur ein geringer Teil aller Anträge wird abgestimmt. Sehr viel wird modifiziert übernommen – das kann aber auch bedeuten, dass aus einem längeren Text nur ein oder zwei Schlüsselworte im Programm landen. Hängt vom Verhandlungsgeschick der Antragsteller*innen ab. Ein kleinerer Anteil wird 1:1 übernommen. Dann gibt es noch die „für erledig erklärten“ Anträge – etwa durch eine sinngemäß ähnliche Übernahme an anderer Stelle. Zurückgezogene Anträge bleiben gar nicht so viele übrig – zum Teil ist auch das Zurückziehen mit Zusagen jenseits des Programmtextes verbunden (wir ziehen das jetzt zurück, aber dafür wird zugesagt, das Thema in Form zB einer Diskussionsveranstaltung weiter zu bearbeiten).