Machtblindheit, oder: ist Law Code?

Petrikirche interior I

I. Deutungshoheit und die Wirkung von Texten

Das eine ist die unglaub­li­che Nai­vi­tät, mit der man­che Men­schen an Posi­ti­ons­pa­pie­re, Sat­zun­gen und Geset­ze her­an­tre­ten. Viel­leicht schlägt da bei mir der Sozio­lo­ge durch, aber wer glaubt, dass ein Text, nur weil in die­sem Text etwas steht, allei­ne Wir­kung ent­fal­tet, lei­det aus mei­ner Sicht an einer Wahr­neh­mungs­stö­rung. Eine Wahr­neh­mungs­stö­rung, die sich viel­leicht am tref­fends­ten als „Macht­blind­heit“ bezeich­nen lässt.

Macht­blind­heit meint hier nicht, blind vor Macht zu sein, son­dern nicht zu sehen, dass jeder Text deu­tungs- und inter­pre­ta­ti­ons­of­fen ist. Dass jeder zu einem Werk­zeug in einem Akteurs­netz­werk gemacht wer­den kann, um bestimm­te Zie­le zu errei­chen und ande­re Zie­le zu verhindern. 

Die Deu­tungs­mög­lich­kei­ten sind dabei nicht belie­big, aber sie sind sehr viel grö­ßer, als vie­le sich das vor­stel­len. Wer sich letzt­lich mit sei­ner Deu­tung durch­setzt, hat etwas mit dis­kur­si­ver Hege­mo­nie zu tun, aber eben auch damit, wer am sprich­wört­li­chen län­ge­ren Hebel sitzt.

Oder anders gesagt: Wer einen Text nut­zen möch­te, um aus einer weni­ger mäch­ti­gen Posi­ti­on in einem asym­me­tri­schen Macht­ver­hält­nis her­aus etwas bewe­gen will, kann und darf sich nicht auf die Stär­ke des Tex­tes ver­las­sen. Der wird so weit wie mög­lich inter­pre­tiert wer­den, und wel­che Inter­pre­ta­ti­on sich durch­setzt, hängt eben nicht allei­ne vom Wort­laut des Tex­tes ab, son­dern auch davon, wer wel­che Res­sour­cen hat, und wer sich auf wel­che Deu­tungs­tra­di­ti­on beru­fen kann und die­se etabliert.

(Das sel­be gilt übri­gens auch für nicht geschrie­be­ne Tex­te, sprich: für sozia­le Situationen).

Das heißt jetzt nicht, das alles ver­lo­ren ist und die Welt der Will­kür der Mäch­ti­gen aus­ge­setzt ist. Es heißt nur, dass es not­wen­dig ist, genau abzu­schät­zen, wel­che Deu­tung hege­mo­ni­al ist oder hege­mo­ni­al gemacht wird, und klug zu ent­schei­den, ob ein Kampf um die Deu­tungs­ho­heit aus­sichts­reich ist oder nicht.

Um das am kon­kre­ten Bei­spiel fest­zu­ma­chen, über das ich mich gera­de auf­re­ge: Eine lose Grup­pe grü­ner Kreis­ver­bän­de möch­te einen Son­der­par­tei­tag durch­set­zen, um dort über den Fis­kal­pakt zu reden. Die Sat­zung sieht vor, dass ein Par­tei­tag ein­be­ru­fen wer­den muss, wenn zehn Pro­zent der Kreis­ver­bän­de dies for­dern. Die Sat­zung führt nicht näher aus, was ein Beschluss eines Kreis­ver­ban­des ist.

Es soll jetzt nicht dar­um gehen, ob eine sol­che Son­der-BDK in der aktu­el­len Situa­ti­on sinn­voll ist oder nicht. Ich bin da eher skeptisch.

Jeden­falls wird aus die­ser Grup­pe grü­ner Kreis­ver­bän­de her­aus behaup­tet, dass es 47 Beschlüs­se von Kreis­ver­bän­den gibt. Eine Lis­te ist auf sonder-bdk.de abruf­bar. Die Bun­des­ge­schäfts­stel­le sagt, dass ihr weni­ger als zwan­zig Beschlüs­se vorliegen. 

