Die Landtagswahl in Baden-Württemberg liegt jetzt auch schon wieder zwei Wochen zurück, die ersten Gespräche zwischen den möglichen Koalitionspartnern GRÜNE und CDU haben stattgefunden, und ab 1. Mai läuft die Wahlperiode des 16. Landtags von Baden-Württemberg und er wird sich offiziell konstituieren. Anlass genug, um einmal der Frage nachzugehen, wer eigentlich im zukünftigen Landtag sitzen wird.
Das Wahlergebnis und die sich daraus ergebende Sitzverteilung ist bekannt: Bündnis 90/Die Grünen sind mit 47 Abgeordneten die stärkste Fraktion, gefolgt von der CDU mit 42 Abgeordneten, der AfD mit 23 Abgeordneten, der SPD mit 19 Abgeordneten und der FDP/DVP-Fraktion mit 12 Abgeordneten. Zusammen also 143, gewählt in 70 Wahlkreisen, über die Zweitverteilung der Mandate und über Ausgleichsmandate für den Überhang. Durch den Einzug der AfD, aber auch durch das Anwachsen der grünen Fraktion von 36 auf 47 Abgeordnete, das Wachstum der FDP/DVP-Fraktion sowie Wechsel bei CDU und der SPD sind 60 der 143 Abgeordnete neu im Landtag (knapp 42%). Einen bebilderten Überblick mit Kurzinformationen über die Abgeordneten der 16. Legislaturperiode hat der Landtag freundlicherweise bereits online gestellt.
Dort finden sich auch Zahlen zur weiterhin miserablen Geschlechterverteilung. Ein Ergebnis insbesondere der grünen Zugewinne ist ein leicht angestiegener Frauenanteil. Während zu Beginn der 15. Legislaturperiode der Frauenanteil bei 18,1 Prozent lag, wird er nun mit 24,5 Prozent angegeben. Von den 35 weiblichen Abgeordneten des 16. Landtags gehören 22, also fast zwei Drittel, der Fraktion GRÜNE an, die entsprechend einen Frauenanteil von 46,8 Prozent erreicht. Damit wird zum ersten Mal das grüne Ziel eines Geschlechterproporzes trotz des hierfür hinderlichen Einstimmenwahlrechts annähernd erreicht. Die Frauenanteile in den anderen vier Fraktionen fallen dafür, wie der folgenden Tabelle zu entnehmen ist, sehr niedrig aus.
Fraktion | Abgeordnete | dv. Frauen | Anteil Frauen |
GRÜNE | 47 | 22 | 46,8 % |
CDU | 42 | 7 | 16,7 % |
AfD | 23 | 3 | 13,0 % |
SPD | 19 | 2 | 10,5 % |
FDP/DVP | 12 | 1 | 8,3 % |
Landtag gesamt | 143 | 35 | 24,5 % |
Nach wie vor nimmt der baden-württembergische Landtag damit das Schlusslicht im deutschlandweiten Vergleich ein. Es ist sehr klar festzuhalten, dass der Landtag den Frauenanteil der Bevölkerung diesen nicht abbildet, sondern weiterhin stark männerdominiert ist. (Ähnliches dürfte für Migrationshintergründe gelten, die nur eine Handvoll der Abgeordneten mitbringen.)
Auch die Altersverteilung im Landtag weist – über alle Fraktionen hinweg – eine Besonderheit auf. Mit einem Median-Jahrgang von 1961 liegt das Alter, das die Abgeordneten in eine jüngere und eine ältere Hälfte teilt, bei rund 55 Jahren. Die Jahrgänge ab 1980 sind nur sehr dünn, bei der FDP/DVP und SPD gar nicht, vertreten. Die ältesten Abgeordneten ebenso wie den jüngsten Abgeordneten stellt die AfD (eine Polarisierung, die sich nicht nur in der Altersstruktur zeigt). [Erratum 31.03.2016: Sascha Binder, SPD, war von mir aufgrund eines Tippfehlers 20 Jahre älter gemacht worden, als er ist – das ist in der obigen Abbildung jetzt korrigiert. Am Median-Alter ändert sich dadurch nichts.]
