Ein interessanter Aspekt von Paolo Bacigalupis neuem Science-Fiction-Werk „The Windup Girl“ – übrigens zurecht als zeitgenössisches Gegenstück zu William Gibsons Neuromancer-Trilogie gehandelt und in einem Atemzug mit Ian McDonald genannt – ist die Tatsache, dass Bacigalupi seine Erzählung in einer Zukunft stattfinden lässt, die nach der Globalisierung angesiedelt ist. Für „The Windup Girl“ ist das mehr oder weniger nur der szenische Hintergrund einer Geschichte, in der sich die finsteren Prophezeiungen unkontrollierbarer Genmanipulation, agroindustrieller Nahrungsmittelmonopole und der Klimakatastrophe erfüllt haben. Trotzdem möchte ich „The Windup Girl“ zum Anlass nehmen, diese Zukunft in den Blick zu nehmen.
Unsere globale Gegenwartsgesellschaft taucht in „The Windup Girl“ als Vergangenheit auf, als eine untergegangene Epoche, die dort als „Expansion“ bekannt ist. Die Gegenwart und nähere Vergangenheit dieser fiktiven Zukunft heißt dementsprechend „Contraction“. Das erinnert nicht nur an die Vorstellung menschlicher Entwicklungsgeschichte als Wellenbewegung aus Öffnung und Schließung, wie sie etwa bei Norbert Elias zu finden ist, sondern hilft auch, einige scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen.
Im Sinne des „Endes der Geschichte“ fällt es ja tatsächlich schwer, unsere globalisierte Gegenwartsgesellschaft nicht als Selbstverständlichkeit wahrzunehmen. Letztlich wird die große Fortschrittserzählung fortgesetzt – wenn überhaupt, kann es nur besser werden. Wir „take it for granted“, dass die alltäglichen Annehmlichkeiten von Wohlstand und hohem westlichen Lebensstandard fortgeführt werden, ja, dort wo sie – global räumlich betrachtet – noch nicht angekommen sind, ihren Ort finden werden. Auch die Postmoderne kann als Teil einer Modernisierungsgeschichte verstanden werden, in der die kapitalistische Moderne zur immerwährenden Gegenwart wird.
Nun mag der Einwand kommen, dass unser Alltag doch von medialen Krisendiskursen überschattet ist, dass wir es eben nicht sicher sind, dass auch die Zukunft den heutigen Wohlstand bieten wird. Ist nicht die Nachhaltigkeitsdebatte nichts anderes als eine Warnung davor, den Weg eines nicht nachhaltigen Entwicklungsmodells und Lebensstils zu verlassen? Geht es nicht gerade in Bonn darum, ob die Erderwärmung noch bei 1,5°, 2,0° oder erst bei 4,0° Temperaturanstieg gestoppt werden kann? Tauchen nicht ständig neue geopolitische Herausforderung auf und werden medial verarbeitet, als „clash of cultures“ imaginiert oder als Bedrohung inszeniert? All das sind richtige Einwände – die nichts daran ändern, dass wohl doch fast alle in ihrem Alltag nicht davon ausgehen, eines Tages ganz anderes Leben zu müssen.
Der Blick auf die Gegenwart als Vergangenheit in der Hintergrundkonstruktion von „The Windup Girl“ hilft, diese Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Und zwar genau deswegen, weil „The Windup Girl“ nicht dem Genre der post-apokalyptischen Idylle oder der ökologischen Utopie entspricht, sondern – und da liegen die Bezüge zum Cyberpunk, auch wenn die Virtualität fehlt – einen schmutzigen Alltag in einer Zeit und Gesellschaft schildert, die sich in einem massiven Konflikt darüber befindet, wo es in Zukunft lang gehen soll. Romantechnisch verteilt sich dieser Konflikt bei Bacigalupi auf unterschiedliche handelnde Personen, die jeweils ihre Interessen im Blick haben – die möglicherweise mit den Interessen der mittelwestlichen Agrarmonopolisten identisch sind, oder die in der Perspektive der vergangenen „Expansion“ davon leben, sich die „Contraction“ als Wellenbewegung vorzustellen, an die ein neuer globaler Kapitalismus anschließt. Gerade diese Erzählperspektive – in der epochale Veränderungen schleichend, ungleichzeitig verteilt und eben nicht als einmalige Bruchereignisse verstanden werden – kann nun dazu beitragen, über die scheinbaren Selbstverständlichkeiten unserer Zukunft zu reflektieren.
