Was haben digitale Demokratie, fahrscheinloser Nahverkehr, das bedingungslose Grundeinkommen und Umsonstläden gemeinsam? All das sind Ideen, die schon einmal populär waren. Und diese vier sozialen Erfindungen, um einen Begriff von Robert Jungk zu gebrauchen, sind sicherlich nicht die einzigen radikalen Forderungen, die in den letzten Jahren wiederentdeckt oder neu erfunden werden. Und zwar nicht im Spannungsfeld von Farce und Tragödie.
Vor einiger Zeit habe ich die Piratenpartei – als Bewegung verstanden – mit den damaligen neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre verglichen und eine ganze Reihe – oberflächlicher? – Ähnlichkeiten gefunden. Die Wiedergänger der radikalen Ideen, aber auch der Charakter der Piraten als einer gesellschaftlichen Partizipationsbewegung wirft für mich die Frage auf, was hinter diesem periodischen Wiederaufleben steckt, für das sich vermutlich noch viele weitere Beispiele finden lassen würden. Sei es Occupy und die soziale Revolte der 1960er, vielleicht auch der Naturschutz- und Ökogedanke, der ebenfalls in Wellenbewegungen immer wieder auftaucht.
Klar ist jedenfalls: linearer Fortschritt ist das nicht. Eher schon eine zyklische Bewegung, ein langsamer Pendelschlag des Zeitgeists zwischen einem gesellschaftlich-solidarischen und einem egozentrisch-eigennützigen Pol. Das ist jedenfalls das Bild, das mir aktuell am passendsten erscheint.* Sobald eine Denkrichtung gesellschaftlich massiv dominant wird – die neoliberalen 1980er Jahre Reagans, Thatchers und Kohls, geistig-sozial gewendet – beginnt es zu rumoren, fangen Gegenbewegungen an, an Gewicht zu gewinnen. Das Bild des Pendelschlags hat allerdings den Nachteil, Assoziationen zu einem harmonischen, Yin und Yang zusammenführenden Kreislauf der Extreme zu wecken. Oberflächlich gibt es zudem Ähnlichkeiten zum Simmelschen Modebegriff (Simmel 1885, vgl. Gronow 1993), zum steten Wechsel von lang und kurz, bunt und grau, angetrieben durch den Motor der Abgrenzung. Anders als die Frage der Haar- und Rocklänge geht es bei diesem Pendelschlag hier jedoch um Substanzielleres.
Ich will also weder Harmonie noch Oberflächlichkeit suggerieren. Die Pendelbewegungen, die alte Ideen neu hervorbringen, sind, aus einer anderen Perspektive betrachtet, immer heftige Auseinandersetzungen um Diskurshoheiten und gesellschaftlich dominante Ideen. Sie sind soziale Kämpfe. Vielleicht haben sie auch etwas mit den langen Innovations- und Konjunkturwellen zu tun, die die ökonomische Situation der Gesellschaft prägen (vgl. Huber 1988).
Ob es diese Pendelbewegungen tatsächlich gibt, ob es andere Gründe für das Neuentdecken bestimmter sozialer Erfindungen gibt, oder ob der ganze Eindruck, der sich mir aufdrängt, nur ein Artefakt meines subjektiven Blickes ist, in dem ich Dinge bündele, die nichts miteinander zu tun haben, kann ich an diesem Punkt nicht letztgültig entscheiden.
Verbunden damit ist die Frage danach, warum sich diese immer wieder auftauchenden sozialen Inventionen und Innovationen letztlich nicht durchsetzen. Um über diese Frage nachzudenken, erscheint es mir hilfreich, kurz auf die vier eingangs genannten Beispiele einzugehen.
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Beispiel 1 – Umsonstläden – der erstaunlich umfangreiche Wikipedia-Beitrag zu Umsonstläden beschreibt diese als
[…] privates, sozial oder politisch motiviertes Projekt, wo neue oder gebrauchte Gegenstände zur kostenlosen Mitnahme bereitgestellt sowie tauschfrei mitgenommen werden können.
