SWR und Stuttgarter Zeitung haben eine neue Vorwahlumfrage für Baden-Württemberg veröffentlicht. Grüne und Landesregierung schneiden gut ab, eine Wechelstimmung gibt es nicht. Ich nehme das mal zum Anlass, um einen längeren Text zu veröffentlichen, der schon seit ein paar Tagen auf meiner Festplatte liegt – und bei dem ich mir gar nicht so sicher bin, ob ich die Schlüsse, die ich da beschreibe, eigentlich richtig finden soll. Insofern bin ich auf Reaktionen gespannt. (Ach ja: Dieses Kontext-Porträt passt auch gut dazu …)
Ein Erdrutsch in Zeitlupe hat die Partei erfasst. In acht – und wenn die Koalitionsvereinbarungen in Hamburg erfolgreich abgeschlossen werden, in neun – der sechzehn Bundesländer sind Grüne an der Regierung beteiligt. Und trotzdem bleibt eineinhalb Jahre nach der Bundestagswahl 2013 ein schales Gefühl. Weder die kleinstparteiliche Repräsentation im Bundestag noch das anhaltende Tief bei der bundesweiten Sonntagsfrage passen zum Anspruch des Mitregierens und Mitgestaltens. Für 2017 sehen die Optionen schal aus – Bundeskanzlerin Merkel könnte fürs Weiterregierung dann eine neue Partei gebrauchen, die sie nach vier Jahren als leere Hülle zurücklassen kann, aber eine Perspektive ist das nicht. Auf der anderen Seite steht Rot-Rot-Grün als nach wie vor blockiertes Rechenspiel. Auch darauf lassen sich, so scheint es, keine Kampagnen aufbauen.
Grüne waren schon immer eine multipolare Partei. Dies hat sich seit 2013, ja eigentlich schon seit 2011, noch einmal verstärkt. Derzeit liegt das grüne Kraftzentrum ganz sicher nicht in der Bundespartei und ebenso sicher nicht in der Bundestagsfraktion. Beide machen ihre Arbeit, beide mühen sich redlich – aber die große, mitreißende Erzählung inszenieren weder Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt noch Simone Peter und Cem Özdemir. Verfrühte Midlife-Crisis eines bundesrepublikanischen Erfolgsprojekts?
Schnitt: 2011 fügte sich in Baden-Württemberg das Unwahrscheinliche zur ersten grün-roten Koalition: Eine Bevölkerung, die längst fortschrittlicher war als die „Landespartei“ CDU, und die diese zunehmend als Belastung für das Land empfand. Ein CDU-Spitzenkandidat, der diese bräsige Rückwärtsgewandtheit ganz und gar verkörperte. Ein Bahnhofsprojekt und eine Reaktorkatastrophe, die für viele wohl der Anstoß waren, entschlossen zur Wahl zu gehen. Grün-Rot wurde Wirklichkeit, Winfried Kretschmann erster grüner Ministerpräsident, die SPD zum Juniorpartner, die CDU zur übergroßen Opposition, die aus ihrer nach wie vor vorhandenen Stärke in den Niederungen des Landes den Anspruch ableitete, „eigentlich“ vorne stehen zu müssen, die vom „Betriebsunfall“ redete.
2016 steht im Fünfjahreszyklus die nächste baden-württembergische Landtagswahl an. Wie diese ausgeht, ist offen und wird wohl letztlich davon abhängen, ob die FDP und/oder die AfD in den Landtag einziehen, oder ob dieser zu einem Drei-Parteien-Parlament wird. In den Wahlumfragen liegen Grüne und SPD knapp vor der CDU. Die Beliebtheitswerte des zum Landesvater gewordenen Ministerpräsidenten Kretschmann ähneln denen der Bundeskanzlerin, und auch die Arbeit der Regierung wird honoriert. Seit 2011 erreichen Grüne in Baden-Württemberg in den Meinungsumfragen – auch im Sog der landesväterlichen Beliebtheit – klar über 20 Prozent. In der letzten Umfrage (März 2015) sind es 25 Prozent, 63 Prozent der Bevölkerung sind mit der Regierungsarbeit zufrieden, 72 Prozent mit dem Ministerpräsidenten.
Ein deutlicher Kontrast zu den Werten auf Bundesebene, aber auch ein Kontrast zu anderen Bundesländern. Manche munkeln schon von einem „CSU-Effekt“, insbesondere im Umfeld der Zustimmung der baden-württembergischen Landesregierung zum „Asylkompromiss“ wurde dies laut. Kretschmann präsentiert sich, nein, verkörpert den ländlich verwurzelten, bürgerlichen, teilweise durchaus konservativen Grünen. Wertschätzung für die Wirtschaft ist bei ihm nicht gespielt, und ein gutes Gespür dafür, wie die Stimmung im Land ist, wie viel Veränderung zumutbar ist, und wo der Punkt liegt, an dem die Badnerinnen und Württemberger nicht mehr mitgehen, hat er ebenfalls. Die Chiffren der „Politik des Gehörtwerdens“ und der „Bürgerregierung“ stehen auch dafür, dass im Zweifel die Interessen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger über der Parteiraison stehen.