Globalisierung, wie wir sie heute als Gegenwart verstehen, mit politischen Aushandlungsprozessen, die Kontinente umspannen, und wirtschaftlichen Produktions- und Konsumptionsketten, die ebenfalls global integriert sind, hängt als gesellschaftlicher Modus und als informationale Produktionsweise – wenn wir dem Globalisierungstheoretiker Manuel Castells folgen wollen – von drei soziotechnischen Voraussetzungen ab, die jeweils dazu beitragen, Netzwerke um den Erdball zu legen: einer globalen Kommunikationsinfrastruktur, einer globalen Transportinfrastruktur für Waren, und einer globalen Transportinfrastruktur für Personen. Dass diese Infrastrukturen existieren, bedeutet nicht, dass alle Kommunikation global sein muss, dass jegliche Grenze für den Warentransport entfällt, oder dass die Mehrheit der Personen sich frei bewegen kann. Trotzdem sind es diese Infrastrukturen, die Globalisierung tragen.
In ihrer konkreten Implementierung handelt es sich dabei um Internet, Satellitenkommunikation und das weltweite Telefonnetz; um v.a. Containerfrachtschiffe, an die dann entsprechende Lastwagen und Züge anschließen; und um den Personentransport v.a. im Luftverkehr.
Eine der Ursachen dafür, warum es bei Bacigalupi zur „Contraction“ kommt, und die globale kapitalistische „Expansion“ ihr Ende findet, ist das, was heute unter dem Stichwort „peak oil“ verhandelt wird: also das gegenwärtige Überschreiten des Maximums der Erdölförderung und daran anschließend eine Zeitspanne, in der Erdöl immer seltener und teurer wird. Als Treibstoff und Energieträger, aber auch als Grundlage für die Plastikproduktion ist die Abhängigkeit von Erdöl eng vernetzt mit den drei Infrastrukturen, die ich gerade angesprochen habe. Damit stellt sich die Frage, was passiert, wenn die materielle und energetische Grundlage entfällt, die heute kostengünstige globale Kommunikations- und Transportmöglichkeiten ermöglicht. Im Szenario von „The Windup Girl“ kommt es zur „Contraction“, zum Auseinanderdriften von erdumspannenden Gleichzeitigkeiten hin zu geschlossenen lokalen Entwicklungspfaden – ohne dass die Macht globaler Konzerne, die hier als Gentech-Monopole gezeichnet werden, ganz entfällt. Dabei werden Teile der materiellen und energetischen Abhängigkeit vom Erdöl substituiert: so tauchen im Roman Schwungräder und Sprungfedern als Energiespeicher auf, es wird auf tierische und menschliche Muskelkraft gesetzt, und Plastik wird aus Palmöl produziert oder durch gentechnisch modifizierte Holzprodukte substituiert. Die verbliebene Kohle wird zum wertvollen Rohstoff.
Science Fiction ist kein Versuch, die Zukunft zu prognostizieren, sondern eine Reflektion über gegenwärtige Zukunftsvorstellungen. Heute geht es um Cloud Computing und den allgegenwärtigen Internetzugang mit iPhone und Co. Es ist selbstverständlich – und wird in unserem Handeln weder in Beziehung zur Abhängigkeit vom Erdöl gesetzt noch in den ökologischen und sozialen Folgen reflektiert – dass die Artefakte der digitalen Gegenwart in weltweiter Arbeitsteilung hergestellt werden. Wir nehmen es als gegeben hin, dass wir jederzeit zu jedem und jeder Kontakt aufnehmen können, und dass – einmal abgesehen von finanziellen Restriktionen – innerhalb von 24 Stunden jeder Punkt der Erde erreichbar ist. Die fragilen materiellen und ökologischen Voraussetzungen dieser Selbstverständlichkeiten sehen wir im Alltag nicht – und doch sind sie vorhanden.
