Kurz: Geht uns der Kompass verloren?

Vor­ne­weg: Ich bin defi­ni­tiv kein Außen­po­li­ti­ker. Natür­lich waren mir die gro­ßen frie­dens- und außen­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen in mei­ner Par­tei in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten nicht egal. Aber es ist nicht mein The­ma, kei­nes, in dem ich irgend­ei­ne Form von Exper­ti­se hät­te oder drauf bren­nen wür­de, die­se oder jene Posi­ti­on durchzusetzen. 

Umso mehr stellt sich bei mir ein Gefühl der Irri­ta­ti­on ein, wenn ich mir anschaue, wie sich Bünd­nis 90/Die Grü­nen beim The­ma Ukrai­ne ver­hal­ten. Ein The­ma, bei dem es kei­ne Wahr­heit zu geben scheint. Revo­lu­ti­on gegen­über einem kor­rup­ten Auto­kra­ten, oder ein von Rech­ten und Faschis­ten durch­setz­ter Volks­auf­stand? Euro­päi­sche Wer­te gegen Russ­land? Regio­na­les Selbst­be­stim­mungs­recht vor dem Hin­ter­grund lang­jäh­ri­ger Auto­no­mie­be­stre­bun­gen oder von außen gelenk­te Annek­ti­on? Ich kann und will das nicht beur­tei­len. (Auch wenn mich die Anbie­de­rung man­cher Poli­ti­ke­rIn­nen der LIN­KEn an „Russ­lands Ein­fluss­sphä­re“ erschau­ern lässt, und wenn es mir, anders­her­um, emo­tio­nal rich­tig erscheint, dass Janu­ko­witsch aus dem Amt gejagt wur­de). Beginnt hier der zwei­te Kal­te Krieg? Oder gar ein hei­ßer? Ein Bür­ger­krieg, ein Volks­auf­stand, ein Abgren­zungs­ge­fecht zwi­schen euro­päi­schem west­li­chem und rus­si­schem „Block“? Wer hat wel­che Interessen? 

Ich füh­le mich nicht in der Lage, hier zu einer infor­mier­ten Mei­nung zu kom­men. Ist ja, wie gesagt, auch nicht mein Spe­zi­al­ge­biet. Und es gibt in Par­tei­en ja immer eine gewis­se Arbeits­tei­lung. Die Exper­tin­nen und Exper­ten in der Par­tei äußern sich aller­dings, so mein Ein­druck, zuneh­mend dis­so­nant. Steht Frie­dens­si­che­rung im Vor­der­grund? Oder die ukrai­ni­sche Sache? Stim­men die Vor­wür­fe, Grü­ne wür­den sich geschichts­ver­ges­sen in die Rol­le der SPD 1914 manö­vrie­ren, wie sie Ant­je Voll­mer äußert? Wie kommt Rebec­ca Harms – immer­hin unse­re deut­sche Spit­zen­kan­di­da­tin für die EP-Wahl – auf die Idee, dass es eine gute Sache wäre, Ger­hard Schrö­der den Mund zu ver­bie­ten? Und mun­ter wei­ter so. Was pas­siert da eigentlich?

Ich mag ja kei­ne Son­der­par­tei­ta­ge, die all­zu oft nur Are­nen des Strö­mungs­streits sind. Aber in der Fra­ge, wo eigent­lich der grü­ne Kurs (zu dem ja auch die Bür­ger­rechts­be­we­gung gehört) in Sachen Ukrai­ne und Russ­land hin­führt, wäre eine sol­che Form der Mei­nungs­bil­dung viel­leicht bes­ser als der viel­stim­mi­ge Chor, der der­zeit ertönt.

Grundgesetz in Afghanistan (Update: Bundespräsident Köhler zurückgetreten!)

Heu­te ist der Tag des Grund­ge­set­zes. Das Grund­ge­setz wird 61 Jah­re alt – und auch, wenn es eine gan­ze Rei­he von frag­wür­di­gen Ope­ra­tio­nen gab (ich den­ke da z.B. an die fak­ti­sche Abschaf­fung des Asyl­rechts), ist es doch ins­ge­samt noch recht rüstig. 

