Heute ist der Tag des Grundgesetzes. Das Grundgesetz wird 61 Jahre alt – und auch, wenn es eine ganze Reihe von fragwürdigen Operationen gab (ich denke da z.B. an die faktische Abschaffung des Asylrechts), ist es doch insgesamt noch recht rüstig.
Im Grundgesetz geregelt ist auch der Einsatz der „Streitkräfte“ – also der Bundeswehr – im Normalfall und im „Verteidigungsfall“. Der Normalfall ist u.a. in den Artikeln Artikel 24 (2), 80a und 87a geregelt:
Artikel 24 (2)
(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.
Artikel 80a
(1) Ist in diesem Grundgesetz oder in einem Bundesgesetz über die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung bestimmt, daß Rechtsvorschriften nur nach Maßgabe dieses Artikels angewandt werden dürfen, so ist die Anwendung außer im Verteidigungsfalle nur zulässig, wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt oder wenn er der Anwendung besonders zugestimmt hat. Die Feststellung des Spannungsfalles und die besondere Zustimmung in den Fällen des Artikels 12a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 2 bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.
(2) Maßnahmen auf Grund von Rechtsvorschriften nach Absatz 1 sind aufzuheben, wenn der Bundestag es verlangt.
(3) Abweichend von Absatz 1 ist die Anwendung solcher Rechtsvorschriften auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird. Maßnahmen nach diesem Absatz sind aufzuheben, wenn der Bundestag es mit der Mehrheit seiner Mitglieder verlangt.
Artikel 87a
(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.
(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.
(3) Die Streitkräfte haben im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen.
(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.
Auch das Amt des Bundespräsidenten als höchstem Repräsentaten ist im Grundgesetz geregelt. Der aktuelle Amtsinhaber, Horst Köhler, hat einen Blitzbesuch in Afghanistan durchgeführt. Dabei sagte er u.a. folgendes:
„Meine Einschätzung ist aber, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“, sagte er weiter. Als Beispiel für diese Interessen nannte Köhler „freie Handelswege“, weil davon auch Arbeitsplätze und Einkommen abhingen.
Auch andere Medien berichten darüber, beim Deutschlandradio gibt/gab es das Interview im Wortlaut (Link auf fefe.de). Eine Einschätzung dazu findet sich auch bei Jörg Rupp.
Was ist jetzt das Problem, wenn der Bundespräsident am Tag des Grundgesetzes deutlich macht, dass er es für sinnvoll hält, von der bisherigen Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr abzuweichen. Das „Freihalten von Handelswegen“ – also der militärische Schutz wirtschaftlicher Interessen – ist jedenfalls doch etwas deutlich anderes als z.B. die Gewährleistung einer friedlichen Weltordnung im Rahmen eines Sicherheitssystems. Ob das so zusammenpasst?
Beim (laienhaften) Blick in das Grundgesetz wird aber noch etwas anderes deutlich: das rechtliche Konstrukt, das die aktuellen Militäreinsätze erlaubt, ist doch arg wacklig. Denn wenn es sich dabei tatsächlich um den (im Grundgesetz geregelten) Verteidigungsfall handeln würde, dann sind damit – eigentlich – drastische Grundrechtseinschränkungen im Inneren verbunden.
Warum blogge ich das? Weil mich ein Statusupdate von Bernhard Goodwin auf die Idee gebracht hat. Und weil ich mich frage, warum das Deutschlandradio die entsprechende Passage nachträglich aus dem Interview genommen hat.
Update (31.05.2010): Damit hätte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet – wie die Tagesschau soeben meldet, hat Bundespräsident Köhler seinen Rücktritt erklärt – wegen seiner Äußerung in Afghanistan.