Ein Teil die­ses Dif­fe­renz beruht dar­auf, dass Beschlüs­se nicht bei der Bun­des­ge­schäfts­stel­le der Par­tei ein­ge­reicht wur­den. Ein Teil beruht aber auch dar­auf, dass es Unter­schie­de in der Inter­pre­ta­ti­on der sat­zung gibt. 

Der Bun­des­vor­stand und die Bun­des­ge­schäfts­stel­le lesen die Sat­zung so, dass nur ein ordent­lich pro­to­kol­lier­ter, von einer Mit­glie­der­ver­samm­lung ver­ab­schie­de­ter, ein­deu­tig auch nach der Bun­des­tags­ab­stim­mung über den Fis­kal­pakt eine Son­der-BDK ein­for­dern­der Beschluss ist. 

Die Grup­pe der Kreis­ver­bän­de – oder zumin­dest deren selbst­er­nann­te Anfüh­rer – sehen das anders. Hier wird als Beschluss gezählt, wenn ein Vor­stand eines Kreis­ver­ban­des erklärt hat, eine Son­der-BDK zu wol­len. Pole­misch zuge­spitzt: auch die vage Absichts­er­klä­rung über der Tas­se Kaf­fee zählt noch.

Es gibt also eine Dif­fe­renz in der Inter­pre­ta­ti­on der Sat­zung, die gra­vie­ren­de Fol­gen hat. In der einen Inter­pre­ta­ti­on sind die für einen Son­der­par­tei­tag not­wen­di­gen zehn Pro­zent noch längst nicht erreicht. Der Bun­des­vor­stand kann abwar­ten. In der ande­ren Inter­pre­ta­ti­on wur­de das Quo­rum über­schrit­ten, der Bun­des­vor­stand muss sofort tätig wer­den, Urlaubs­sper­ren ver­hän­gen, eine Hal­le buchen und so wei­ter. Das ist rich­tig teuer.

Hier kommt nun Macht­blind­heit ins Spiel. Eini­ge aus der Grup­pe der Kreis­ver­bän­de stel­len sich jetzt näm­lich hin und sagen: Wir haben gelie­fert, der Bun­des­vor­stand muss jetzt reagie­ren, es steht ja so in der Sat­zung. Klar steht es da – aber eben nicht in der Inter­pre­ta­ti­on des Bun­des­vor­stands. Das hat die­ser – in Per­son der Bun­des­ge­schäfts­füh­re­rin Stef­fi Lem­ke – auch mehr­fach deut­lich gesagt.

Was ich nicht ver­ste­he (und wie gesagt, ich hal­te eine Son­der-BDK jetzt nicht für son­der­lich sinn­voll): Dass gera­de von denen, die sonst sehr sen­si­bel reagie­ren, wenn es um Macht­dif­fe­ren­tia­le geht, das jetzt nicht wahr­ge­nom­men wird. Son­dern dass rum­ge­motzt wird, dass der Bun­des­vor­stand sich nicht mel­det, dass fest dar­auf beharrt wird, dass in der Sat­zung ja schon steht, was da steht – näm­lich die eige­ne Inter­pre­ta­ti­on – und dass das ein­fach aus den unter­schied­li­chen Rol­len und Inter­es­sen her­aus gut nach­voll­zieh­ba­re Zögern des Bun­des­vor­stands, jetzt sofort eine Son­der-BDK ein­zu­be­ru­fen, als kurz­fris­ti­ger, viel­leicht auf Stress beding­ter Feh­ler weg­er­klärt wird. In der Sat­zung steht es ja, sagen sie. Und ver­trau­en dar­auf, dass die Sat­zung sich schon dafür ein­set­zen wird, dass das Inter­es­se die­ser Kreis­ver­bän­de Gehör findet.

Macht die Sat­zung aber nicht. Die lässt sich deu­ten, und ist, ganz ihrer Papier­form ent­spre­chend, geduldig.