In fast allen Politikfeldern wurde so ein Kurs der sanften, nachholenden (ökologischen) Modernisierung eingeschlagen. Die grünen Neuerungen knüpfen, etwa beim Hochschulgesetz, bei der Wärmedämmung und selbst bei der Landesbauordnung, zu großen Teil an das an, was da ist. Die Richtung der Reformen gefällt nicht allen, aber sie verschreckt niemand. Da, wo es ruppiger zugeht, etwa beim Jagdgesetz oder bei der Durchsetzung des Nationalparks gegen erhebliche Widerstände, sind es im Kern die konservativsten Milieus des Landes, die auf die Straße gehen. Eine gewisse Ausnahme stellt die – im von der SPD geführten Kultusministerium ressortierende – Bildungspolitik dar. Zwar sind es auch hier Erzkonservative, die beispielsweise gegen den neuen Bildungsplan und die dort verankerte Leitperspektive der Toleranz für gesellschaftliche Vielfalt demonstrieren.
Es lässt sich jedoch feststellen, dass der strukturelle Wandel vom vielfach gegliederten Schulsystem zum Zwei-Säulen-Modell trotz aller Behutsamkeit – möglicherweise mit durch die Amtsführung der ersten sozialdemokratischen Kultusministerin, Gabriele Warminski-Leitheußer, verursacht – für Unruhe sorgte, auf die die Opposition aufbauen konnte. Statt das Schulsystem zu einem Stichtag auf eine Zweigliederung aus Gymnasien und Gemeinschaftschulen umzustellen oder gar die Vision „einer Schule für alle“ umzusetzen, hieß Behutsamkeit hier, die Gemeinschaftsschule als eine weitere Option im Schulgesetz vorzusehen und bestehende Schulen dazu zu ermuntern, zur Gemeinschaftsschule zu werden. Anders als in Hamburg gab es damit keinen Anlass für eine landesweite Gegenkampagne. In den meisten Orten, an denen Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden, werden diese durch Schule und Gemeinderat breit getragen – oft auch aus Einsicht in die Notwendigkeit sinkender Schülerzahlen hinein. Nur vereinzelt kam es zu Bürgerentscheiden und erfolgreichem Widerstand vor Ort.
Dennoch reichte die Einführung einer neuen Schulart und die Abschaffung der bisher geltenden verbindlichen Grundschulempfehlung gepaart mit recht weitreichenden Empfehlungen einer Kommission zur Reform der Lehrerbildung und nicht zuletzt der Ankündigung, aus fiskalischen Gründen Lehrerstellen abbauen zu wollen, dazu aus, das Bild einer kurslosen, chaotischen Bildungspolitik öffentlich festzusetzen; ein Bild, das Landtagsopposition und konservativere Lehrerverbände immer wieder auffrischten. Entsprechend fielen die Zufriedenheitswerte mit der Bildungspolitik in Meinungsumfragen schlecht aus; der Wechsel von Warminski-Leitheußer zu Andreas Stoch (ebenfalls SPD) sowie das Ende des strikten Sparkurses führten zu einer gewissen Entspannung, aber nicht zu Jubelstürmen.
Zurück zur grünen Lage: Ökologische und gesellschaftliche Modernisierung nur schrittweise umzusetzen, und gleichzeitig immer wieder Nähe nicht nur zur Wirtschaft, sondern auch zur Bevölkerung im ganzen Land – nicht nur in den urbanen und universitären Zentren als grünen Hochburgen – zu äußern, ja, bewusst eine Politik für ländliche Räume zu gestalten – all das enttäuscht gewisse Erwartungen. Wer aus Berliner Perspektive auf die Umsetzung des Bundestagswahlprogramms drängt, oder wer gedacht hat, dass ein grüner Ministerpräsident versuchen wird, das Lebensgefühl des Freiburger Vauban-Viertels zur Leitkultur des Landes zu erheben, sieht sich – oder hat sich – getäuscht. Dem stehen allein schon die Haushalts- und Verfassungswirklichkeiten beschränkter Landeskompetenzen entgegen. Dem steht aber vor allem der eben beschriebene Kurs der behutsamen Schritte und der Nähe zur Bevölkerung entgegen. Ein Raumschiff Stuttgart sehe ich nicht.