Dahinter steckt eine theoretische und hier praktisch gewordene Debatte um Kapitalismuskritik, um Waren- und Tauschwerte, um die Möglichkeiten einer gemeinsamen Ökonomie, aber auch um das ökologische Unbehagen an der Wegwerfgesellschaft. So weit ich das sehe, sind Umsonstläden in der deutschen Alternativszene seit etwa 1999 wiederentdeckt worden. Laut Wikipedia-Artikel gibt es derzeit etwa 60 solche Einrichtungen.
Ich habe selbst mal im Umsonstladen in Freiburg mitgearbeitet, und mich damals auch ein bisschen mit den Hintergründen dieser Idee beschäftigt. Dabei bin ich auf den mich zunächst erstaunenden Umstand gestoßen, dass Umsonstläden eben keine neue Idee sind. In der Wikipedia heißt es dazu:
Die Diggers waren Ende der 1960er Jahre eine Aktionsgruppe mit politisch-künstlerischen Hintergrund im Haight-Ashbury District in San Francisco. Ob ihrer anarchistischen Geldkritik betrieben sie von 1966 bis 1968 u. a. einige „Free Stores“. Einen in der 1762 Page Street, einen zweiten in der 520 Frederick Street sowie einen dritten in der Cole Street mit dem Namen „The Trip Without A Ticket“. Zusätzlich verteilten sie täglich „free food“ in Berkeleys Civic Center Park. […] Auch in anderen Städten gab es Free Stores der Diggers. Beispielsweise in New York in der 264 East Tenth Street (Lower East Side). Diesen Vorbild folgend gab es in dem Ort Cotati in Kalifornien einen Freestore vom Ende der 60er Jahre bis 1983.
Mit etwas mehr Recherche würden sich ähnliche Vorläufer vermutlich auch zu noch früheren Zeitpunkten finden lassen, etwa in nach urchristlichen Ideen lebenden Kommunen, oder, um noch weiter zurückzugehen, in den Allmennden von Subsistenzgesellschaften.
Die Experimente der 1960er in den USA (vgl. Anderson 1995) – hier die Idee Umsonstladen – wurden in Deutschland durchaus rezipiert. So wird beispielsweise das Schicksal der Digger-Shops („niemand brachte mehr, als er mitnahm“**) im Eintrag „Alternative Ökonomie“ im Band Neuer Lebensstil – verzichten oder verändern? als Argument für eine bestimmte Sicht auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit gegenökonomischer Organisationsformen angeführt (Wenke/Zilleßen 1978, S. 392).
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Beispiel 2 – Bedingungsloses Grundeinkommen. Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) wird in den letzten Jahren vermehrt diskutiert, popularisiert vor allem durch Götz Werners entsprechende Talkshow-Auftritte. Innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen gibt es in den letzten Jahren ein „Netzwerk Grundeinkommen“, dessen Aktivitäten dazu führten, dass 2007 immerhin etwa 40 Prozent der Delegierten eines Bundesparteitags für dieses Modell stimmten, und dass zumindest festgehalten wurde, dass mit dem Parteitagsbeschluss für ein anderes Sozialmodell die innerparteiliche Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen nicht abgeschlossen ist. Aktuell sind es vor allem die Piraten, die das Konzept eines BGE öffentlich sichtbar machen – allen vorweg Johannes Ponader, der aktiv sein „Recht auf schöpferische Arbeitslosigkeit“ einfordert.
Aber wie schon beim zugegebenermaßen eher Nischenbeispiel des Umsonstladens ist auch beim BGE die Idee nicht neu. Das Zitat, das ich gerade Ponader zugeschrieben habe, ist die Überschrift eines Textes von Ivan Illich aus dem Jahr 1979.
Systematischer gehen Vanderborght und Van Parijs (2005) der Geschichte der Idee „Grundeinkommen“ nach. Sie fangen bei der Geschichte der Sozialsysteme an und finden in Thomas Paine und Charles Fourier utopisch orientierte Vorläufer. In den USA der 1960er Jahre kommen dann aus neoliberaler Perspektive Milton Friedman (Negativsteuer) und aus einer eher linksliberalen Linie James Tobin Vorschläge für ein Grundeinkommen. Der Tobin-Vorschlag eines „demogrant“ schafft es bis ins Wahlprogramm des demokratischen Präsidentschaftskandidaten McGovern 1972. Mitte der 1970er Jahre wurden diese Ideen – Negativsteuer wie Demogrant – in den USA begraben. Dafür tauchten sie Anfang der 1980er Jahre in Europa wieder auf – zuerst in den Niederlanden und Mitte der 1980er Jahre dann auch in Frankreich und in Deutschland. Hier findet sich die Debatte um das Grundeinkommen im Umfeld der Ökobewegung – samt Gegenökonomievorstellungen – und in der Nähe der neuen grünen Partei. (Vanderborght/Van Parijs 2005, S. 29ff).