Also: Science Fiction macht keine Vorhersagen. Die Post-Peak-Oil-Zukunft kann auch eine sein, in der die Globalisierung fortgesetzt wird – mit Wasserstoff als energetischer Grundlage für kostengünstige Transporte, mit Bioplastik aus Pflanzenmaterial als Ersatz für die ganze Palette der Erdölprodukte, mit „green IT“ als Chance, die ubiquitäre Kommunikationsinfrastruktur aufrecht zu erhalten. In einer derartigen Zukunft tauchen dann Projekte wie Desertec – die solare Energiegewinnung für Europa in Nordafrika – auf, und es wird heftige Konflikte um Anbauflächen (Nahrung, Kunststoff oder Energie) geben, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das Ende des Erdölzeitalters kann auch zu einer anderen Form von Globalisierung führen. Ob es dazu kommt, ist fraglich. Das heißt aber auch: Die Selbstverständlichkeit unserer alltäglichen Technik gerät damit in einen Schwebezustand.
Warum blogge ich das? Was einem beim Lesen von SF so einfällt, halt.
Ökonomisch gesehen muss man, mit Blick auf die letzten 10 Jahre und die nähere Zukunft, wohl eher von Stagnation, Saturierung oder Plateaubildung in den entwickelten Ländern sprechen, denn von einer Kontraktion. (Vgl. etwa Christoph Deutschmann 2005, Rätsel der aktuellen Wirtschaftspolitik:
Die heimliche Wiederkehr des Keynesianismus.) Notwendig sind in diesen Ländern Lösungen, um den Kapitalstock zu erhalten und eine Reproduktion der Gesellschaft zu ermöglichen. Allerdings ist bei der letzten Bundestagswahl die einzige Partei, die hierzu eine Vision und ein umfassendes Programm entwickelt hatte, zur kleinsten Oppositionspartei geworden. Das stimmt pessimistisch.
Eine Änderung der ökonomisch-gesellschaftlichen Situation – Kontraktion oder wie auch immer man es nennen mag – indessen ausgerechnet am Öl festzumachen, erscheint mir wenig plausibel, kann doch Öl problemlos synthetisiert werden. (Vgl. etwa Choren.) Nachvollziehbar ist das wohl allenfalls als Stellvertreter für die allgemeinen Themenkomplexe Klimawandel, Naturkatastrophen und Ressourcenverbrauch.
PS: Aktuell auf tagesschau.de: „Desertec war ein Hype“ = Wasser auf die Mühlen von Schönauer Stromrebellen & Co, die seit Jahrzehnten Dezentralisierung predigen.
@blumentopf: Ich verstehe expansion/contraction hier gar nicht so sehr ökonomisch, sondern eher bezogen auf die „normale“ räumliche Reichweite von Handlungen.
Zur Synthesierung von Öl-Substituten: der Energieaufwand dafür ist meiner Kenntnis nach extrem hoch – und dann wird aus dem „problemlos können“ ein „im Prinzip können“.
Zu Desertec: danke für den Hinweis, fand den Tagesschau-Beitrag auch sehr interessant.
Abseits der Roman-Perspektive tut sich ja inzwischen auch so einiges. Beim Bund hat man sich mit Peak Oil und entsprechenden Szenarien befasst, sehr lesenswerte 99 Seiten sind da rausgekommen. Ich hab sie mal zusammengefasst, das ganze Papier lohnt sich aber auch!
Hi Till, ich verstehe nicht warum die Erneuerbaren überhaupt keine Rolle spielen. Und dass bei Genmanipulation nur so Urviecher rauskommen. Lese eig. nur weiter weil mic hdas Schicksal von Emiko interessiert. Wie bei jeder richtigen Story… Gruss :) Hermann
Ist ja kein Lehrbuch, sondern ein Roman. Und „Springs“ sind ja irgendwie auch erneuerbare, gespeicherte Muskelkraft …
Ich habe mal nachgefragt: