Tsunami quergelesen


Inter­net-Tsu­na­mi-Spi­ra­le nach Lachen­may­er et al. 2013, S. 262, Lizenz: CC-BY-NC-SA

Vor weni­gen Tagen ist eine Stu­die zur poli­ti­schen Öffent­lich­keit und Mei­nungs­bil­dung im Netz erschie­nen (Lachen­may­er et al. 2013). Neu an die­ser Stu­die ist der Fokus dar­auf, wie „Inter­net-Tsu­na­mis“ ent­ste­hen. Damit mei­nen die AutorIn­nen Reso­nanz-Phä­no­me­ne zwi­schen Netz­me­di­en, Mas­sen­me­di­en und letzt­lich der Poli­tik. Mit Hil­fe explo­ra­ti­ver Inter­views und anhand der vier Fall­bei­spie­le der Pla­gi­ats­af­fä­re um Gut­ten­berg, der Occu­py-Wall­street-Bewe­gung, dem Ara­bi­schen Früh­ling und der Anti-ACTA-Bewe­gung nähern die AutorIn­nen sich einer sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Beschrei­bung und Ana­ly­se die­ses Phänomens. 

Einen „Inter­net-Tsu­na­mi“ beschrei­ben sie dabei als „die the­men­be­zo­ge­ne Arti­ku­la­ti­on bestimm­ter poli­ti­scher Mei­nun­gen bzw. Posi­tio­nen von einer gro­ßen Anzahl an Men­schen in einem sehr kur­zen Zeit­raum.“ (Lachen­may­er et al. 2013, S. 17), die in sozia­len Medi­en zu „Infor­ma­ti­ons­kas­ka­den“ füh­ren und letzt­lich „durch die Leit­me­di­en wei­ter ver­stärkt [wer­den] und […] in der Bil­dung poli­ti­scher Mas­sen in der Off­line-Sphä­re [mün­den].“ (ebd.). Der Begriff wur­de in Ana­lo­gie zu rea­len Tsu­na­mis gewählt: unter­halb der Mee­res­ober­flä­che lie­gen­de Ereig­nis­se wie ein Unter­was­ser­be­ben füh­ren zu klei­nen Wel­len auf der Mee­res­ober­flä­che, die in ihrer (Zerstörungs-)Kraft erst spür­bar wer­den, wenn sie auf fes­ten Grund tref­fen, also das Medi­um wech­seln. Ent­spre­chend sehen die AutorIn­nen Inter­net-Tsu­na­mis so, dass zunächst ein­mal – auf ein aus­lö­sen­des Ereig­nis außer­halb des Net­zes hin – klei­ne „Wel­len“ von Kom­mu­ni­ka­tio­nen durch die ver­schie­de­nen Netz­wer­ke schwap­pen, sich ver­stär­ken, ihre eigent­li­che Kraft aber erst beim Medi­en­wech­sel in die klas­si­schen Mas­sen­me­di­en und auf die „Stra­ße“ – etwa in Form poli­ti­scher Mani­fes­ta­tio­nen und Demons­tra­tio­nen – zei­gen. Aus dem schein­bar harm­lo­sen Wort­wech­sel kann so tat­säch­li­che poli­ti­sche Ver­än­de­rung entstehen. 

Auf S. 162 ff. wird das Bild dann noch etwas dif­fe­ren­ziert – ins­be­son­de­re wer­den „repres­si­ve Momen­te“ mit­auf­ge­führt (die dem „Tsu­na­mi“ neue Ener­gie lie­fern, indem sie „die-gegen-uns“-Stimmungen beför­dern). Zudem wird das Auf­ein­an­der­sto­ßen zwi­schen Netz und „rea­ler Welt“ aus­dif­fe­ren­ziert und in drei „Medi­en­sprün­ge“ über­setzt: aus den vira­len Ver­brei­tun­gen und Dis­kus­sio­nen in sozia­len Netz­wer­ken zu Online-Able­gern der Mas­sen­me­di­en, von „online“ zu „off­line“, und schließ­lich zur Durch­drin­gung der rele­van­ten Off­line-Leit­me­di­en – denen dann tat­säch­li­che Wir­kung zuge­schrie­ben wird, und die auch online wie­der rezi­piert werden.

