Je nach Umfrageinstitut hat Schwarz-Gelb derzeit in den Umfragen eine eigene Mehrheit oder nicht. Anders gesagt: Tagesform und Fehlertoleranz entscheiden in den Umfragen über Top oder Flop. Wenn die CDU/CSU-FDP-Regierung am 22.9. keine eigene Mehrheit bekommt, gibt es nach derzeitigem Stand drei rechnerische Optionen, die eine Kanzlermehrheit im Bundestag mit sich bringen: Große Koalition CDU/CSU-SPD, eine Rot-Grün-Rote Koalition aus SPD, Grünen und LINKE oder Schwarz-Grün. Möglicherweise als vierte rechnerische Option auch CDU/CSU und LINKE – strukturell würde das zwar gut zusammenpassen, ist aber wohl noch unwahrscheinlicher als die anderen drei Möglichkeiten.
Sowohl die SPD als auch wir Grüne haben mehr oder weniger deutlich eine Zusammenarbeit mit dieser CDU ausgeschlossen. Die Hürden dafür, dass es hier erfolgreiche Koalitionsverhandlungen gibt, sind sehr hoch (und ja, das gilt auch für die SPD, die nach der letzten großen Koalition ziemlich zerrupft dagestanden ist). Auch die aus meiner Sicht sinnvolle links-grüne Koalition ist unwahrscheinlich, weil insbesondere die SPD sie nicht möchte.
Was aber passiert dann, wenn all diese Festlegungen eingehalten werden, und CDU/CSU-FDP keine Mehrheit hat?
Art. 63 GG (siehe auch Wikipedia) legt das fest:
Artikel 63.
(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.
(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.
(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
Interessant sind hier zum einen die strikten Fristsetzungen, die mit dem ersten Wahlgang (Art. 63 (1)) in Gang gesetzt werden, zum anderen die Mehrheitserfordernisse. Wird in der ersten Wahlphase – bei der mir unklar ist, ob sie direkt nach der Wahl stattfinden muss, bzw. in der ersten Sitzung des Bundestags, die spätestens 30 Tage nach der Wahl stattfinden muss, oder ob hier eine beliebige Pause möglich ist – die Kanzlermehrheit (50%der Mitglieder des Bundestages + 1 Stimme) nicht erreicht, läuft eine Frist von vierzehn Tagen (zweite Wahlphase), in der eine „normale“ Bundeskanzlerinnenwahl stattfindet. Hier zählt weiter die Kanzlermehrheit, wer gewählt ist, muss ernannt werden. Nach dem ersten Wahlgang plus vierzehn Tagen tritt mit Art. 63 (4) ein anderes Wahlverfahren in Kraft (dritte Wahlphase): Jetzt ist gewählt, wer die relative Mehrheit der Stimmen erreicht. Wenn zwar die relative Mehrheit, aber nicht die Kanzlermehrheit erreicht wird, liegt das Schicksal der Regierung in den Händen des Bundespräsidenten: Entweder ernennt dieser binnen sieben Tagen die neue Kanzlerin oder den neuen Kanzler, der/die im Bundestag dann allerdings keine eigene Mehrheit hat, oder aber der Bundestag wird aufgelöst, und es kommt innerhalb von sechzig Tagen (Art. 39) zu Neuwahlen.