Um aus die­ser macht­be­setz­ten Deu­tungs­dif­fe­renz her­aus­zu­kom­men, sehe ich drei Wege. Solan­ge die Grup­pe der Kreis­ver­bän­de kei­nen davon beschrei­tet, wird nichts passieren.

1. Das Schieds­ge­richt als für die Deu­tung der Sat­zung zustän­di­ge Instanz wird ange­ru­fen, um den Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum zu redu­zie­ren. Schrö­din­gers Kat­zen­kis­te wird geöff­net. Dabei kann die eine oder die ande­re Deu­tung als rich­ti­ge Deu­tung her­aus­kom­men. Ob sich das Schieds­ge­richt in das Netz­werk der Akteu­re ein­bin­den lässt, wie schnell es ent­schei­den kann, all das bleibt abzu­war­ten. Sicher ist die­ser Weg nicht, aber er führt vor­an. (Oder es wird ein Sat­zungs­än­de­rungs­an­trag an einen Par­tei­tag gestellt).

2. Das Macht­dif­fe­ren­ti­al wird wahr- und zunächst ein­mal hin­ge­nom­men. Die Grup­pe der Kreis­ver­bän­de lie­fert mehr als die not­wen­di­gen 45 Beschlüs­se in for­ma­lis­ti­scher Buch­sta­ben­treue zur Inter­pre­ta­ti­on des Bun­des­vor­stands: mit ordent­li­chem Pro­to­koll, als Beschluss einer Mit­glie­der­ver­samm­lung, mit kla­rer Aus­sa­ge dar­über, dass bedin­gungs­los eine Son­der-BDK gefor­dert wird. Dann – mei­ne ich – wäre der Deu­tungs­spiel­raum des Bun­des­vor­stands aus­ge­schöpft und damit geleert, die­ser müss­te zäh­ne­knir­schend mit der Ein­be­ru­fung einer Son­der-BDK begin­nen. Die­ser Weg ist sicher, funk­tio­niert aber nur, wenn ent­spre­chend vie­le Mit­glie­der­ver­samm­lun­gen von Kreis­ver­bän­den ent­spre­chen­des beschließen.

3. Die Grup­pe der Kreis­ver­bän­de ver­sucht, mit den ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Macht­res­sour­cen die Deu­tungs­ho­heit über die Sat­zung zu erobern. Es wird mobi­li­siert, was sich mobi­li­sie­ren und dem Netz­werk hin­zu­fü­gen lässt: Wie war das bei bis­he­ri­gen Son­der­par­tei­ta­gen – was wur­de da akzep­tiert? Fin­den sich all­seits als ver­trau­ens­voll ein­ge­schätz­te Per­so­nen, z.B. ehe­ma­li­ge Bun­des­ge­schäfts­füh­rer der Par­tei, die öffent­lich die Deu­tung der Grup­pe der Kreis­ver­bän­de für rich­tig erklä­ren? Lässt sich eine Flut von Mails und Anru­fen orga­ni­sie­ren, in denen Mit­glie­der der Bun­des­ge­schäfts­stel­le ihre Deu­tung nahe­le­gen? All das sehe ich momen­tan nicht.

Was jeden­falls nicht funk­tio­niert, ist in die­sem Fall, abzu­war­ten, dass der Bun­des­vor­stand sich bewegt. Der ist nicht im Zug­zwang, und die Zeit spielt für sei­ne Sei­te – je näher der nächs­te regu­lä­re Par­tei­tag her­an­rückt, je wei­ter Weg der Beschluss im Bun­des­tag liegt, des­to weni­ger offen­sicht­lich wird die (angeb­li­che) Not­wen­dig­keit einer Sonder-BDK.

II. Law is code, oder: das Programm und seine Ausführung

Dann gibt es noch einen zwei­ten Gedan­ken, der zunächst ein­mal nichts mit all dem zu tun zu haben scheint, ja dem oben gesag­ten widerspricht. 

