Während es bei der SPD „Das Wir entscheidet“ heißt, lautet das Leitmotiv des am 2. Mai 2013 gestarteten Mitgliederentscheids von Bündnis 90/Die Grünen „Hier bist Du entscheidend!“. Nach der Urwahl ihrer SpitzenkandidatInnen setzen die Grünen damit zum zweiten Mal einen Beteiligungsakzent im Vorfeld der Bundestagswahl 2013.
In Anlehnung an „blended learning“, also die Mischung von Online- und Offline-Anteilen in Kursen und Seminaren, kann dabei von „blended participation“ gesprochen werden. Statt wie beim „Virtuellen Parteitag“ alleine auf „online“ zu setzen, integriert der Mitgliederentscheid „klassische“ Formen der parteiinternen Meinungsbildung mit Online-Aspekten. In den einzelnen Phasen gibt es dabei unterschiedliche Akzentuierungen.
Grundlage des Mitgliederentscheids ist das von der Bundesdelegiertenkonferenz vom 26. bis 28. April 2013 beschlossene Bundestagswahlprogramm. Dieses Wahlprogramm ist zunächst einmal in ganz herkömmlicher Weise entstanden: Eine vom Bundesvorstand eingesetzte Schreibgruppe hat einen Entwurf vorgelegt. Dieser wurde im Februar 2013 veröffentlich, so dass dann Mitglieder und Gliederungen Änderungsanträge dazu stellen konnten. Auf der Grundlage von Verfahrensvorschlägen wurden diese etwa 2500 Änderungsanträge von den Delegierten des Parteitags beraten und abgestimmt; das Gros der Anträge wurde dabei summarisch behandelt, nur in wenigen Fällen gab es Einzelabstimmungen.
Vor der Bundesdelegiertenkonferenz wurde der Programmentwurf in mehreren regionalen Programmforen vorgestellt und diskutiert; zudem gab es mehrfach die Möglichkeit, online Fragen dazu einzureichen. Die Rekordzahl an Änderungsanträgen dürfte mit der breiten Information in der Partei über den Programmprozess zusammenhängen, aber auch damit, dass Plattformen wie Facebook ebenso wie das parteiinterne „Wurzelwerk“ und Tools wie Mailinglisten und Pads selbstverständlich von den Mitgliedern und Gliederungen der Partei dazu genutzt wurden, Änderungsanträge zu schreiben, zu diskutieren und Unterstützungsunterschriften dafür zu sammeln. Einige Schlüsselprojekte wurden dabei im Diskussions- und Abstimmungsprozess verändert oder sogar neu eingefügt.
Ein Bestandteil des Wahlprogramms sind 58 Schlüsselprojekte; d.h. jedem der 18 inhaltlichen Kapitel des Wahlprogramms folgen drei, vier oder fünf Projekte, in denen konkrete politische Vorhaben beschrieben werden, beispielsweise eine verbesserte Kennzeichnungspflicht für gentechnisch hergestellte Lebensmittel, die Erhöhung und der Umbau des Bafögs, die Reform der Drogenpolitik oder den Ausbau des Breitband-Internetzugangs. Darüber, welchen dieser Schlüsselprojekte im Wahlkampf und in etwaigen Koalitionsverhandlungen besonderes Gewicht zukommen soll, soll nun der eigentliche Mitgliederentscheid Auskunft geben.
Dieser gliedert sich in eine Diskussionsphase (Mai 2013) und in die dezentrale Abstimmung. In der Diskussionsphase steht die Website http://www.gruener-mitgliederentscheid.de im Mittelpunkt. Auf dieser Website werden zum einen die 58 Projekte – gegliedert in die drei Themenbereiche „Moderne Gesellschaft“, „Gerechtigkeit“ und „Energiewende und Ökologie“ kurz vorgestellt. Jedes einzelne Projekt hat dabei eine eigene URL und kann über soziale Medien geteilt werden. Dahinter dürfte die Überlegung stehen, im parteiinternen Wahlkampf um die wichtigsten Projekte einen „handle“ für einzelne Projekte zu haben, mit dem Interessengruppen und einzelne Mitglieder diese bewerben können. Im Idealfall können sich hier virale Effekte ergeben. Zugleich führt jede Nennung eines der Projekte auf Plattformen wie Facebook, Google plus und Twitter zu halb-öffentlicher Sichtbarkeit sowohl des Themas als auch des partizipativen Verfahrens und ist damit doppelte Wahlkampfwerbung bereits in der Diskussionsphase.