Die Wikipedia hat hierzu ein schönes (gemeinfreies) Diagramm:
Spielen wir das mal durch. Am 22.9.2013 kommt es zu einer Konstellation, bei der weder CDU/CSU+FDP noch SPD+Grüne eine Mehrheit der Sitze haben. Im ersten Wahlgang, sagen wir mal am 4. Oktober, schlägt Bundespräsident Gauck vor, dass Angela Merkel weiterhin Kanzlerin bleiben soll. Allerdings sind die Koalitionsgespräche der CDU sowohl mit der SPD als auch mit den Grünen gescheitert. Merkel erreicht die Kanzlermehrheit nicht. Das Wahlverfahren tritt in seine zweite Phase. Bis zum 18. Oktober können aus der Mitte des Bundestags heraus Vorschläge gemacht werden. Am 10. Oktober gibt es einen erneuten Anlauf, Merkel zu wählen. Auch Peer Steinbrück wird vorgeschlagen. Die LINKE stimmt für Katja Kipping, was allerdings ungültig ist, da nach Geschäftsordnung des Bundestages mindestens ein Viertel der MdB den Vorschlag einreichen muss. Niemand erreicht eine Kanzlermehrheit. Es gibt Verhandlungen zwischen SPD und Grünen über eine Tolerierung durch die LINKE. Diese ziehen sich hin. Am 17. Oktober – noch innerhalb der 14-Tagesfrist – gibt es einen erneuten Wahlversuch. Medienöffentlich hat Steinbrück zwar verlautbaren lassen, dass er davon ausgeht, dass die LINKE jetzt mitstimmt, tut sie aber nicht. Sie bringt diesmal keinen eigenen Wahlvorschlag, enthält sich aber, so dass weiterhin niemand die Kanzlermehrheit erreicht.
Die dritte Wahlphase fängt an. Es gibt einen weiteren Wahlgang. Steinbrück schmeißt hin, dafür tritt für Rot-Grün Katrin Göring-Eckardt an (wem das zu unplausibel ist: dann eben Sigmar Gabriel oder Winfried Kretschmann – der Bundeskanzler muss nicht Mitglied des Bundestags sein). Nicht alle, aber genügend LINKE stimmen jetzt für Göring-Eckardt, so dass in einer Zitterpartie in diesem Wahlgang Göring-Eckardt um zwei Stimmen vor Merkel liegt. Eine Kanzlermehrheit erreichen aber weder Göring-Eckardt noch Merkel. Jetzt kommt es auf Gauck an: Macht er Katrin Göring-Eckardt zur Kanzlerin einer rot-grünen Minderheitsregierung – oder löst er den soeben frisch zusammengetretenen Bundestag auf und ruft Neuwahlen aus?
Warum blogge ich das? Um aus der fantasielosen „eine Stimme für X ist eine Stimme für die CDU“-Debatte herauszukommen.
Nettes akademisches Gedankenspiel.
Die Verfassungswirklichkeit in Deutschland ist aber so, dass der Bundespräsident erst dann eine Person vorschlägt, wenn die Mehrheiten klar sind.
Eine Verfassung gibt nur einen Rahmen vor; sie bzgl. Formalia darauf abzuklopfen, was alles möglich wäre, geht meistens an der Realität vorbei.
Und was macht der Bundespräsident, wenn es keine Person gibt, für die Mehrheiten klar sind, er also Neuland betreten muss?
Nichts macht der Bundespräsident dann. Er wartet ab.
Und warum steht dann in Art. 63 GG nicht das hier:
… sondern ein detailliertes Verfahren für den Fall, dass es eben keine Person gibt, für die es eine Kanzlermehrheit gibt? Kann ja mal vorkommen – und länger als ein, zwei Monate „Abwarten“ wird in Deutschland nicht durchzuhalten sein.
Weil das Grundgesetz nicht 2013 verabschiedet wurde, sondern 1949.
1949 war noch nicht klar, wohin sich die Verfassungswirklichkeit entwickeln würde. Da brauchte man klare Regeln für den Fall der Fälle.
Wäre der erste Bundespräsident ein machtbewusster Mann wie Adenauer gewesen, dann wäre das alles heute vielleicht anders. Es war aber Heuss. Die Macht in Deutschland liegt im Kanzleramt und im Bundestag.
Ja, und? Die Ziffern (2) bis (4) sind ja gerade dann interessant, wenn der Bundespräsident keinen erfolgreichen Vorschlag machen kann. Dann liegt die Macht im Bundestag herum, und irgendjemand muss sie aufheben.
ich glaube keine Sekunde, dass die SPD keine große Koalition eingehen würde.