Und zwar ist mir wie­der­holt auf­ge­fal­len, dass nicht nur, wie Les­sig es sagt, code law ist – also der Pro­gram­mier­code der uns umge­ben­den Soft­ware „recht­li­che“ Ent­schei­dun­gen vor­weg­nimmt, bestimm­te Inter­pre­ta­tio­nen und Deu­tun­gen stärkt und ver­fes­tigt, und ande­re unmög­lich macht – son­dern dass auch law code ist: Zwi­schen Geset­zes­tex­ten und Pro­gramm­tex­ten gibt es eine erstaun­li­che Nähe. Das fällt mir auf, seit­dem ich in mei­nem Job im Land­tag häu­fi­ger mit Geset­zes­tex­ten zu tun habe. 

Die Ähn­lich­kei­ten: Es gibt einen bestimm­ten For­ma­lis­mus, auch wenn es nicht im Wort­sinn eine for­ma­le Spra­che ist, in dem Geset­ze ver­fasst sind. An vie­len Stel­len haben die­se algo­rith­mi­schen Cha­rak­ter: Es wer­den bestimm­te Ver­fah­ren und Pro­zes­se vor­ge­ge­ben und beschrie­ben. Geset­ze ver­wei­sen auf ande­re Geset­ze und Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten bzw. auf ein­zel­ne Abschnit­te und Para­gra­phen – Sprün­ge und Funktionsaufrufe.

Inso­fern ist die „Betriebssystem“-Metapher der Pira­ten gar nicht so falsch. Was wie funk­tio­nie­ren soll, ist recht­lich for­ma­li­siert und nie­der­ge­schrie­ben. Ein Arti­kel­ge­setz (also ein Gesetz, in dem ande­re Geset­ze an ein­zel­nen Stel­len geän­dert wer­den) erin­nert in der Tat an einen Patch oder ein Update des recht­li­chen Codes. Neben­ef­fek­te gibt es auch.

Inter­es­sant wird die Meta­pher des „law is code“, wenn es um die Aus­füh­rung die­ser Pro­gram­me geht. In den Ope­ra­tio­nen von Orga­ni­sa­tio­nen spie­len kodi­fi­zier­te Regeln natür­lich eine gro­ße Rol­le. Neh­men wir das Bei­spiel des gera­de im Land­tag behan­del­ten Gesetz­ent­wurfs zur Ein­füh­rung der Ver­fass­ten Stu­die­ren­den­schaft. Die­ser ändert das Lan­des­hoch­schul­ge­setz so, dass an den Hoch­schu­len eine neue Teil­kör­per­schaft „Ver­fass­te Stu­die­ren­den­schaft“ eta­bliert wird. Im Gesetz ist gere­gelt, nach was für einem Ver­fah­rens­ab­lauf die­se ein­ge­rich­tet wer­den muss, wie Wah­len statt­fin­den, wel­che Auf­ga­ben von der Ver­fass­ten Stu­die­ren­den­schaft aus­ge­führt wer­den kön­nen und wel­che nicht.

Hier endet die Meta­pher aller­dings auch. So lässt der recht­li­che Rah­men – anders als ein Pro­gramm­text – unaus­ge­führ­te Frei­räu­me, die erst ein­mal aus­ge­füllt wer­den müs­sen. Das lie­ße sich jetzt – als Nut­ze­rin­put oder als Raum für Plug-ins irgend­wie noch metaphorisieren. 

Jeden­falls ist es so, dass das Gesetz einen Rah­men dafür vor­gibt, was eine Ver­fass­te Stu­die­ren­den­schaft machen kann und was nicht. Was sie tat­säch­lich macht, ist nur zum Teil durch den Geset­zes­text bestimmt. Anders gesagt: Der Geset­zes­text ist eine Res­sour­ce, die der zukünf­ti­gen Orga­ni­sa­ti­on der Ver­fass­ten Stu­die­ren­den­schaft, aber auch den Hoch­schu­len und sogar der Ver­fass­ten Stu­die­ren­den­schaft gegen­über feind­lich ein­ge­stell­ten Grup­pen zur Ver­fü­gung gestellt wird. Was die­se mit die­ser Res­sour­ce machen, wel­che Regeln sie zu wel­chen Zwe­cken auf­ru­fen, hat eine gewis­se Offen­heit. Das wur­de schon jetzt in den gesell­schaft­li­chen Debat­ten um das Gesetz deut­lich: Ist die Auf­ga­be der Stu­die­ren­den­schaft genau genug defi­niert? Ist sie zu weit oder zu eng – bei­des wur­de vorgebracht.