Bis dato ist dieser Kurs erfolgreich. Sollte 2016 die Wiederwahl gelingen (oder nur knapp scheitern), wird dies ebenfalls auf das Konto dieser Idee einzahlen, eine bürgerliche, durchaus ökologische, durchaus freiheitliche grüne Politik Schritt für Schritt umzusetzen.
Auf der anderen Seite, um auch das nicht zu vergessen, steigt die Zustimmung für die LINKE. Es gibt eine gewisse Unzufriedenheit bei bestimmten Bevölkerungsgruppen mit dem Fehlen einer radikalen Option, mit einer Verortung nicht in einem diffus-bürgerlichen, sondern in einem klar konturierten linken Lager. Wie weit – gerade in den Metropolen – Grüne diese Erwartungen mit abdecken können, ob gar die SPD ihre sozialdemokratischen Wurzeln wiederentdeckt – das bleibt abzuwarten.
Insgesamt betrachtet stehen Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg jedoch ziemlich gut da. Zum Teil mag dieser Erfolg an baden-württembergischen Besonderheiten liegen. An wirtschaftlicher Stärke und einer im Bundesvergleich geringen Arbeitslosigkeit, an starken und selbstbewussten Regionen, an konservativen und ländlichen Traditionslinien, aber auch an der doch recht selbstverständlichen Gleichzeitigkeit von Vielfalt und Tradition im Alltag der Menschen. Wer möchte, kann hier bis zum bis heute wirkmächtigen Bindestrich zwischen Laissez-Faire und Pietismus im Landesnamen zurückgehen, oder zur engen Verbindung zwischen Wirtschaftsstärke und Zuwanderung. Schon vor 2011 hat dieser Charakter des Bundeslandes (und die starke kommunale Verwurzelung sowie das Landtagswahlrecht mit seinen Besonderheiten) dazu beigetragen, dass der baden-württembergische Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen mit „Berlin“ fremdelte, wenn auch immer wieder zentrale Positionen mit Baden-Württembergern besetzt wurden.
Ein anderer Faktor, der – etwa im Vergleich zur Berlinwahl 2011 – herangezogen werden kann, ist die Persönlichkeit Kretschmanns.
Beides mag anderswo nicht gelten. Es bleibt jedoch die Frage, ob der, verkürzt gesagt, Kurs einer zurückhaltenden, geerdeten, maßvoll grünen Bürgerlichkeit auf Baden-Württemberg beschränkt ist, oder ob hier nicht ein Kern für eine grüne Erzählung liegen könnte, die über das 10-Prozent-Tal hinausweisen könnte.
Ein solcher Kurs ist ein Spagat, der es notwendig macht, die Ausdehnung in ganz unterschiedliche Milieus mit deutlich gezeigter Wertschätzung für die Stammwählerschaft und den Kern aktiver Mitglieder zu verbinden. Ein solcher Kurs bedarf eines klugen Erwartungsmanagements, um Erfolge und Veränderungen sichtbar zu machen, statt Enttäuschungen zu produzieren. Und ein solcher Kurs ist nur möglich, wenn die Orientierung stimmt, also plausibel gemacht werden kann, dass die kleinen Schritte in die richtige Richtung gehen. Sonst fehlt die Glaubwürdigkeit, die für nachhaltige Erfolge unabdingbar ist.
Der Blick auf innerparteiliche Diskussionsprozesse in Baden-Württemberg, vor allem aber in der grünen Partei insgesamt (aber auch im grünen und „alternativen“ Umfeld), zeigt, wie schwierig dieser Spagat ist. Das gilt erst recht, wenn in der Diskussion baden-württembergische Regierungspolitik und das innerparteiliche Karrierenetzwerk der Realos in eins gesetzt werden. Dass es hier Überschneidungen gibt, ist klar – im Reflex gegen die „Realos“ den Kurs einer behutsamen Erneuerung zu brandmarken, führt aber, meine ich, nicht weiter.
Etwas zugespitzt gesagt: Grüne sind dann erfolgreich, wenn es gelingt, die Menschen einzubinden und abzuholen, die in vielen Punkten längst grün denken, das aber – geblendet von Zerrbildern aus den 1980ern – selbst noch nicht wissen. Das gelingt nicht mit dem Insistieren auf reine Lehre, sondern im zuhörenden Zugehen auf die Menschen, und auch im Zugehen auf vorhandene Institutionen. Das scheint mir letztlich mehr wert zu sein, als immer und immer wieder Debatten der Selbstvergewisserung und der Nabelschau zu führen. Auch der Aufschlag zur „Freiheitspartei“ hatte letzten Endes mehr diesen Aspekt der abschließenden Identitätssuche als der Öffnung hin zur Gesellschaft. Diese Öffnung aber braucht es (ohne dabei die Identität zu verlieren). Denn wo sonst sollen die gesellschaftlichen Mehrheiten dafür herkommen, die Welt zu retten?