Neben Alter und Geschlecht zeigen sich auch in der formalen Bildung und in der beruflichen Herkunft der Abgeordneten Besonderheiten. Soweit sich dies auf Lebensläufen im Abgeordnetenhandbuch, bei Wikipedia, auf Kandidatenseiten oder in Presseberichten rekonstruieren ließ, verfügen rund drei Viertel aller Abgeordneten über die Hochschulreife, zum Teil direkt erworben, zum Teil über den zweiten Bildungsweg nachgeholt. In der Bevölkerung insgesamt ist dieser schulische Abschluss laut Destatis/Mikrozensus dagegen weniger als halb so stark verbreitet, nämlich nur bei rund 30 Prozent der Bevölkerung. Diese starke Dominanz des Abiturs und der höheren formalen Bildung zeigt sich auch beim höchsten beruflichen Abschluss:
Auffällig ist hier zum einen, dass wiederum fast drei Viertel (73%) der Abgeordneten studiert haben – wobei die Angaben in den Biographien hier nicht immer ganz klar sind, z.T. verbirgt sich hinter „Studierte das Fach XYZ“ auch ein abgebrochenes Studium – während es in deutschen Bevölkerung (ab 25 Jahren) nur rund 18 Prozent sind, für Baden-Württemberg gibt das Statische Landesamt sogar nur eine Quote von knapp 16 Prozent an. Noch auffälliger sind diese Differenzen beim Blick auf die Promotion, die 19 Prozent der Abgeordneten, aber nur rund ein Prozent der Bevölkerung hinter sich haben.
Hier fällt dann allerdings auch auf, dass sich die Anteile der „Studierten“ und insbesondere der Abgeordneten mit „Dr.“ durchaus ungleich über die Fraktionen verteilen. Bei der FDP/DVP haben sechs von zwölf Abgeordneten einen Doktortitel, bei der AfD sind es 39 Prozent, bei CDU und SPD tragen 14 bzw. 16 Prozent der Abgeordneten den Titel, und in der Fraktion GRÜNE sind es „nur“ sechs Prozent. Hier ließe sich nun trefflich spekulieren, ob unterschiedliche berufliche oder politische Kulturen einen Titel bedeutender oder unbedeutender erscheinen lassen (jeweils sechs der Titelträger*innen sind Ärzt*innen bzw. Jurist*innen).
Umgekehrt findet sich der höchste Anteil der Nichtakademiker*innen nicht etwa bei der SPD, sondern – mit gewissen Unsicherheiten aufgrund sehr knapper Lebensläufe – bei der AfD und in der Fraktion GRÜNE.
Bleibt die vielleicht spannendste Frage: Welche Berufe haben die Abgeordneten? Diese so einfach klingende Frage ist durchaus knifflig. Das hat etwas damit zu tun, dass Beruf ein mehrdimensionales Gebilde ist (erlernter Beruf, ausgeübter Beruf, Status, Branche), und dass – zunehmend – Menschen eben nicht einen Beruf ausüben, sondern oft nacheinander unterschiedliche Berufe, oder gar nicht im erlernten Beruf arbeiten, sondern in einem ganz anderen. Zudem ist der baden-württembergische Landtag seit der 15. Legislaturperiode ein Vollzeitparlament. Eigentlich müsste die Berufsangabe bei allen Abgeordneten also „MdL“ lauten. Und schließlich lässt sich sicherlich darüber diskutieren, ob ein vor zwanzig oder dreißig Jahren ausgeübter Beruf heute noch nachwirkenden Einfluss auf Sozialisation und Weltsicht hat.
Dennoch ist es beim Durchblättern der Kurzbiographien auffällig, wie viele Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen sich im Landtag finden, auch Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher sowie Hochschuldozent*innen tauchen vielfach auf. Dazu kommt der öffentliche Dienst.