Ich bin da auch skeptisch. Aber ich glaube schon, dass die SPD aus der letzten Großen Koalition was gelernt hat.
Sowohl die SPD als auch wir Grüne haben mehr oder weniger deutlich eine Zusammenarbeit mit dieser CDU ausgeschlossen.
Dürfte ich dafür um Quellen bitten? Mein Eindruck ist ein anderer. Die SPD scheint den Wahlkampf sogar so zu führen, dass sie für Koalitionsverhandlungen keine Wahlaussage ändern muss.
Letzte Woche war’s noch complicated – siehe http://de.reuters.com/article/domesticNews/idDEBEE96R00N20130728 – heute im Sommerinterview kommt wohl eine deutlichere Absage.
Ich lese da: „Damit widerspricht Kraft dem SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Norbert Römer. Er hatte einer großen Koalition erst vor kurzem eine deutliche Absage erteilt.“
Ich glaube allerdings nicht, dass Wahlaussagen zu diesem Thema besonders wichtig sind; es zählt die normative Kraft des Faktischen. Wenn am Abend des 22.9. weder Schwarz-Geld noch Rot-Grün eine Mehrheit haben, wird es zu einer großen Koalition kommen.
(Wer war’s nochmal, ich glaube die FAZ, die behauptet hat, Frau Kraft würde eine große Koalition im Bund schon deshalb anstreben, weil sie dann Bundespräsidentin werden könne?)
Deswegen schrieb ich ja auch, dass es letzte Woche noch „complicated“ war, dass aber gestern Steinbrück im ZDF-Sommerinterview dann (möglicherweise) dieses Fass zugemacht hat, indem er eine GroKo sehr kritisch bewertet hat.
ich verstehe nicht warum rot-grün-rot so verteufelt wird (nicht von dir). mal davon abgesehen dass das für mich meine traumkoalition und ne echte alternative zum status quo wäre, würde es doch vor allem der spd helfen so ein bündnis einzugehen. im zweifel kann das scheitern ja dann auf die linke geschoben werden und die spd geht gestärkt aus der situation heraus. ne tolerierte minderhaitsregierung auf bundesebene is natürlich undenkbar, aber die erfahrungen aus NRW zeigen doch dass man ne rot-grüne mehrheit eher erreichen kann wenn man die linke mit einbindet. seis nur um zu zeigen dass es mit denen nicht geht. für die grünen als eigentliche partei der mitte die mit allen parteien koalitionsfähig sind seh ich auch kein nachteile. einige bürgerliche grünwählerinnen würden abspringen aber viele linke dazukommen. traut euch mal was!
fyi
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestagswahl-2013-linke-will-tolerierung-von-rot-gruen-ausschliessen-a-915087.html
Danke für den Hinweis. Wenn ich Halina_Waw richtig verstehe, dementiert sie dieses Vorhaben. Sollte die LINKE das dennoch machen – formal vor der Wahl ausschließen, Peer Steinbrück (oder allgemeiner Rot-Grün?) auf keinen Fall tolerieren zu wollen, sollen sie das halt machen. Ich fände es blöd, und glaube ich nicht, dass die Aussicht, auf jeden Fall mit einer Stimme für die LINKE Merkel zu unterstützen (was dann mehr oder weniger der Fall wäre) dazu beiträgt, dass die LINKE WählerInnen überzeugt.
Ich kenne die Wählerschichten der Linkspartei nicht gut genug, um entscheiden zu können, ob das ein Fehler wäre. Aber ich weiß, dass es einige Leute gibt, die sagen: Keine Stimme einer Partei, die bereit ist, Steinbrück zum Kanzler zu wählen.
Möglicherweise befindet sich die Linkspartei hier in einem Dilemma.