Warum blogge ich das? Weil ich neben den Erfolgen hierzulande auch ein zunehmendes Auseinanderdriften der Partei wahrnehme. Mit Sorge.
Hallo Till,
als im letzten Jahr zusammen mit den EP-Wahlen Kommunalwahlen sowohl in BaWü als auch in Sachsen stattfanden, kamen abends die Meldungen „Kopf-an-Kopf-Rennen in Stuttgart zwischen CDU und Grünen“ während wir im ostsächsischen Zittau lange zitterten, bis es für grün wenigstens für einen von 26 Sitzen im Stadtrat reichte. Andere Welten …
Damit, dass Grüne nicht nur mitregieren sondern sogar eine Regierung führen, habe ich daher keinerlei Erfahrungen. Deshalb erlaube ich mir eine ernst gemeinte Frage:
Du schreibst von „behutsamen Änderungen“, die grün-rot erreichen. Welche sind das und welche davon wären bspw. bei einer „aufgeklärten“ schwarz-roten Landesregierung vermutlich ähnlich ausgefallen?
VG Horst
Kann ich dir gerne drauf antworten, würde aber gerne erst wissen, was eine „aufgeklärte CDU-SPD-Regierung“ ist – die real existierende baden-württembergische CDU sehe ich da nicht. Was eine fiktive Großstadt-CDU in BaWü gemacht hätte, ist schwer zu beurteilen.
Oder noch mal anders: Ich kann dir sagen, was wir getan haben, was die CDU hier alles ganz furchtbar findet. Ob eine andere CDU das anders sehen würde, weiß ich nicht. Jedenfalls reicht das Spektrum von der Einführung der Gemeinschaftsschule (die eben nicht eine „Mittelschule“ ist), neuen Bildungsplänen (inkl. Toleranz und Bildung für nachhaltige Entwicklung) und der auskömmlichen Finanzierung der Hochschulen (hat die CDU nicht hingekriegt) über Forschungsschwerpunkte in der Nachhaltigkeit bis hin zu einem Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik, zu einer Landesbauordnung mit Begrünungs- und Stellplatzpflicht, einer Verschärfung der Wärmeschutzvorschriften (Klimaschutz), Vernetzungsaktivitäten zur Ressourceneffizienz und der Einrichtung des ersten Nationalparks. Und der FSC-Zertifizierung des Staatswalds. Neue Informationsrechte für Hochschulgremien und für BürgerInnen. Und, und …
Das klingt jetzt kleinteilig, ist es auch – aber so ist Landespolitik eben.
„Die Chiffren der „Politik des Gehörtwerdens“ und der „Bürgerregierung“ stehen auch dafür, dass im Zweifel die Interessen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger über der Parteiraison stehen.“
Das meinst du aber jetzt nicht wirklich ernst, Till, oder?
Gelebte Ba-Wü-Realität wird vielmehr doch beschrieben durch des Landesvaters Antwort auf die Frage „Eine Legislaturperiode ist kurz und die laufende schon deutlich mehr als zur Hälfte herum. Wird die Politik des Gehörtwerdens eine Floskel bleiben müssen?“, wie zu lesen unter http://www.kontextwochenzeitung.de/politik/147/hoeren-ja-aber-nicht-erhoeren-1974.html:
„Gott sei Dank habe ich das schon im Wahlkampf gesagt, dass „gehört“ nicht „erhört“ heißt und ich nicht die Absicht habe, Baden-Württemberg zum größten Debattierklub aller Zeiten zu machen. “
Das eklatatanteste Beispiel für grün-rote Volksverarsche scheint mir dabei natürlich der „S21-Filderdialog“ zu sein (was sich für Interessierte bei Bedarf gerne weiter ausführen lässt). Unterm Strich bleibt jedenfalls vor allem das Gefühl: „Bürgerbeteiligung ist gut, solange sie nicht stört.“ Als von den Regierenden gnadenhalber Gegebenes verspricht eine derart gewährte Beteiligung übrigens auch rentabel zu sein. Denn innerhalb der Industrie hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Projekte durch Beteiligungsverfahren in der Regel schneller durchgesetzt werden können.
Frustrierte Grüße
Markus
Ich meine das ernst – aber, deswegen schreibe ich da oben auch von Chiffren – gar nicht so sehr in Bezug auf konkrete Verfahren (ja, das Beispiel Filderdialog ist mir bekannt …), sondern in der (internen) politischen Abwägung, in der eben immer wieder auch die Bürgerinnen und Bürger bzw. potenziellen Wählerinnen und Wähler auftauchen.