Das Bild, das Lachen­may­er et al. gewählt haben, ist zunächst ein­mal hilf­reich. Das beschrie­be­ne Phä­no­men ist nicht neu, son­dern konn­te in den letz­ten Jah­ren mehr­fach beob­ach­tet wer­den. Und wer hat bei den aus­ge­wähl­ten Fall­bei­spie­len wie ACTA nicht auch schon an ein „In-Schwin­gung-Ver­set­zen“ zwi­schen flui­dem Netz und eher soli­den Mas­sen­me­di­en gedacht? Inter­net-Tsu­na­mis? Meinetwegen.

Aller­dings hat der Begriff auch sei­ne Fall­stri­cke. Ins­be­son­de­re miss­fällt mir die strik­te Tren­nung zwi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on im Netz einer­seits und „rea­ler Welt“ (zu der dann auch die Mas­sen­me­di­en gezählt wer­den) ande­rer­seits. Es ist wohl rich­tig, davon aus­zu­ge­hen, dass die aus­lö­sen­den Ereig­nis­se für Inter­net-Tsu­na­mis sol­che sein müs­sen, denen rea­le Rele­vanz zuer­kannt wird. Aber schon das Erfah­ren von die­sen Ereig­nis­sen wird zumeist medi­al ver­mit­telt gesche­hen – in „klas­si­schen“ Mas­sen­me­di­en oder in Netz­kom­mu­ni­ka­ti­on. Die zwei­te Pha­se, die Pha­se der Reso­nanz im Netz, ist eben nicht nur das – es ist netz­werk­för­mi­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on, die durch Platt­for­men wie You­tube, Twit­ter, Face­book oder App.net erleich­tert wird. 

Aber die schö­ne Tren­nung zwi­schen „rea­ler Welt“ und „Netz“ muss ich lei­der ver­un­kla­ren: Wo steht die EMail oder die SMS, die wei­ter­ge­lei­tet wird? Wel­che Rol­le spie­len netz­werk­me­dia­le Ange­bo­te der Mas­sen­me­di­en? Was ist mit dem Power­point-Vor­trag auf einer „real­welt­li­chen“ Tagung, der eben­falls dazu bei­tra­gen kann, die selbst­re­fe­ren­ti­el­len Wel­len der Auf­re­gung wei­ter­zu­tra­gen und zu verstärken? 

Und schließ­lich die letz­te Pha­se, die Bre­chung der „Netz­wel­len“ in den klas­si­schen Mas­sen­me­di­en und klas­si­schen For­men des poli­ti­schen Akti­vis­mus. Auch hier ist der Pha­sen­über­gang im Bild des Tsu­na­mis ver­ein­facht – es gibt Rück­kopp­lun­gen, es gibt an sozia­len Medi­en par­ti­zi­pie­ren­de Jour­na­lis­tIn­nen, Demos auf der Stra­ße kön­nen wie­der­um wei­te­re Dis­kus­si­ons­zy­klen im Netz aus­lö­sen usw. 

In ana­ly­ti­scher Ver­ein­fa­chung erscheint der Inter­net-Tsu­na­mi ein­leuch­tend. Wer die­ses Bild als ana­ly­ti­sches Tool ein­set­zen möch­te, soll­te sich aber das alte sozio­lo­gi­sche Tho­mas-Theo­rem in Erin­ne­rung rufen: Wenn Men­schen Situa­tio­nen als real begrei­fen, dann sind sie in ihren Kon­se­quen­zen real. Die kla­re Trenn­li­nie zwi­schen Online- und Off­line-Welt, zwi­schen Netz und „rea­ler Welt“ ist so klar nicht mehr, wenn die­ses Theo­rem berück­sich­tigt wird. 

Eine zwei­te Kri­tik besteht dar­in, dass die AutorIn­nen der Stu­die teil­wei­se davon aus­ge­hen, dass es sich bei „Inter­net-Tsu­na­mis“ um gelenk­te, beab­sich­tig­te For­men des netz­po­li­ti­schen Akti­vis­mus han­delt, dass sie das Phä­no­men – vor allem in der Ana­ly­se ab S. 161 – aus einer Koch­buch­per­spek­ti­ve beschrei­ben. Die­se Vor­stel­lung, dass der­ar­ti­ge Tsu­na­mis bei geschick­tem stra­te­gi­schen Vor­ge­hen ganz bewusst aus­ge­löst und am Leben gehal­ten wer­den kön­nen, um schließ­lich eine von Anfang an geplan­te Ver­än­de­rung zu errei­chen, ist mir suspekt. Zwar wei­sen Lachen­may­er et al. (2013, S. 162f.) auf die Not­wen­dig­keit hin, die einem ent­spre­chen­den, bereits vor­han­de­nen Mei­nungs­kli­ma zukommt, und gehen inten­siv auch auf die not­wen­di­ge Qua­li­tät des aus­lö­sen­den Ereig­nis­ses ein: 

„Für die Set­zung des Inhalts ist das Timing ent­schei­dend, das sich maß­geb­lich nach dem gesell­schafts­po­li­ti­schen Kli­ma rich­tet. Hier spielt auch der Zufall eine fun­da­men­ta­le Rol­le. Nahe­zu stünd­lich ver­su­chen Nut­zer im Inter­net Empö­rungs­wel­len aus­zu­lö­sen. Der über­wie­gen­de Groß­teil die­ser Ver­su­che führt zu kei­nem Ergeb­nis.“ (Lachen­may­er et al. 2013, S. 162f.). 

Das ent­spricht mei­ner Wahr­neh­mung. Für Lachen­may­er et al. ist es Anlass, auf die Not­wen­dig­keit einer stra­te­gi­schen Beglei­tung hin­zu­wei­sen, um „Nach­hal­tig­keit“ und die „geziel­te Steue­rung von Auf­merk­sam­keit“ zu errei­chen. Im Bild des Tsu­na­mis wei­sen sie auf die Not­wen­dig­keit einer stän­di­gen Ener­gie­zu­fuhr hin. Gleich­zei­tig wei­sen sie selbst dar­auf­hin, dass 

„[d]as oben auf­ge­führ­te Sche­ma […] kei­ne kau­sal­me­cha­nis­ti­sche Bezie­hung auf­zei­gen [soll], da sich ein Inter­net-Tsu­na­mi nicht line­ar ent­wi­ckelt. Außer­dem ist die Betrach­tung eines Inter­net-Tsu­na­mis zum jet­zi­gen Zeit­punkt nur retro­spek­tiv mög­lich. Dar­um sind die Ein­zel­per­so­nen oder Inter­es­sens­grup­pen, die mög­li­cher­wei­se hin­ter einem Inter­net-Tsu­na­mi ste­hen, wenn über­haupt, auch nur retro­spek­tiv zu ermit­teln.“ (Lachen­may­er et al. 2013, S. 169, Herv. TW). 

Trotz die­ser War­nung durch­zieht die Hal­tung, Inter­net-Tsu­na­mis als zen­tral steu­er­ba­re Ereig­nis­se anzu­se­hen, das Ana­ly­se­ka­pi­tel. Der Wunsch, in Zukunft Tsu­na­mis in vitro zu ana­ly­sie­ren und zu len­ken, ist deut­lich her­aus­les­bar. Eine sol­che Hal­tung igno­riert die Netz­werk­struk­tur nicht nur sozia­ler Medi­en, son­dern auch der heu­ti­gen Gesell­schaft, die aus mei­ner Sicht ja gera­de durch einen Ein­fluss­ver­lust zen­tra­li­sier­ter Insti­tu­tio­nen gekenn­zeich­net ist. Klar kann es Steue­rungs- und Ein­fluss­nah­me­ver­su­che geben. Aber gera­de ACTA ist doch ein schö­nes Bei­spiel dafür, wie vie­le indi­vi­du­el­le, von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Hand­lun­gen und Kom­mu­ni­ka­tio­nen ein­zel­ner, ange­feu­ert durch mas­sen­me­dia­le und poli­ti­sche Rele­vanz, tat­säch­lich zu einem Resu­lat in Form der Ver­än­de­rung der poli­ti­schen Stim­mung geführt haben. 

Was dem Bild des Tsu­na­mis in der Ana­ly­se (in der Kon­klu­si­on klingt es anders) weit­ge­hend fehlt, ist der Cha­rak­ter eines „Natur­er­eig­nis­ses“, den die­ser bei gelun­ge­ner Aus­lö­sung ein­nimmt. Dazu gehört ganz fun­da­men­tal der Ver­lust von Kon­trol­le dar­über, wohin sich die­ses Ereig­nis bewegt. Ein gelun­ge­ner Inter­net-Tsu­na­mi – und da gleicht er sozia­len Bewe­gun­gen – ist eine Hydra, der abge­schla­ge­ne Köp­fe nach­wach­sen. Solan­ge es Wel­len gibt, kön­nen Insti­tu­tio­nen und Indi­vi­du­en dar­auf sur­fen, dür­fen sich aber nicht der Illu­si­on hin­ge­ben, die Rich­tung der Wel­len ändern zu können.

Es lie­ße sich über das kon­kre­te Ana­ly­se­tool „Inter­net-Tsu­na­mi“ hin­aus eini­ges zu der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Fun­die­rung der Stu­die sagen, die recht non­cha­lant von Haber­mas zu Luh­mann wei­ter­geht, um dann doch wie­der (sozia­les) Inter­net und Mas­sen­me­di­en in eins zu set­zen. Brauch­ba­rer erscheint mir hier der mit „poli­cy win­dows“ und „pro­blem win­dows“ argu­men­tie­ren­de poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Teil der Studie. 

Die auf die­ser Grund­la­ge in der Kon­klu­si­on her­aus­ge­ar­bei­te­ten Kern­merk­ma­le eines Inter­net-Tsu­na­mis erschei­nen mir dann durch­aus brauch­bar, um die­ses Phä­no­men fas­sen zu kön­nen (Lachen­may­er et al. 2013, S. 263f.). Dem­nach sind Inter­net-Tsu­na­mis (1) schwer vor­her­sag­bar, da sie sich nicht line­ar ent­wi­ckeln, und von mit „Such­sys­te­men“ (tech­ni­scher Art?) schwer erkenn­ba­ren „Off­line-Ereig­nis­sen“ abhän­gig sind. Ent­spre­chend sind Inter­net-Tsu­na­mis (2) nicht plan­bar. Sie sind vom gesell­schafts­po­li­ti­schen Kli­ma abhän­gig. Inter­es­sens­grup­pen kön­nen ver­su­chen, Tsu­na­mis aus­zu­lä­sen bzw. zu instru­men­ta­li­sie­ren – ob das gelingt, ist aber nicht vor­her­sag­bar. Etwas arg mas­sen- und zugleich tech­nik­pes­si­mis­tisch erscheint mir dann (3) die Ein­schät­zung, dass Online­mas­sen­phä­no­me­ne in höchs­ten Maß anfäl­lig für „Fehl­in­for­ma­tio­nen und Mani­pu­la­ti­on“ (S. 264) sei­en, auf­grund der „Wei­ter­lei­tungs­ge­schwin­dig­keit, der Ver­net­zungs­dich­te und des Ver­trau­ens­über­tra­ges“ (ebd.) im Inter­net; die Infor­ma­ti­on wird intel­lek­tu­ell nicht durch­drun­gen, Click-Akti­vis­tIn­nen las­sen sich vom Sog der Mas­se mit­zie­hen. All das also ganz anders als das, was z.B. in und mit Fern­seh­talk­shows pas­siert. Rich­tig erscheint mir (Stich­wort Strei­sand-Phä­no­men) dage­gen (4) die Ein­schät­zung, dass Repres­si­ons­ver­su­che eher die Auf­merk­sam­keit für Inter­net-Tsu­na­mis erhö­hen und die­se gleich­sam anfeu­ern. Unter­drü­ckung wirkt also kon­tra­pro­duk­tiv. Schließ­lich ent­schlie­ßen sich die AutorIn­nen zu der gar nicht so gewag­ten Pro­gno­se, dass (5) Inter­net-Tsu­na­mis zukünf­tig zuneh­men wer­den.