Ist denn bei all der Aufregung um die Äußerungen Köhlers überhaupt sicher, dass er sich dabei auf Afghanistan bezogen hat? Ich jedenfalls muss bei der „Sicherung von Handelswegen“ eher an ATALANTA denken, die ja eigentlich parteiübergreifend als sinnvoll bewertet wird…
Klar ist, dass das GG keinen militärischen Einsatz zur Sicherung rein wirtschaftlicher Interessen hergeben dürfte, von daher fand ich den Verweis auf „Arbeitsplätze“ auch befremdlich. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass der internationale Handel einen enormen Beitrag zur Stabilisierung der politischen Beziehungen zwischen den handelnden Staaten leistet und damit zum Friedenserhalt beiträgt. Der Schutz zwischenstaatlicher Handelswege z.B. vor organisierter Piraterie wie er im Rahmen von ATALANTA stattfindet, hat so gesehen durchaus auch eine friedenspolitische Komponente…
@Christian: es ist eigentlich egal, ob sich die Aussage auf Afghanistan bezog oder nicht (gefallen ist sie jedenfalls dort) – auch der Schutz zwischenstaatlicher Handelswege vor Piraterie ist nicht ganz das, was da oben als Aufgabe der Bundeswehr beschrieben wird.
Ein interessanter Aspekt bei dem ganzen ist die Tatsache, dass Köhlers Aussage sich zwar nicht mit dem Grundgesetz deckt, aber mit der vor zehn Jahren beschlossenen neuen NATO-Strategie, wie ich inzwischen erfahren habe. Die wiederum gilt, und der Beschluss der NATO darüber wurde vom Verfassungsgericht nicht als verfassungswidrig gewertet.
Ich frage mich allerdings, wie das zusammenpasst: starke Einschränkungen, was die Armee außerhalb des Verteidigungsfalles machen darf, einerseits, und die Mitgliedschaft in einem Bündnis, das ganz andere Vorstellungen darüber hat, andererseits. Dass wir Souveränität an die EU abgegeben haben, finde ich ok – die Vorstellung, dass NATO-Beschlüsse über dem Grundgesetz stehen, missbehagt mir.
Eigenartig, dass jetzt bei Köhler alle hellhörig werden, denn laut dem sog. Weißbuch will die Bundeswehr schon länger deutsche Handelswege weltweit militärisch sichern.
Verfassungsrechtlich ist der Grundfehler die out of area-Entscheidung des BVerfG (http://sorminiserv.unibe.ch:8080/tools/ainfo.exe?Command=ShowPrintVersion&Name=bv090286) gewesen, in der entgegen Sinn und Zweck von Art. 24 GG die NATO als „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ bezeichnet wurde (das sollte ursprünglich sinnvoller Weise die UNO sein) und NATO-Beschlüsse auch außerhalb des ursprünglichen offiziellen Zwecks des Bündnisses als hinreichende Rechtsgrundlage für Auslandseinsätze anerkannt wurden. Dadurch kommt es zu der von dir zu recht kritisierten Spaltung, die ja nicht aufträte, wenn die NATO sich auf „Verteidigung“ ihres Territoriums beschränken würde. (Das Kompromisshafte an der Entscheidung war, dass zum scheinbaren Ausgleich für diese Aushebelung materieller Vorschriften des Grundgesetzes ein formelles Erfordernis erfunden wurde Der Parlamentsvorbehalt. Der allerdings auch nicht so recht NATO- oder EU-kompatibel ist.)
Hallo liebe Leute,
ich habe eine Strafanzeige gegen unseren Bundeshorst erstellt und erstattet.
Lesbar und als PDF-Download unter http://bundeshorst.wordpress.com
Bitte weitergeben. Danke :-)
Laevus Dexter
@LaevusDexter: Grundgesetzverstöße sind (selbstverständlich) nicht per se strafbar; „Vorbereitung eines Angriffskriegs“ ist zwar eine Straftat nach dem StGB, liegt hier aber sehr fern. (Und wenn Du dich da engagieren willst, Scharping, Fischer, Schröder und Co. fallen da wegen Jugoslawien drunter, auch wegen Irak gab es Anzeigen; die Herren werden allerdings vom zuständigen Generalbundesanwalt geschützt, der nicht einmal Anklage erheben will.)