So ist es nicht verwunderlich, dass die Ideen eines „anders leben, anders arbeiten, anders wirtschaften“ sich auch in der grünen Programmatik der Gründungszeit niederschlagen. Wer möchte, kann dies in den dankenswerterweise vom Archiv Grünes Gedächtnis in der Heinrich-Böll-Stiftung digitalisierten und archivierten Programmtexten seit 1980 nachverfolgen – auch wenn das Grundeinkommen nicht direkt erwähnt wird, finden sich doch viele Anklänge an das dahinter stehende Wirtschafts- und Menschenbild. [Update: Im Landtagswahlprogramm NRW 1985 wurde die Forderung explizit erhoben, sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn].
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Beispiel 3 – kostenfreier Nahverkehr. VerkehrspolitikerInnen vieler Parteien betrachten mit Interesse das Experiment der Stadt Hasselt (Belgien), die 1997 ein kostenloses Bussystem eingeführt hat. In der öffentlich wahrnehmbaren Programmatik der Piraten wird daraus der „fahrscheinlose Nahverkehr“, also die pauschalisierte Finanzierung des ÖPNV in den einzelnen Kommunen. Und was steht, nach einer Reihe ökologisch und sozial motivierter Einzelforderungen, im bis 1993 gültigen Bundesprogramm 1980*** der GRÜNEN?
Statt einer reinen Benzinkostenrechnung muß auch im Verkehrswesen eine gesamtgesellschaftliche und ökologische Kostenrechnung vorgenommen werden. Daraus folgt eine drastische Reduzierung der Fahrpreise für den Schienenfernverkehr und der Nulltarif für den Nahverkehr. Als erste Maßnahme fordern wir die sofortige Einfrierung der Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr.
Auch die Idee, den ÖPNV kostenfrei anzubieten, ist also nicht ganz neu. Aus dieser Idee sind Dinge wie die Freiburger Umweltkarte, heute Regiokarte, entstanden, die 1991 eingeführt wurde und damit gerade ihr 20-jähriges gefeiert hat. Eine einigermaßen erschwingliche Monatskarte für einen größeren Verbund ist nicht identisch mit fahrscheinlosem ÖPNV, ist aber, so möchte ich das deuten, die realpolitische Umsetzung dieser Forderung, bzw. das, was aus dem „Nulltarif“ im grünen Bundesprogramm und ähnlichen Ideen in der politischen Praxis geworden ist.
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Beispiel 4 – digitale Demokratie. Als letztes möchte ich kurz auf die digitale Demokratie eingehen, die ja ebenfalls mit Beteiligungsplattformen, Tools wie „Liquid Feedback“ und ähnlichem gerade wieder en vogue ist. Die Idee, Kommunikationstechnik dazu zu nutzen, die demokratische Beteiligung zu erleichtern, passt vielleicht insofern nicht ganz in die Reihe der drei vorherigen Beispiele, dass sie viel stärker technokratisch akzentuiert ist als dass sie aus großen sozialen Bewegungen stammt.