Ich habe versucht, ausgehend einerseits von frei verfügbaren biographischen Informationen über die Abgeordneten und andererseits ausgehend von der Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2008) – eine Alternative wäre die Berufeklassifikation der sozialversicherungspflichtigen Berufe gewesen – Abgeordnete einzelnen Branchen zuzuordnen. Dabei habe die letzte vor dem Landtagsmandat oder auch während des Landtagsmandats ausgeübte berufliche Tätigkeit herangezogen, bei Ruheständlern (einige in der AfD) die letzte berufliche Tätigkeit. Abweichend von der WZ 2008 habe ich zusätzlich eine Kategorie „Politik“ eingeführt, in die ich pragmatischerweise Bürgermeister, Landräte, parlamentarische Berater*innen, politische Büroleiter*innen und die Geschäftsführer*innen parteinaher Einrichtungen gesteckt. Eigentlich würden diese Erwerbstätigkeiten in der WZ 2008 vermutlich entweder unter „öffentlicher Dienst“ oder unter einer der Unterkategorien von „sonstige Dienstleistungen“ auftauchen; aufgrund der besonderen Rolle, die diese „Branche“ für Abgeordnete spielt, habe ich sie hier jedoch extra ausgewiesen. Die Branchenzuordnung bewegt sich ansonsten (mit Ausnahme der Rechtsanwält*innen und Steuerberater*innen) auf der oberen Aggregationsstufe. Ein Biobäcker und ein Beschäftigter eines Fruchtsaftabfüllers landen damit beispielsweise beide im „verarbeitenden Gewerbe“, ein in der Stadtverwaltung angestellter Architekt in der „öffentlichen Verwaltung“. (Ehemalige) Regierungsmitglieder habe ich hier zunächst wie andere Abgeordnete auch behandelt, d.h. sie nicht automatisch der Politik, sondern dem zuvor ausgeübten Beruf zugeordnet.
Die „Branchen-DNA“ der einzelnen Fraktionen unterscheidet sich demnach durchaus. Die Fraktion GRÜNE ist in der Herkunft aus unterschiedlichsten Dienstleistungsberufen bunt gemischt. Der „schwarze Block“ besteht hier vor allem aus ehemaligen parlamentarischen Berater*innen, die irgendwann Abgeordnete geworden sind. Das Vorurteil der Lehrerpartei bestätigt sich nicht, Rechtsanwält*innen (und Steuerberater*innen) sind im Vergleich zu den anderen Fraktionen eher unterrepräsentiert. Drei Abgeordnete kommen aus Land- und Forstwirtschaft (bei der CDU sind es zwei, bei der FDP einer).
Obwohl Minister und Staatssekretär*innen hier noch ausgeblendet sind, fällt bei der CDU der große Anteil der „Politikbranche“ auf – dahinter stehen eine ganze Reihe von (ehemaligen) Bürgermeistern sowie auch hier parl. Berater*innen und Ministerialreferent*innen. Daneben sind Unternehmensberatungen und die Führung von Unternehmen sowie Finanz- und Versicherungsdienstleister als Branche auffällig. Sozial- und Bildungsberufe sind eher unterrepräsentiert.
Die Abgeordneten der AFD sind Ärzt*innen, Unternehmer und Unternehmensberater, eine ganze Reihe „sonstiger Dienstleister“, aber auch Menschen mit einem Hintergrund im produzierenden Gewerbe und in Handel und Verkehr. Dazu kommen Hochschullehrer und eine Erzieherin.
Die SPD ist die Partei der Juristen, der Lehrer und der öffentlichen Verwaltung. Facharbeiter*innen – Fehlanzeige.
In der FDP/DVP schließlich gibt es zwei ehemalige Lehrer und einen Hochschullehrer, zwei Ärzte und zwei Rechtsanwälte – damit sind die größeren Blöcke abgebildet.
Wenn nun auch Regierungsämter, Fraktionsvorsitzende und Landtags(vize)präsident*innen auch noch der „Branche Politik“ zugerechnet werden, sind 40 der 143 Abgeordneten von ihrem letzten ausgeübten Beruf her Politiker*innen. Bei der SPD betrifft dies acht der 19 Abgeordneten in der geschrumpften Fraktion.
Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass der typische Abgeordnete des baden-württembergischen Landtags ein etwa 55 Jahre alter „biodeutscher“ Mann ist, mit Abitur und Studium, und einer Tätigkeit als Lehrer, Arzt, Rechtsanwalt, Bürgermeister oder Politikberater. Honorig, aber doch mit einer recht einheitlichen beruflichen Sozialisation (bei der CDU: inklusive Wehrdienst, bei SPD und Grünen: mit Zivildienst). Das Spektrum in der grünen Fraktion ist etwas vielfältiger (und sehr viel weiblicher), das in der AfD erscheint mit einer gewissen Polarisierung zwischen Ärzten und Unternehmern im Ruhestand einerseits und jüngere Abgeordneten aus Handel und produzierendem Gewerbe andererseits. Die CDU weist einen erstaunlich großen Anteil von Hörsaal-(Staatsministerium/Fraktion)-Plenarsaal-Karrieren auf, und die FDP/DVP bleibt die Fraktion der Herren Doktoren.
Warum blogge ich das? Weil ich einige dieser Zahlen, bei allen Erhebungs- und Deutungsproblemen, doch ganz interessant finde. Und mich frage, was der baden-württembergischen Politik verloren geht, weil bestimmte Perspektiven fehlen oder kaum im Landtag repräsentiert sind.
Sehr interessante Zusammenstellung! Danke für die Mühe, die du da reingesteckt hast. Ich war mir z.b. nicht bewusst, dass bawü den landtag mit dem geringsten frauenanteil hat, was ich ziemlich krass finde. Und ja, ich denke auch, dass dem Landtag wichtige Perspektiven verloren gehen, wenn fast nur akademikerInnen vertreten sind. Das ist ja wohl ein genereller trend. Sind dir Gründe bekannt, warum z.b. auch in der SPD immer weniger PolitikerInnen aus nicht-akademischen berufen vertreten sind?
(Übrigens, in der mobilen Ansicht, konnte ich die Datenschutz Erklärung nicht anklicken.)
Die glatte Akademiker*innenlaufbahn ist eher selten und hat oft kaum mit wissenschaftlichem Interesse zu tun. Es ist eher die Wissenschaft, die sich fragen müsste, nach welchen Kriterien Abschlüsse und Promotionen vergeben werden.
Damit bilden diese glatten Karrieren auch nur einen kleinen Teil der Realität ab. In den vergleichsweise vielfältigen, eher bunten Berufswegen bei der grünen Fraktion können sich vielleicht mehr Leute wiederfinden, auch wenn einige Bereiche (Arbeiter) auch hier komplett fehlen.
Das Problem ist generell eher die Alterszusammensetzung. Wie beim Genderverhältnis dürfte das zu einem nicht unerheblichen Teil auf das Wahlsystem mit der komplett dezentralen Kandidatennominierung zurückzuführen sein. So gibt es zumindest die Ahnung, dass Bewerber*innen, die im Leben bereits irgendwas vorzuweisen haben, es leichter haben könnten, in ihrem Wahlkreis zu überzeugen. Da in jedem Wahlkreis für sich genommen da ähnlich gedacht wird, ist es schwierig, in diesem Punkt auf Ausgewogenheit zu kommen, ausgenommen die Fälle gemeinsamer Nominierung wie in Karlsruhe. (Ich sehe im Übrigen bei der dezentralen Nominierung auch Vorteile, denn sie ist tendenziell barriereärmer und weniger anfällig gegenüber neuen Leuten, die lediglich eine gute Show abziehen.)
Vielen, vielen Dank für die große Mühe! Sehr spannend. Beim Alter und der SPD scheint dir jedoch Sascha Binder (Wahlkreis Geislingen, Jahrgang 1983) durchgerutscht zu sein.
Danke für den Hinweis! Und ja – bei mir in der Tabelle steht er mit Jg. 1963, was natürlich falsch ist. Werde ich korrigieren.
Vielen Dank für die Mühe. Die Ergebnisse sind sehr interessant und geben viel Stoff zum Nachdenken. Ich stelle mir gerade zwei Fragen: Wie sollte ein Parlament idealtypisch aussehen? Und wenn es ein sehr paritätisches Parlament sein sollte, das viele Gruppen der Gesellschaft repräsentiert, wie identifiziert man dann die Gruppen? Spannend!