@Christian
Schutz(!) vor Piraterie ist ja aber was anderes als eine generelle Sicherung der für Deutschland wichtigen Handelswege. Auf die Spitze getrieben, könnte das ja sogar bedeuten, dass man gegen Zölle militärisch vorgehen sollte.
@Henning: Schutz vor Piraterie ist ja aber genau das, was die Bundeswehr zur Zeit im Rahmen von ATALANTA betreibt – von einer generellen Sicherung aller für Deutschland wichtigen Handelswege kann so gesehen ja keine Rede sein. Inwiefern ein derartiger Schutzauftrag durch das GG gedeckt ist, halte ich aufgrund der Bedeutung des internationalen Handels für den Frieden und die Völkerverständigung für diskussionswürdig. Bis zu einem militärischen Vorgehen gegen Zölle ist es von da ja auch noch ein wirklich, wirklich weiter Weg…
@Christian
Bei dem was aktuell passiert, ist es dahin noch ein weiter Weg, aber nicht bei dem, was Köhler da sagt.
Wie vermutet:
„Etwas mühsam musste das Bundespräsidialamt vor dem Wochenende ein Köhler-Interview ergänzen: Der Zusammenhang von Wirtschaftsinteressen und Bundeswehreinsätzen, von dem der Bundespräsident in einem Interview auf der Rückreise von Afghanistan gesprochen habe, habe sich auf den Antipirateneinsatz vor Somalia bezogen.“
http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/pr-hilfe-fuer-koehler/
@Christian: ich lese das mit Betonung auf „etwas mühsam“ und „ergänzen“ – also als Versuch, eine ungeschickte Aussage nachträglich in einen anderen Deutungsrahmen zu stellen.
@Till: Bei einem politisch einseitig orientierten Medium wie der taz vermute ich hinter dem „etwa mühsam“ und „ergänzen“ eher den Wunsch, dass die Story den negativen Spin nicht verliert. So oder so bleibt: Köhler hat sich ungeschickt ausgedrückt, es ging letztendlich aber eben doch um Piraterie. Viel interessanter ist im Grunde doch die Frage, ob denn ein „Kampf gegen Piraterie“ vom Grundgesetzt wegen der Bedeutung des internationalen Handels für den Frieden gedeckt ist oder nicht…?
@Christian: Für mich wäre das – abstrakt – erstmal die Frage, ob dafür Bundesgrenzschutz/Wasserpolizei oder die Bundeswehr zuständig sind.
@Till: Gute Frage, wobei ich mir nur schwer vorstellen kann, dass die Wasserschutzpolizei für derartige Aufgaben ausreichend ausgerüstet ist, zudem sind Polizeieinsätze außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets ja ebenfalls rechtlich abzusichern.
Huch – ist wohl doch was dran, dass es eben nicht nur die neue Nato-Strategie ist: Bundespräsident Köhler hat soeben seinen Rücktritt erklärt. Wegen dieser Äußerung.
@Till: Das halte ich für einen vorgeschobenen Grund – in den Medien wurde der ATALANTA-Bezug doch recht übereinstimmend hergestellt und auf Spekulationen bei fefe dürfte ein Bundespräsident vermutlich wenig geben. Natürlich kann man nur spekulieren, aber ich tippe auf akuten Amtsfrust einerseits wegen der gelegentlich geringen Unterstützung seitens der Koalition sowie wegen des Fehlstarts von Schwarz-Gelb auf der anderen Seite. Weniger die Kritik der Opposition sondern mehr das Schweigen aus den eigenen Reihen dürften hier den Anstoss gegeben haben…
@Christian: Wenn dem so wäre, dass das ein Rücktritt aufgrund von „Amtsfrust“ mit vorgeschobener Begründung ist, dann würde das dafür sprechen, dass Köhler sich als Bundespräsident nicht gut geeignet hat.
@all: hier mein Kommentar zum Rücktritt.