Die Projekte können aber nicht nur extern beworben werden, sondern sind jeweils online diskutierbar. – allerdings nur für grüne Mitglieder. Dabei wird zwischen Kommentaren, die von allen abgegeben werden können, und „Argumenten“ unterschieden. Argumente – die Ausgangspunkte einer Diskussion – können nur grüne Mitglieder einbringen. Technisch wird dies dadurch erreicht, dass es zum Kommentieren Bewerten wie zum Schreiben von Argumenten auf der Mitgliederentscheids-Website notwendig ist, sich mit den Login-Daten des eigenen Wurzelwerk-Accounts einzuloggen. Die so abgegebenen Argumente zu den einzelnen Projekten sind öffentlich sichtbar. , und können – wiederum nur von Mitgliedern – kommentiert und bewertet werden. Sie können – nur von Mitgliedern – bewertet und von allen kommentiert werden. Die Projekte mit der meisten Zustimmung werden mit höherer Priorität angezeigt bzw. befinden sich weiter oben in den Listen der Schlüsselprojekte. [Absatz am 2.5., 21.00 überarbeitet, nachdem ich von @kre8tiv auf einen Faktenfehler hingewiesen wurde.]
Die Begrenzung auf Mitglieder beim Kommentieren hat verschiedene Effekte. Zum einen ist so sichergestellt, dass es sich – zumindest auf der Website, zumindest bei den Hauptargumenten – um eine parteiinterne Meinungsbildung handelt. Kommentare von Lobbygruppen oder konkurrierenden Parteien, die das in der Deliberation gewonnene Meinungsbild verfälschen könnten, werden ausgeschlossen in die Kommentarstränge verwiesen und klar von den Hauptargumenten getrennt. Zum anderen ist zu vermuten, dass die Begrenzung auf Mitglieder dieses Vorgehen das Aufkommen an Spam und beleidigenden Meinungsäußerungen deutlich reduziert und so den Moderationsaufwand für diese Kommentare minimiert. In diesem Sinne nicht kontrollieren lässt sich dagegen Meinungsbildung, die jenseits gruener-mitgliederentscheid.de stattfindet, etwa auf Facebook. [Absatz am 2.5., 21.00 überarbeitet, nachdem ich von @kre8tiv auf einen Faktenfehler hingewiesen wurde.]
Prinzipiell hat jedes Parteimitglied Zugangsdaten zum Wurzelwerk, das im Vorfeld der Bundesdelegiertenkonferenz modernisiert und in seiner Attraktivität deutlich aufgewertet wurde. Auch die Antragstellung bei der Bundesdelegiertenkonferenz erfolgte teilweise über ein mit dem Wurzelwerk verbundenes Antragstool. Daten zur Netznutzung durch Parteimitglieder weisen eine für die soziale Zusammensetzung von Bündnis 90/Die Grünen typische hohe Netznutzungsaffinität aus.
Dennoch wurde darauf verzichtet, die immerhin für die Kommunikation im Wahlkampf bedeutsame Entscheidung selbst online stattfinden zu lassen. Aus einer Teilhabe-Perspektive mag dies etwas damit zu tun haben, dass eben auch bei Bündnis 90/Die Grünen nicht alle Mitglieder das Netz nutzen, aus einer Wahlkampf-Perspektive dürfte es aber auch darum gehen, die Mobilisierungs- und Werbeeffekte des Mitgliederentscheids optimal zu nutzen. Der Entscheid selbst findet deswegen „offline“ statt: Jedes Mitglied bekommt einen Stimmzettel zugesandt und kann diesen per Briefwahl bis zum 8. Juni einreichen. Das soll allerdings der Weg der zweiten Wahl sein – in erster Linie setzt die Partei darauf, dass am 8. und 9. Juni 2013 möglichst alle Kreisverbände vor Ort Mitgliederversammlungen zum Mitgliederentscheid veranstalten. Diese können vom üblichen Setting einer kleinen Kreisversammlung mit 20 bis 30 Leuten bis zu Großveranstaltungen mit mehreren hundert Personen reichen.