Im Grund­ge­setz gere­gelt ist auch der Ein­satz der „Streit­kräf­te“ – also der Bun­des­wehr – im Nor­mal­fall und im „Ver­tei­di­gungs­fall“. Der Nor­mal­fall ist u.a. in den Arti­keln Arti­kel 24 (2), 80a und 87a geregelt:

Arti­kel 24 (2)

(2) Der Bund kann sich zur Wah­rung des Frie­dens einem Sys­tem gegen­sei­ti­ger kol­lek­ti­ver Sicher­heit ein­ord­nen; er wird hier­bei in die Beschrän­kun­gen sei­ner Hoheits­rech­te ein­wil­li­gen, die eine fried­li­che und dau­er­haf­te Ord­nung in Euro­pa und zwi­schen den Völ­kern der Welt her­bei­füh­ren und sichern.

Arti­kel 80a

(1) Ist in die­sem Grund­ge­setz oder in einem Bun­des­ge­setz über die Ver­tei­di­gung ein­schließ­lich des Schut­zes der Zivil­be­völ­ke­rung bestimmt, daß Rechts­vor­schrif­ten nur nach Maß­ga­be die­ses Arti­kels ange­wandt wer­den dür­fen, so ist die Anwen­dung außer im Ver­tei­di­gungs­fal­le nur zuläs­sig, wenn der Bun­des­tag den Ein­tritt des Span­nungs­fal­les fest­ge­stellt oder wenn er der Anwen­dung beson­ders zuge­stimmt hat. Die Fest­stel­lung des Span­nungs­fal­les und die beson­de­re Zustim­mung in den Fäl­len des Arti­kels 12a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 2 bedür­fen einer Mehr­heit von zwei Drit­teln der abge­ge­be­nen Stimmen.

(2) Maß­nah­men auf Grund von Rechts­vor­schrif­ten nach Absatz 1 sind auf­zu­he­ben, wenn der Bun­des­tag es verlangt.

(3) Abwei­chend von Absatz 1 ist die Anwen­dung sol­cher Rechts­vor­schrif­ten auch auf der Grund­la­ge und nach Maß­ga­be eines Beschlus­ses zuläs­sig, der von einem inter­na­tio­na­len Organ im Rah­men eines Bünd­nis­ver­tra­ges mit Zustim­mung der Bun­des­re­gie­rung gefaßt wird. Maß­nah­men nach die­sem Absatz sind auf­zu­he­ben, wenn der Bun­des­tag es mit der Mehr­heit sei­ner Mit­glie­der verlangt.

Arti­kel 87a

(1) Der Bund stellt Streit­kräf­te zur Ver­tei­di­gung auf. Ihre zah­len­mä­ßi­ge Stär­ke und die Grund­zü­ge ihrer Orga­ni­sa­ti­on müs­sen sich aus dem Haus­halts­plan ergeben.

(2) Außer zur Ver­tei­di­gung dür­fen die Streit­kräf­te nur ein­ge­setzt wer­den, soweit die­ses Grund­ge­setz es aus­drück­lich zuläßt.

(3) Die Streit­kräf­te haben im Ver­tei­di­gungs­fal­le und im Span­nungs­fal­le die Befug­nis, zivi­le Objek­te zu schüt­zen und Auf­ga­ben der Ver­kehrs­re­ge­lung wahr­zu­neh­men, soweit dies zur Erfül­lung ihres Ver­tei­di­gungs­auf­tra­ges erfor­der­lich ist. Außer­dem kann den Streit­kräf­ten im Ver­tei­di­gungs­fal­le und im Span­nungs­fal­le der Schutz zivi­ler Objek­te auch zur Unter­stüt­zung poli­zei­li­cher Maß­nah­men über­tra­gen wer­den; die Streit­kräf­te wir­ken dabei mit den zustän­di­gen Behör­den zusammen.