Aber ebenso wie die vorher genannten sozialen Ideen ist „digitale Demokratie“ eben keine Neuerfindung des beginnenden 21. Jahrhunderts, sondern hat ideengeschichtliche Vorläufer (hier kann ich auf mich selbst verweisen: Westermayer 1998). Auch Radio und Telefon wurden schon einmal mit ähnlichem utopischen Geist gefüllt wie Ende des 20. Jahrhunderts der Computer und heute die sozialen Netzwerke und Mobiltelefone. Den Diskurs über „elektronische Demokratie“ seit den 1960er Jahren bis 1984 beschreibe ich da wie folgt:
Während anfangs noch die mathematisch-technischen Fähigkeiten der „Elektronengehirne“ – und verbunden damit die Ängste vor der „Verdatung“ und vor der zentralen Informationsmonopolisierung – die Debatte bestimmen, entwickelt sich aus ersten Ideen einer per Telefonnetz und Zentralcomputer durchgeführten Meinungsumfrage parallel zur zunehmenden Konvergenz von Fernsehen, Telefon und Computer – in einer ersten Instanz etwa in Form von BTX – die radikalere Idee, auch tatsächliche Abstimmungen und Entscheidungen mit Hilfe elektronisch vermittelter Kommunikation durchzuführen. So soll die Politik und die Beteiligung der BürgerInnen mit dem wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Stand der Vernetzung gleichziehen und ein ebenbürtiges Gegengewicht dazu bilden. Damit verbindet sich die Hoffnung, die „Übergangslösung“ repräsentative Demokratie „endlich wieder“ teilweise oder ganz durch eine direkte Beteiligung aller zu ersetzen – nach dem großen Vorbild der athenischen Agora.
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Soweit zu den vier Beispielen für die gegenwärtig wieder auftauchenden „neuen“ Ideen mit ihren Ursprüngen in den 1960er oder 1980er Jahren, oder sogar mit noch viel weiter zurückliegenden Wurzeln.
Vielleicht muss ich an dieser Stelle noch auf ein mögliches Missverständnis eingehen: Mit der Feststellung, dass diese Ideen nicht erst 2012 erfunden wurden, will ich sie nicht diskreditieren. Ich halte ein bedingungsloses Grundeinkommen beispielsweise nach wie vor für eine gute Idee.
Der Blick auf die ideengeschichtliche Vergangenheit – der bei der oft lautstarken Neuentdeckung vielfach untergeht – macht aber deutlich, dass diese vier radikalen Ideen (nehmen wir den Umsonstladen mal stellvertretend für ein ökonomisches System jenseits von staatlichem Zentralismus und Markt) zwar politisch einleuchtend erscheinen mögen, aber eben bisher Ideen geblieben sind. Warum ist das so? Warum tauchen diese Ideen im Pendelschlag des Zeitgeists wieder auf, werden breit rezipiert und als schöne, einfache Lösungen gravierender Probleme entdeckt – um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden?
Auch auf diese Frage möchte ich hier keine Antwort geben, aber auf zwei Beobachtungen hinweisen, denen nachzugehen sich möglicherweise lohnen würde.
Das eine ist das Problem des gesellschaftlichen Wissenstransfers durch diskursive „Hungerphasen“ hindurch. Wenn das Bild der Wellenbewegung stimmt, gibt es immer wieder Zeiten, in denen es maximal kleine, nicht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit liegende gesellschaftliche Nischen sind, in denen das Wissen über Erfahrungen mit dem Versuch, diese radikalen Ideen umzusetzen, bewahrt und weitergegeben werden, in denen möglicherweise auch Akteurinnen und Akteure „überwintern“. Das unterscheidet diese Ideen von radikalen Ideen, die – aus welchen Ideen- und Akteurskonstellationen und glücklichen Zufällen auch immer – relativ dauerhaft realisiert und in den Wissensbestand der eigentlichen Gesellschaft überführt werden konnten. Ein Beispiel für eine solche radikale Idee, die erfolgreich gesellschaftlich – in den sozialen Erwartungen der Menschen und Märkte, aber auch im normativen Kodex der Gesetze und Regelwerke – verankert wurde, ist die Energiewende mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und der Photovoltaik-Industrie (vgl. Fuchs/Wassermann 2012). Dazu nochmal das grüne Bundesprogramm von 1980:
Ziele grüner Energiepolitik
Durch die heute hauptsächlich genutzten fossiler Brennstoffe ist die „Erzeugung“ von Energie nur über Verbrennungsprozesse möglich. Dabei werden umweltschädliche Substanzen wie Schwefel- und Stickoxide erzeugt. […] Ebenso ist Atomenergie eine Energiequelle, die gegen die Lebensgrundlagen gerichtet ist. Deshalb ist ein radikaler Wandel des Energiesystems notwendig. Die „Energieerzeugung durch Verbrennungsprozesse“ muß ersetzt werden durch die „Energienutzung aus umweltfreundlichen, regenerativen Energiequellen“ (Sonne, Wind, Wasser).
Eine zukunftsorientierte ökologische Energiepolitik muß alle Möglichkeiten nutzen, die zu einer Verringerung des Energiebedarfs führen und die optimale Verwendung bereits vorhandener Energien gewährleisten.
[…]Langfristig muß die gesamte Energieversorgung aus erneuerbaren Energiequellen erfolgen.
Der Vergleich zwischen erfolgreichen radikalen Ideen und bisher erfolglosen Ideen – gerade im Hinblick auf die Überwindung von Durststrecken – die gab es auch bei der Energiethematik immer wieder! – , die Weitergabe von Wissen durch Nischenakteure und die Frage, wie der Übergang aus der Nische in den Mainstrem aussieht – ist also ein politisch durchaus lohnendes Thema. Mit Blick auf die heutige Radikalität einiger Ideen der Piraten verbindet sich damit zugleich der Wunsch, die Ideengeschichte der eigenen Forderungen nicht zu ignorieren: Wer hat’s erfunden – und mit welchen Hürden wurden Vorgängerbewegungen schon konfrontiert? Denn nicht jeder Fehler muss zweimal gemacht werden.
Das andere Problem oder die andere Beobachtung bezieht sich auf die Wechselwirkungen zwischen Institutionalisierung einer Bewegung oder Partei einerseits und das „Bekömmlichwerden“ von radikalen Ideen andererseits. Einige der heutigen radikalen (Piraten-)Forderungen fanden sich Ende der 1970er Jahren im Wissen der Alternativbewegungen und dann – mehr oder weniger deutlich – auch in der Programmatik der neugegründeten Partei DIE GRÜNEN. Über die Jahre verschwanden die radikaleren Forderungen, um sich neue Nischen zu suchen (etwa in Positionspapieren der Anfang dr 1990er Jahre gegründeten Grünen Jugend, oder in den außerparlamentarischen Bewegungen …) und wurden im Parlamentsbetrieb abgeschliffen (vgl. Tiefenbach 1998 zu einigen Hintergründen dieses Prozesses).
Nicht jede Idee ließ sich abschleifen, und manche hatten giftige Kerne. Das heftigste Beispiel dafür ist vermutlich Hartz IV, dem von grüner Seite aus immer die Idee einer Abschaffung der Sozialhilfe durch eine zwar bedingte, aber doch emanzipatorisch gedachte Grundsicherung voranging. Irgendwann waren diese emanzipatorischen Ideen selbstbestimmten Lebens, von Zeitsouveränität und einer eigenständigen Sicherung für Frauen usw. dann zu etwas geworden, das kompatibel mit der SPD-Idee „Agenda 2010“ war.
Andere radikale Ideen sind im Klein-Klein des politischen Betriebs und in der immer tiefergehenden fachlichen Ausdisziplinierung verstreut worden, so dass sie nicht mehr als einheitliches Gebilde erkennar sind. Statt weiter fahrscheinlosen Nahverkehr zu fordern, geht es dann um Zuschüsse, EU-Richtlinien, Grenzen von Tarifverbünden, Tarifsysteme, Monatskarten und dergleichen mehr. Aus der radikalen, eher abstrakten einfachen Ideen wird im konkreten – und parlamentarische Politik ist konkret – dann eine Vielzahl an kleinerer Initiativen, deren Zugehörigkeit zum gemeinsamen Ganzen nur noch zu erahnen ist. Die radikale Idee verliert ihre Radikalität und ihre utopische Gestalt.
Aber sie gewinnt auch etwas – Anschlussfähigkeit. Fein zerstäubt kann sie auch vom politischen Gegner aufgenommen werden. Der Sinn der konkreten Einzelmaßnahme ist leichter zu vermitteln als der große Schritt zum ganz Anderen. Wer wäre dagegen, das Tarifsystem zu vereinfachen, und wer wollte sich schon darüber echauffieren, wenn irgendwo eine neue Beteiligungswebsite eingerichtet wird?