Die dezentralen Veranstaltungen sollen durch einen Stream mit einem zentralen Event in Berlin verbunden werden. Unter anderem wird es dabei die Möglichkeit geben, die beiden auf der Website meistdiskutiertesten Projekte auf großer Bühne vorzustellen.
Im Mittelpunkt der dezentralen Veranstaltungen steht – egal, wie sie sonst gestaltet sind – der Wahlakt der anwesenden Mitglieder, die ihren zugesandten Stimmzettel vor Ort abgeben können. Aus den Ergebnissen der Kreisverbände und der Briefwahlstimmen wird das bundesweite Ergebnis des Mitgliederentscheids ausgezählt, und damit festgelegt, welchen Projekten im Wahlkampf eine besondere Aufmerksamkeit zukommt.
Durch die vorgeschaltete Diskussionsphase dürfte allerdings auch für andere Projekte die parteiinterne und mediale Aufmerksamkeit steigen, ebenso wie die dezentralen Wahlversammlungen demokratischer Akt und Event zugleich sind.
Demokratietheoretisch interessant ist die Frage nach den mit dem Entscheid verbundenen Risiken. Kann es sein, dass plötzlich völlig „schräge“ Themen an der Spitze landen? Hier bietet das gewählte Verfahren ein dreifaches Auffangnetz:
Erstens handelt es sich „nur“ um eine Auswahl unter den im Wahlprogramm insgesamt bereits beschlossenen Projekten. Damit wird ausgeschlossen, dass völlig neue Projekte an die Spitze gesetzt werden. Alle Projekte sind durch den „Filter“ aus Bundesvorstand, Antragskommission und Bundesdelegiertenkonferenz gegangen. Auf diesem Weg wurde beispielsweise verhindert, dass das Thema „umlagefinanzierter ÖPNV“, das von der Grünen Jugend vorgeschlagen wurde, den Weg ins Wahlprogramm fand. Damit steht es nicht zur Abstimmung im Mitgliederentscheid.
Zweitens wird mit dem Wahlverfahren verhindert, dass alle Projekte aus einem Bereich kommen. Wie bereits dargestellt, sind die 58 Schlüsselprojekte auf drei große Themenblöcke aufgeteilt. Jedes Mitglied kann nun je Themenblock drei Stimmen vergeben, dazu kommt eine „Joker“-Stimme. Es wird damit unwahrscheinlich, dass sich alle Stimmen in einem Themenblock massieren und nur Projekte aus einem Themenblock unter den neun Spitzenprojekten landen.
Drittens schließlich ist der Entscheid zwar in den Wahlkampf eingebunden, aber keine Urabstimmung im Sinne der Satzung. Die parteiinterne Bindewirkung der Abstimmung ist damit eine extern hergestellte, etwa durch Medienberichte über das Ergebnis. Sie hat aber nicht den bindenden Charakter eines Parteitagsbeschlusses. Entsprechend bleibt relativ wolkig, was genau die ausgewählten Projekte im Vergleich zu anderen Projekten auszeichnet, und in welcher Form diese in den Wahlkampf und gegebenenfalls in Koalitionsverhandlungen einfließen. Es geht nicht darum, zu entscheiden, welche Themen auf den Plakaten stehen, oder was auf jeden Fall in ein Hundert-Tage-Programm aufgenommen werden muss. Hier behalten sich der Bundesvorstand und die SpitzenkandidatInnen also Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten vor. Auch wenn aufgrund der angesprochenen externen Bindung zu vermuten ist, dass es einen gewissen Druck dafür geben wird, dass sich die Ergebnisse des Entscheids etwa in einem Kurzprogramm wiederfinden, es also ohne politische Verwerfungen nicht bei einer reinen Showveranstaltung bleiben kann, ist damit definitiv ein doppelter Boden eingezogen.