(Bei die­sem letz­ten Punkt stel­le ich mir aller­dings die Fra­ge, ob das nicht die Anpas­sungs­fä­hig­keit von a. Indi­vi­du­en und b. sozia­len Teil­sys­te­men an neue Gege­ben­hei­ten unter­schätzt. Der beschrie­be­ne Wirk­me­cha­nis­mus eines Inter­net-Tsu­na­mis beruht in den als kata­ly­sie­rend erkann­ten Medi­en­sprün­gen mas­siv dar­auf, dass mas­sen­me­dia­le Auf­merk­sam­keit auf Netz­phä­no­me­ne fällt. Je häu­fi­ger Tsu­na­mis-in-the-making im Netz auf­tau­chen, des­to unin­ter­es­san­ter wer­den sie für die Nach­rich­ten­fil­ter der Mas­sen­me­di­en, des­to schwe­rer wird es also, deren Auf­merk­sam­keit zu errin­gen. Online-Unter­schrif­ten­samm­lung, anyone?)

War­um blog­ge ich das? Ursprüng­lich, weil ich schau­en woll­te, ob die aktu­ell lau­fen­de #auf­schrei-Debat­te sich mit die­sem Tool beschrei­ben lässt – Falk Stei­ner hat­te das, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re, vor­ge­schla­gen. Beim genaue­ren Lesen der Tsu­na­mi-Stu­die schwand dann aber mein Inter­es­se dar­an, das Tool ana­ly­tisch ein­zu­set­zen. Ver­mut­lich ist die Ant­wort bzgl. #auf­schrei „ja“ – mit mas­sen­me­di­al trans­por­tier­tem aus­lö­sen­den Ereig­nis (Brü­der­le-Arti­kel im STERN), anschwel­len­der netz­me­dia­ler Debat­te, der Bün­de­lung im Tag #auf­schrei und dem erneu­ten Über­sprung in Mas­sen­me­di­en – erst schnell und online, dann auch auf den Off­line-Titel­sei­ten und in der Tages­schau – passt #auf­schrei in die­ses Sche­ma. Die Fra­ge nach dem „Und nun?“ bleibt.

Lite­ra­tur

Lachen­may­er, Jan et al. (2013): Inter­net-Tsu­na­mis. Poli­ti­sche Mas­sen im digi­ta­len Zeit­al­ter. Ber­lin: xai­dia­lo­ge, URL: http://www.internet-tsunamis.de, Abruf 27.01.2013. Sei­ten­zah­len und Zita­te nach dem PDF der Stu­die, Ver­si­on 1.1.