Wie weit das tat­säch­li­che Han­deln – in die­sem Fall der Akteu­re an der Hoch­schu­le – von die­sem Gesetz bestimmt wird, ist nun eben­falls offen. Da, wo es nicht um ganz kon­kre­te Ver­fah­ren geht, etwa um Wahl­ver­fah­ren oder Rech­nungs­prü­fungs­ver­fah­ren, ist der Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum, den das Gesetz gibt, sehr groß. Aus der Orga­ni­sa­ti­ons­so­zio­lo­gie ist bekannt, wie wich­tig die Spiel­räu­me wie auch infor­mel­len Regeln dafür sind, dass Orga­ni­sa­tio­nen funk­tio­nie­ren. Nur ein lose gekop­pel­tes Gesetz ist dem­nach ein gut funk­tio­nie­ren­des Gesetz. Dage­gen wür­de ein lose gekop­pel­tes Pro­gramm schlicht nicht funk­tio­nie­ren, son­dern sich auf­hän­gen, abstür­zen oder zu nicht erwar­te­ten Ergeb­nis­sen führen.

Und anders als bei Soft­ware wird das Gesetz nicht line­ar von einer Instanz aus­ge­führt. Orga­ni­sa­tio­nen sind kei­ne Von-Neu­mann-Rech­ner. Men­schen sind kei­ne logi­schen Schalt­krei­se. Die das Gesetz in ihrem All­tag aus­le­gen­den Akteu­re haben Deu­tungs­spiel­räu­me, die sich in der Pra­xis in Prak­ti­ken und Nar­ra­ti­ven verfestigen. 

Um trotz­dem eine eini­ger­ma­ßen strin­gen­te Aus­füh­rung von Geset­zen sicher­zu­stel­len, gibt es – durch spe­zi­el­le Geset­ze und in spe­zi­el­len Ver­fah­ren – damit betrau­te Agen­tu­ren: Rechts­an­wäl­tIn­nen, Gerich­te, Staats­an­wäl­tIn­nen, aber auch bei­spiels­wei­se den Rech­nungs­hof. Nicht zuletzt: den Gesetz­ge­ber. Die­se alle begren­zen die mög­li­chen Deu­tun­gen von Geset­zes­tex­ten. Sie redu­zie­ren damit die Zahl der als legal gel­ten­den Instan­tie­run­gen von Geset­zes­pro­gram­men, beschnei­den Mög­lich­kei­ten und schaf­fen Struk­tu­ren. Aus lan­gen Tra­di­tio­nen der Geset­zes­deu­tung ent­ste­hen klar prä­fe­rier­te Pfade.

Letzt­lich gewin­nen Geset­ze erst in ihrer all­täg­li­chen Aus­le­gung und ihrer mög­li­cher­wei­se strit­ti­gen Deu­tung Realität.

III. Das eine und das andere

Was haben jetzt die­se bei­den Gedan­ken mit­ein­an­der zu tun? Eine Sat­zung einer Par­tei ist zwar einer­seits so etwas wie das Betriebs­sys­tem der Par­tei. Ande­rer­seits ist sie ein schwa­ches Pro­gramm – nicht ohne Grund gibt es par­tei­in­ter­ne Schieds­ge­rich­te und ist es rela­tiv ein­fach, Par­tei­sat­zun­gen zu ändern. Mehr noch als für mit gro­ßen büro­kra­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen und schlag­kräf­ti­gen Regu­la­tio­nain­stan­zen ver­knüpf­te Gesetz­bü­cher unter­liegt eine Par­tei­sat­zung der Aus­ein­an­der­set­zung um die Deutungshoheit. 

Das hat auch Aus­wir­kun­gen auf die „Hack­bar­keit“ des Codes. Ein Com­pu­ter­pro­gramm, das Vor­schrif­ten ent­hält, die dem „Geist“ des Pro­gramms zuwi­der­lau­fen, kann gehackt wer­den, und wird dann will­fäh­rig Din­ge tun, die so eigent­lich nicht vor­ge­se­hen waren – zum Bei­spiel Men­schen Zugang zu Daten geben, die die­se eigent­lich nicht haben sollten.

Geschäfts­ord­nun­gen und ande­re gesetz­lich fest­ge­schrie­be­ne Ver­fah­ren kön­nen zwar in gewis­ser Wei­se auch dazu genutzt wer­den, gehackt zu wer­den, indem Vor­schrif­ten anders als inten­diert ver­wen­det wer­den. Aber anders als bei Com­pu­ter­pro­gram­men kommt hier die Aus­füh­rung durch mensch­li­che Akteu­rIn­nen mit ins Spiel. Die­se haben die Fähig­keit, sich zu wei­gern, bei zu wei­ten Deu­tun­gen mit­zu­ge­hen. (Das ist mei­ner Beob­ach­tung nach etwas, was man­che Pira­tIn­nen schwie­rig zu begrei­fen finden).

Sich auf Pro­gramm­code zu beru­fen, wird immer das dem Code inhä­ren­te Ergeb­nis haben, wenn die­ser for­mal kor­rekt ist und aus­ge­führt wird. Com­pu­ter sind dumm, Macht­spie­le sind ihnen egal.

Par­tei­en ope­rie­ren dage­gen zunächst ein­mal mit Macht­spie­len. Ihre Sat­zun­gen, der gesetz­li­che Rah­men – das ist zwar nicht egal, aber es wird nicht auto­ma­tisch wirk­mäch­tig, und kann umgan­gen wer­den. Wer die Macht­spie­le einer Par­tei „hacken“ will – und sei es, indem das in der Sat­zung ver­brief­te Recht auf­ge­ru­fen wird, einen Par­tei­tag ein­zu­be­ru­fen – darf sich nicht auf den Code ver­las­sen. Sonst lei­det er oder sie an Machtblindheit.

War­um blog­ge ich das? Gute Fra­ge. Viel­leicht als Teil einer andau­ern­den sozi­al­kon­struk­ti­vis­ti­scher Selbst­ver­ge­wis­se­rung dar­über, was Poli­tik eigent­lich ist. Und weil ich es jen­seits aller Vor­wür­fe und mora­li­schen Fra­ge hilf­reich fin­de, sich dar­über im Kla­ren zu sein, dass es sowas wie Rol­len- und Inter­es­sen­kon­flik­te auch in der eige­nen Par­tei gibt, ohne dass das ver­werf­lich ist. Ent­spre­chend ist die Kraft der bes­se­ren Argu­men­te immer begrenzt.

3 Antworten auf „Machtblindheit, oder: ist Law Code?“

  1. Also,
    ich kann anhand der Lis­te nicht fest­stel­len, ob und wer etwas beschlos­sen hat. Inso­fern ver­ste­he ich Dei­ne Auf­re­gung über die Lis­te bzw. die Zuspit­zung mit der absichts­er­klä­rung nicht. So iwe ich die­se Lis­te ver­ste­he, han­delt es sich um ordent­li­che Beschlüs­se, aber schein­bar tat­säch­lich unve­ri­fi­ziert. Wenn ich so eine Lis­te ver­öf­fent­li­chen wür­de, wür­de ich da bei jedem KV noch­mal anru­fen und fragen.
    Aller­dings ist es mir doch sehr unwohl bei dem Gedan­ken, den BuVo dahin­ge­hend kon­trol­lie­ren zu müs­sen. Aller­dings kann ich mir auch nicht vor­stel­len, dass irgend­wer nicht weiß, dass man so einen Beschluss natür­lich wei­ter mel­den muss.

  2. Inter­es­san­te Über­le­gun­gen zur Deu­tungs­ho­heit über Sat­zungs­tex­te im asy­m­e­tri­schen Verhältnis …
    Aller­dings soll­te man die­se ergän­zen durch juris­ti­sche, was ich am Sams­tag schon über den lin­ken Ver­tei­ler getan hat­te, aber offen­sicht­lich in der Infor­ma­ti­ons­flut unter­ge­gan­gen ist:

    Also es geht um die Fra­ge, ob Anträ­ge eines Kreis­ver­ban­des auf Durch­füh­rung einer BDK oder auch für die BDK nur von der KMV beschlos­sen wer­den kön­nen oder auch vom Kreisvorstand.
    Nun, in § 12 Abs. 5 der Bun­des­sat­zung heißt es:
    „Eine außer­or­dent­li­che Bun­des­ver­samm­lung ist ein­zu­be­ru­fen … 4. auf Antrag … eines Zehn­tels der Kreisverbände“
    Wie die Kreis­ver­bän­de zu ihrer Ent­schei­dung kom­men, einen Antrag zu stel­len, ist hier nicht defi­niert. Um sol­che offe­nen Rechts­for­mu­lie­run­gen aus­zu­le­gen, gibt es ver­schie­de­ne Metho­den. Eine ist zu schau­en, ob der Gesetz- bzw. hier der Sat­zungs­ge­ber ähn­li­che Fra­gen defi­niert hat.
    Da stößt man dann auf § 12 Abs. 1, wo es heißt:
    „Die Dele­gier­ten wer­den auf der Mit­glie­der- bzw. Dele­gier­ten­ver­samm­lung des Kreis­ver­ban­des gewählt.“
    Wenn es die sat­zungs­ge­ben­de Bun­des­ver­samm­lung gewollt hät­te, dass nicht nur für die Wahl der Dele­gier­ten son­dern auch für die Stel­lung von Anträ­gen durch KV’s deren Mit­glie­der­ver­samm­lun­gen zustän­dig sind, hät­te die Sat­zung ohne wei­te­res ent­spre­chend ergänzt wer­den kön­nen. Da dies nicht der Fall ist, ist davon aus­zu­ge­hen, dass es der Auto­no­mie der Kreis­ver­bän­de über­las­sen blei­ben soll­te, wer bei ihnen sol­che Ent­schei­dun­gen fällt.
    Soll­te die jewei­li­ge Kreis­ver­bands­sat­zung fest­le­gen, wel­ches Gre­mi­um sol­che Anträ­ge stel­len darf, wäre das danach zu beur­tei­len. Bleibt es offen wie z.B. in unse­rer Sat­zung im KV Gör­litz, kann der Vor­stand als ver­tre­tungs­be­rech­tig­tes Organ des Kreis­ver­ban­des sol­che Ent­schei­dun­gen treffen.

    BuVo und BGeschSt sehen dies in lang­jäh­rig geüb­ter Pra­xis anders. Sie haben erst­mal die Deu­tungs­ho­heit. Die­se ver­lie­ren sie nur dann, wenn die Ver­tre­ter der Gegen­mei­nung auf einer BDK durch eine Sat­zungs­klar­stel­lung ihre Aus­le­gung durch­set­zen oder wenn sie – wie Till zu recht benennt – die par­tei­in­ter­nen Schieds­ge­rich­te anru­fen, oder wenn die­se nicht in ihrem Sin­ne ent­schei­den, die Zivilgerichte.
    Dann ist auf­grund unse­rer rechts­staat­li­chen Ver­fas­sung trotz ein­deu­ti­ger Macht­ver­hält­nis­se die Mög­lich­keit gege­ben, dass der Ein­zel­ne oder die Min­der­heit durch Rechts­spruch die Deu­tungs­ho­heit bekommt,

    meint Jurist Horst Schiermeyer

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