(4) Zur Abwehr einer dro­hen­den Gefahr für den Bestand oder die frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung des Bun­des oder eines Lan­des kann die Bun­des­re­gie­rung, wenn die Vor­aus­set­zun­gen des Arti­kels 91 Abs. 2 vor­lie­gen und die Poli­zei­kräf­te sowie der Bun­des­grenz­schutz nicht aus­rei­chen, Streit­kräf­te zur Unter­stüt­zung der Poli­zei und des Bun­des­grenz­schut­zes beim Schut­ze von zivi­len Objek­ten und bei der Bekämp­fung orga­ni­sier­ter und mili­tä­risch bewaff­ne­ter Auf­stän­di­scher ein­set­zen. Der Ein­satz von Streit­kräf­ten ist ein­zu­stel­len, wenn der Bun­des­tag oder der Bun­des­rat es verlangen. 

Auch das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten als höchs­tem Reprä­sen­ta­ten ist im Grund­ge­setz gere­gelt. Der aktu­el­le Amts­in­ha­ber, Horst Köh­ler, hat einen Blitz­be­such in Afgha­ni­stan durch­ge­führt. Dabei sag­te er u.a. folgendes:

„Mei­ne Ein­schät­zung ist aber, dass ein Land unse­rer Grö­ße mit die­ser Außen­han­dels­ori­en­tie­rung und damit auch Außen­han­dels­ab­hän­gig­keit auch wis­sen muss, dass im Zwei­fel auch mili­tä­ri­scher Ein­satz not­wen­dig ist, um unse­re Inter­es­sen zu wah­ren“, sag­te er wei­ter. Als Bei­spiel für die­se Inter­es­sen nann­te Köh­ler „freie Han­dels­we­ge“, weil davon auch Arbeits­plät­ze und Ein­kom­men abhingen. 

Auch ande­re Medi­en berich­ten dar­über, beim Deutsch­land­ra­dio gibt/gab es das Inter­view im Wort­laut (Link auf fefe.de). Eine Ein­schät­zung dazu fin­det sich auch bei Jörg Rupp.

Was ist jetzt das Pro­blem, wenn der Bun­des­prä­si­dent am Tag des Grund­ge­set­zes deut­lich macht, dass er es für sinn­voll hält, von der bis­he­ri­gen Grund­la­ge für den Ein­satz der Bun­des­wehr abzu­wei­chen. Das „Frei­hal­ten von Han­dels­we­gen“ – also der mili­tä­ri­sche Schutz wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen – ist jeden­falls doch etwas deut­lich ande­res als z.B. die Gewähr­leis­tung einer fried­li­chen Welt­ord­nung im Rah­men eines Sicher­heits­sys­tems. Ob das so zusammenpasst?

Beim (lai­en­haf­ten) Blick in das Grund­ge­setz wird aber noch etwas ande­res deut­lich: das recht­li­che Kon­strukt, das die aktu­el­len Mili­tär­ein­sät­ze erlaubt, ist doch arg wack­lig. Denn wenn es sich dabei tat­säch­lich um den (im Grund­ge­setz gere­gel­ten) Ver­tei­di­gungs­fall han­deln wür­de, dann sind damit – eigent­lich – dras­ti­sche Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen im Inne­ren verbunden. 

War­um blog­ge ich das? Weil mich ein Sta­tus­up­date von Bern­hard Good­win auf die Idee gebracht hat. Und weil ich mich fra­ge, war­um das Deutsch­land­ra­dio die ent­spre­chen­de Pas­sa­ge nach­träg­lich aus dem Inter­view genom­men hat.

Update (31.05.2010): Damit hät­te ich ehr­lich gesagt nicht gerech­net – wie die Tages­schau soeben mel­det, hat Bun­des­prä­si­dent Köh­ler sei­nen Rück­tritt erklärt – wegen sei­ner Äuße­rung in Afghanistan.