6 Antworten auf „Tsunami quergelesen“

  1. Hal­lo Till, 

    dan­ke für Dei­ne detail­lier­te Aus­ein­an­der­set­zung mit der Stu­die. Wir füh­len uns dabei rich­tig wie­der­ge­ge­ben und ver­stan­den. Drei Anmer­kun­gen zu Dei­nen Ausführungen:

    1. Die Kri­tik der Tren­nung zwi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on im Netz und „rea­ler Welt“ tei­len wir im Prin­zip. Für uns besteht die­se eigent­lich auch nur als ana­ly­ti­sche Hilfs­kon­struk­ti­on. Wir gehen mitt­ler­wei­le dazu über von on- und off­line Kom­mu­ni­ka­ti­on zu spre­chen. Hast Du einen bes­se­ren Vorschlag? 

    2. Aus unse­rer Sicht sind Inter­net-Tsu­na­mis nicht steu­er­bar oder lenk­bar, wohl aber kön­nen sie beein­flusst wer­den. Dazu wer­den eben Mecha­nis­men ange­wandt (expli­zit oder impli­zit) die wir im Kapi­tel Social Cam­paig­ning genau­er aus­füh­ren. ACTA ist ein schö­nes Bei­spiel dafür, wie sich Netzpolitik.org, sehr erfolg­reich sol­cher Mecha­nis­men bedient hat. Poli­ti­sche Mas­sen kön­nen durch geziel­te und stra­te­gi­sche Plat­zie­rung von The­men für gut orga­ni­sier­te Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen instru­men­ta­li­siert wer­den, müs­sen sie aber nicht! „Den­noch soll­te von Steue­rungs­phan­ta­sien (…) Abstand genom­men wer­den. Obwohl in Retro­spek­ti­ve durch Kam­pa­gnen­struk­tu­ren oft­mals initi­al Ein­fluss genom­men wur­de, sind deren (Miss-)Erfolg pro­spek­tiv kaum plan­bar. Die Netz­werk­ar­chi­tek­tur des Inter­nets und des­sen Beschaf­fen­heit als nicht­li­nea­res Medi­um begüns­tigt Selbst­auf­schau­ke­lungs­ef­fek­te und erleich­tert eine Mobi­li­sie­rung, macht die­se aber auch umso unbe­re­chen­ba­rer. Impul­se kön­nen oft­mals das genaue Gegen­teil der inten­dier­ten Wir­kung bewir­ken.„ (PDF, Sei­te 247) Es sind eben, wie Du selbst sagst, sozia­le Mas­sen­phä­no­me­ne. Die Aus­füh­run­gen ab S. 161 sind daher gera­de nicht als Koch­buch­re­zept zu ver­ste­hen, son­dern als abs­trak­tes Sche­ma von Mus­tern und Mecha­nis­men, die einen stark beschrei­ben­den Cha­rak­ter haben.

    3. Und zum letz­ten Punkt, was die Häu­fig­keit an Inter­net-Tsu­na­mis angeht. Gut mög­lich, dass sich ein „Gewöh­nungs­ef­fekt“ für The­men aus dem Netz ein­stellt. Aller­dings glau­ben wir dar­an, dass sich poli­ti­sche Mas­sen zukünf­tig ver­mehrt on- und off­line bzw. in der Kom­bi­na­ti­on bei­der, zur Mei­nungs­ar­ti­ku­la­ti­on zusam­men­fin­den. Der Trend, weist aus unse­rer Sicht in Rich­tung Pro­test- und Bewe­gungs­ge­sell­schaft und poli­ti­sche Mei­nungs­äu­ße­run­gen, mehr oder weni­ger loser Inter­es­sen­grup­pie­run­gen neh­men dem­nach zu. 

    Bes­te Grüße,
    Jan

    1. Dan­ke für die direk­te Kommentierung!

      Zu 1. fällt mir auch nicht so viel mehr ein. Nach­den­kens­wert fin­de ich es aber, mal zu schau­en, ob es sich nicht letzt­lich um Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on bzw. „Klein­grup­pen­kom­mu­ni­ka­ti­on“ unab­hän­gig vom tech­ni­schen Medi­um han­delt, die bei­de ver­netzt statt­fin­den, wobei letz­te­re neu­er­dings in tech­ni­schen Medi­en statt­fin­den kann (und damit in ihrer Wir­kung um ein Viel­fa­ches beschleu­nigt ist), die bis­her nicht mög­lich waren. (Eini­ges von dem, was Jan-Felix Schra­pe in sei­ner Netz­so­zio­lo­gie so macht, könn­te hier ganz anschluss­fä­hig sein).