Nicht jede Idee ist dafür geeignet, in dieser Art und Weise akzeptabel gemacht zu werden. Manche Ideen schaffen es, gesellschaftliche Akzeptanz und letztlich auch politische Durchsetzungsfähigkeit zu erlangen, ohne in parlamentarischem Feinstaub zu enden. Aber auch diese brauchen eine fein ziselierte fachliche Unterfütterung, an der beharrlich weitergearbeitet wird. Und idealerweise sind sie keine binären Ideen, für die es nur Entweder/Oder gibt. Politisch umsetzbar ist eher das, wo auch schon der Weg mit seinen vielen Einzelschritten – im Wettlauf mit dem großen Pendelschlag – tatsächliche und nicht nur rhetorische Erfolge mit sich bringt.
Warum blogge ich das? Um einige Einzelbeobachtungen zusammenzubringen – Wolfgang Strengmann-Kuhn erwähnte unlängst die frühe Rezeption des Grundeinkommens, Timothy Simms machte mich auf den ÖPNV zum Nulltarif im alten grünen Programm aufmerksam, und @hulalena äußerte ihre Begeisterung für die Bereitschaft der Piraten, radikale Ideen aufzugreifen. P.S.: Die Artikelbilder wurden 2004 im damaligen Umsonstladen Freiburg aufgenommen.
* Auch das Bild des Pendelschlags ist so neu nicht. So schreibt Moberg: „Die Schaffung neuer Modelle wurde ferner beeinflußt von den Übergängen im Leben, die so viele Angehörige der Neuen Linken gemeinsam durchmachten – verlängerte Durchgangsriten (rites de passage) zum Erwachsensein, bestehend aus einem verlängerten Ausgeschlossensein von den normalen Strukturen der Gesellschaft, das eine kommunale Erfahrung auf etwa die gleiche Weise unterstützte wie die Durchgangsriten in traditionellen Gesellschaften. Darüber hinaus bot die Konfrontation mit dem selbstgefälligen monolithischen, liberal-konservativen Establishment […] weitere Anregungen für Modelle: Das Gegenteil von allem, was existierte, mußte besser sein (und war vermutlich an sich schon revolutionär). […] Und typischerweise haben solche Bewegungen alle das Gefühl, außerhalb der historischen Zeit zu stehen, wobei sie oft die soziale Dialektik mit den existierenden Mächten streifen, die nötig ist, um etablierte Institutionen zu ändern.“ (Moberg 1981: 15).
** Meine eigene Erfahrung im Freiburger Umsonstladen war übrigens eher gegenteilig: Ganz viele brachten ganz viel, aber nur wenige wollten etwas davon mitnehmen.
*** Legendär das Kapitel 5 „Steuern, Währung und Finanzen“ mit dem Inhalt „Dieser Programmteil wird noch überarbeitet“.
Literatur
Anderson, Terry H. (1995): The Movement and The Sixties. New York, Oxford: Oxford University Press.
Fuchs, Gerhard / Wassermann, Sandra (2012): »From Niche to Mass markets in High Technology: The Case of Photovoltaics in Germany«. In: Johannes M. Bauer/Achim Lang/Volker Schneider (Hrsg.): Innovation Policy and Governance in High Tech Industries. The Complexity of Coordination. Berlin u.a. Springer.
Gronow, Jukka (1993): »Taste and Fashion: The Social Function of Fashion and Style«, in Acta Sociologica vol. 36, pp. 89–100.
Huber, Joseph (1988): »Soziale Bewegungen«, in Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, H. 6, S. 424–435.
Illich, Ivan (1979): »Das Recht auf schöpferische Arbeitslosigkeit«, in: Joseph Huber (Hrsg.): Anders arbeiten – anders wirtschaften. Dualwirtschaft: Nicht jede Arbeit muss ein Job sein. Frankfurt/M: Fischer, S. 78–90.
Jungk, Robert (Hrsg.) (1990): Katalog der Hoffnung. 51 Modelle für die Zukunft. Frankfurt: Luchterhand.
Moberg, David (1981): »Bewegung und Gegenkultur: die Revolution lebt«, in: John Casde, Rosemary C.R. Taylor (Hrsg.): Soziale Experimente in der Bewährung. Sanfte Veränderung in einer harten Wirklichkeit. Berichte aus den USA. Frankfurt/M.: Fischer, S. 13–47.