Der Erfolg des jetzt gestarteten Mitgliederentscheids wird sich meines Erachtens in drei Dimensionen bewerten lassen:
1. Mobilisierungswirkung: Wie viele Mitglieder nehmen an den Onlinedebatten und letztlich am Entscheid teil? Wie viele Kreisverbände veranstalten dezentrale Termine zum Mitgliederentscheid? Verändert sich der Bekanntheitsgrad zentraler Projekte in der grünen Anhängerschaft?
2. Öffentliche Sichtbarkeit – der Entscheid als Event: Wie sieht es mit der Medienberichterstattung über den Entscheid und über einzelne Themen aus? Gelingt es, Schlüsselprojekte viral zu verbreiten? Wird in den Medien über das Ergebnis berichtet?
3. Partizipative Wirkung – wird „Hier bist Du entscheidend!“ tatsächlich umgesetzt? Wie geht die Parteispitze mit den letztlich ausgewählten Projekten um? Entfaltet die Entscheidung der Mitglieder über die „neun wichtigsten Projekte unserer Regierungsbeteiligung“ (Website) tatsächlich eine Wirkung im Sinne einer Prioritätensetzung, die es ohne Mitgliederentscheid nicht gegeben hätte?
Unabhängig davon kann der Mitgliederentscheid, der in dieser Form neu in der deutschen Parteienlandschaft ist, als charmantes und kluges Experiment gesehen werden, den sicherlich auch dem Auftauchen der Piratenpartei zu verdankenden Beteiligungsschub konkret umzusetzen. Besonders interessant erscheint dabei aus meiner Sicht die konzeptionell gelungene Verkoppelung aus Online- und Offline-Elementen zu einer „blended participation“.
Warum blogge ich das? Weil ich spannend finde, was hier passiert, und seit dem Virtuellen Parteitag, der inzwischen auch schon wieder über ein Jahrzehnt zurückliegt, beobachte, was meine und andere Parteien mit Onlinekommunikation demokratisches anstellen.
Gute Analyse, Danke #@_tillwe_: Kleine Analyse zum #mitgliederentscheid #me13 – ich nenn’s „blended participation“ – http://t.co/egQ6W5Eyst“
Hallo Till, Sehr gut be-schrieben und be-worben,
macht geradezu Appetit wenigstens alle 58 Projekte zu lesen.
Und was ist, wenn der Koalitionspartner mit den ausgewählten Top-prioritäten Probelme hat ?
liquid democracy? RT @_tillwe_: So geht innerparteiliche Beteiligung im 21. Jahrhundert: http://t.co/S65Nkte6aq
Könnten sich andere ne Scheibe von abschneiden. RT @_tillwe_ So geht innerparteiliche Beteiligung im 21. Jahrhundert: http://t.co/7FKgrlGyes
“Blended Participation“ @_tillwe_ über mitgliederentscheid von @Die_Gruenen http://t.co/cP1HZGe4su #partizipation #parteien (via @drbieber)
Gratulation an Grüne: bekannte Partizipationsmöglichkeiten der #Piraten #wikiarguments #sdmv #dkpt sinnvoll verknüpft http://t.co/Gkocq1TfyS
Gute Zusammenfassung, war mir im Detail gar nicht so klar. Sollte auch intern stärker kommuniziert werden.
Ich kann mich nur anschliessen: Sehr gute Beschreibung und Zusammenfassung. Mir hat die Beteiligung und deren Organisation gefallen. Mir hat es viele Projekte und Ideen erst nahegebracht, von denen ich vorher nichts wusste (man kann ja nicht den ganzen Tag nur lesen). Und es fiel mir, und bestimmt den anderen Teilnehmer, sehr schwer nicht alles anzukreuzen, sondern 9+1 Projekte auszuwählen.