      2. Ok, so ver­stan­den sind wir da weit­ge­hend einig – ich befürch­te halt, dass die Koch­buch-Dar­stel­lung den einen oder ande­ren Social Media Opti­mi­zer dazu ver­lei­tet, dar­in das Non­plus­ul­tra erfolg­rei­cher Kam­pa­gnen im Netz zu sehen.

      Und zu 3.: Den Trend hin zum poli­ti­schen For­mat des kurz­fris­ti­gen, pro­jekt­för­mi­gen und dis­kur­si­ven Zusam­men­schlus­ses von Akti­ven hal­te ich für plau­si­bel (Cas­tells, Cas­tells, Cas­tells, …), mein Argu­ment hin­sicht­lich der Abnut­zung von Tsu­na­mis war aber ein ande­res: Der­zeit machen Mas­sen­me­di­en ganz defi­ni­tiv noch eine Unter­schei­dung zwi­schen Online und Off­line. Sie sehen sich noch immer (mit abneh­men­der Ten­denz) als ganz in der Off­line­welt ver­an­ker­te Ver­an­stal­tun­gen, die ihre Füh­ler in den Online­be­reich aus­stre­cken und für sich auch die Auf­ga­be rekla­mie­ren, „online“ für ihre Off­line-Lese­rIn­nen nach Sto­rys hin abzu­tas­ten (das schreibt ihr unge­fähr so auch, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re). In die­ser Kon­fi­gu­ra­ti­on ist „im Netz rot­ten sich zehn­tau­sen­de unter dem Hash­tag #xyz zusam­men“ selbst schon eine Nachricht. 

      Je mehr nun Mas­sen­me­di­en sich nicht mehr als Off­line-Medi­en sehen (z.B. durch den Gene­ra­tio­nen­wech­sel der Jour­na­lis­tIn­nen hin zu einer mit Social Media sozia­li­sier­ten Gene­ra­ti­on, z.B. durch die zuneh­men­de Ablö­sung der Mar­ke vom Sen­de­me­di­en), und je häu­fi­ger das The­ma „im Netz gibt’s einen Tsu­na­mi“ gebracht wur­de, dest­wo gerin­ger ist der Nach­rich­ten­wert einer Netz­ak­ti­on (in ihrer Form). Damit wird der Sprung von online nach off­line (um die­se ana­ly­ti­sche Tren­nung zu gebrau­chen) unwahr­schein­li­cher. Was bleibt, ist der Nach­rich­ten­wert des poli­tisch-the­ma­ti­schen Kerns – für den die sel­ben Auf­merk­sam­keits­re­geln gel­ten wie für alles ande­re. Anders gesagt: Vor ein paar Jah­ren war „da machen Leu­te eine vir­tu­el­le Demo“ noch eine Nach­richt, und eine Online­pe­ti­ti­on mit 100.000 Unter­schrif­ten hat­te Titel­sei­ten­cha­rak­ter. Heu­te ist „Leu­te im Netz regen sich mas­sen­haft über xyz auf und orga­ni­sie­ren sich“ eine Nach­richt – bald wird sie es nur noch sein, wenn es wirk­lich vie­le sind, wenn das The­ma als The­ma reso­nanz­fä­hig ist (was bei #auf­schrei z.B. der Fall ist) oder wenn es wirk­lich schnell geht mit der Mobilisierung.

      ((Und der nächs­te Schrit­te wäre es dann, über die Rol­le von Bewe­gungs­in­sti­tu­tio­nen in flui­den und tem­po­rä­ren Netz­wer­ken poli­ti­scher Betei­li­gung nachzudenken …))

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