Simmel, Georg (1895): »Zur Psychologie der Mode – Soziologische Studie«, in Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. 5. Band 1895, Nr. 54 vom 12.10.; S. 22–24 (online).
Tiefenbach, Paul (1998): DIE GRÜNEN. Verstaatlichung einer Partei. Köln: PapyRossa Verlag.
Vanderborght, Yannick / Van Parijs, Philippe (2005): Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags. Frankfurt/M, New York: Campus.
Wenke, Karl Ernst / Zilleßen, Horst (Hrsg.) (1978): Neuer Lebensstil – verzichten oder verändern? Auf der Suche nach Alternativen für eine menschlichere Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Westermayer, Till (1998): Chancen und Risiken elektronischer Demokratie in Deutschland, Hausarbeit/Wettbewerbsbeitrag zum Wettbewerb „Deutsche Staatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung“ des BMI, elektronisches Dokument, URL: http://www.till-westermayer.de/uni/bmi-studwett.pdf.
Lieber Till,
danke dir für die Recherchen und den alternativgeschichtlichen Exkurs. Nur eine kurze Anmerkung zu deinen Beobachtungen gen Ende des Textes: Wie Nischen sich Erhalten und Mainstream werden, ist Bestandteil der Transformationsforschung, die sich in den letzten Jahren aus den Niederlanden kommend immer weiter verbreitet hat. Ein lohnendes Stichwort ist die Diffusionsforschung, die genau diesen Prozess von der Nische in den Mainstream nachzuvollziehen versucht.
Und bezüglich deiner Feststellung, dass es anscheinend zu ihrer Durchsetzung die Verbreitung radikaler Ideen in Kompromissform braucht: Ich glaube, dass man dabei zwei Fälle von einander unterscheiden muss. Diejenigen Ideen, die wie die Energiewende ein paar Vorteile im kleinen aber viel stärkere im (vollständig umgesetzen) großen Maßstrab bringen, können auf diesem Weg realisiert werden. Ideen wie der fahrscheinlose Nahverkehr aber erschöpfen sich, wenn aus ihnen „nur“ Regionalverbünde und Umwelttickets entstehen. Der Sprung von da zum fahrscheinlosen Verkehr könnte einfach zu groß sein.
Grüne Grüße
Daniel
Danke für die Hinweise, auch zur Sprunghaftigkeit der kleinen und großen Ideen!
Gibt es zum Thema Transformationsforschung einen guten Einstiegstext, den du empfehlen würdest?
Ja politische Entwicklungen laufen nicht linear. Es kommt öfters vor, dass man wieder auf einen früheren Stand zurück kommt. Das sollte man als Politiker beachten wenn man sich den Weg überlegt, wie man sien Ziel erreichen will. Denn je nach Weg ist eine Wende um 180° leichter oder schwieriger für nachfolgenden Regierungen. Die Grünen haben z.B. auch dafür gesorgt, dass es eine Industrie gibt, die mit Umweltschutz Geld verdienen und Arbeistplätze geschaffen haben. Das macht es CDU udn FDP schwerer da das Rad der Geschichte zurück zu drehen. Gefährlich sind Kombi-Produkte, bei denen man nur zustimmt, weil einem ein Teil gefällt. Manch eine® bei SPD und Grünen wid den Harz-Gesetzen nur zugestimt haben weil er/sie an das „Fördern“ bei „Fördern und Fordern“ geglaubt haben. Beim Fördern gab es aber praktisch keiner Vebesserungen.
Das Bedingungslose Grundeinkommen so wei es die Piraten finazieren wollen ist auch so ein gefährliches Komb-Produkt. Denn sie wollen das durch Demonatage der bisherigen Sozialssysteme finazieren. Die bisherigen Sozialsysteme beruhen zumindest im Bewusstesein von vielen Unions- und SPD-Anhängern darauf, dass man durch seine Arbeit einen Anspruch darauf erworben hat. Da können also auch SPD und CDU nicht zu sehr streichen ohne befürchten zu müssen die Quittung dafür an der Walurne zu bekommen. Das BGE würde bei vielen als Almosen aufgefasst werden. Da ließe sich bei entsprechender Stimmungslage in der veröffentlichten Meinung viel leichter kürzen. Und man darf in einer Demokratie eben nicht annehmen, dass man immer mitregiert.