Nachdem Tina Günther mein Blog netterweise zu den soziologischen zählt, und weil mir das Grafikdesign von „Hard Bloggin‘ Scientist“ gut gefällt, und ich das überhaupt für eine gute Idee halte, möchte ich mein Blog hier doch verstärkt dazu nutzen, meinen soziologischen Schaffensprozess zu begleiten.
Derzeit schlage ich mich mit dem Problem herum, mir klar darüber werden zu wollen, wie sich das „magische Dreieck“ aus Natur, Technik und Gesellschaft sozialtheoretisch fassen lässt. Das hat zum einen ziemlich viel damit zu tun, die – in großer Zahl vorliegenden Texte zu diesem Thema – zu überblicken und zu verdauen, zum anderen aber auch viel damit, darüber nachzudenken, was ich von den verschiedenen Argumenten eigentlich halte und welche theoretische Position mir sinnvoll erscheint. Vor Jahren schon hat mich Johannes Moes mal darauf hingewiesen, dass es Technik eigentlich gar nicht gibt. Inzwischen kann ich nachvollziehen, warum das eine einleuchtende Position sein kann. Nur: wie damit umgehen, dass „die Technik“ genauso wie „die Natur“ gesellschaftliche Konstrukte sind, einerseits, dass aber, andererseits, sowohl die Grenzziehung innerhalb des Materiellen (was ist noch Natur, was schon Technik?) als auch die zwischen dem Materiellen und der Gesellschaft verschwimmen (für letzteres argumentieren beispielsweise Bruno Latour, Donna Haraway oder auch Mike Michael) und eigentlich alles nur noch als Hybrid, Cyborg, Co-Agent, verteiltes Netzwerk denkbar erscheint? Vor allem dann, wenn man gerade dabei ist, eine techniksoziologische Arbeit über im Alltagssinn durchaus dem Gefilde des Technischen zuzurechnende Dinge zu schreiben?
Vielleicht hilft ein Beispiel, die verschwimmenden Grenzen sichtbar zu machen: gerade eben war ich einen Milchkaffee trinken (um über eben diese Frage nachzudenken), und bin danach durch den Regen wieder in mein Büro gelaufen. Eine ganze Reihe von „Akteuren“ sind an dieser Szenarie beteiligt. Konstellationsanalytisch lässt sich beispielsweise nach Menschen, technischen Dingen, natürlichen Dingen und Zeichensystemen (also Diskursen, Regelwerken etc.) sowie Hybriden aus den vier Gruppen unterscheiden. Während klassisch-soziologisch genau zwei Akteure auftreten: ich und der Verkäufer des Milchkaffees, oder mit Luhmann all das beschriebene nur insofern wichtig ist, als es Teil gesellschaftlicher Kommunikation darüber ist (Finanztransaktionen, Kommunikationen innerhalb des Wissenschaftssystems, …) und Personen keine Rolle spielen, tauchen mit der von Latour u.a. inspirierten Konstellationsanalyse haufenweise Akteure auf (es sei jetzt mal dahingestellt, welche für eine Analyse der Situation wirklich relevant sind):
Dieses Netzwerk trägt die soziale Praktiken „einen Kaffee trinken gehen, um über
Es ließe sich jetzt jedoch genauso gut fast alles in die Kategorie „Hybride“ packen – und da wird dann mein Problem mit dem Dreieck deutlich. Mal abgesehen davon, dass Menschen natürlich ;-) eh hybrid sind (Körper, Bewusstsein, Brille, Kleidung, Geldbeutel, …), ist die Milchkaffeetasse zwar ein technisches Ding, aber auch kulturell aufgeladen. Dass in der Tasse Milchkaffee ist, funktioniert nur durch das Zusammenwirken von Wasser, Kaffeeplantagen und ‑händlern, den Stromwerken, dem Verkäufer hinter dem Bartresen, den zu diesen Zweck gezüchteten und manipulierten Kühen, … hinter dem einfachen Milchkaffee steckt also auch schon wieder ein hybrides Netzwerk. Und dass das mit Natur und Technik so einfach nicht ist, machen nicht nur die Kühe deutlich (klar, Natur – aber ziemlich technisierte Natur!), sondern auch der Regen: der fällt wegen Gravitation und Wetterverhältnissen, letztere haben – immerhin haben wir August! – diese Woche aber auch was mit dem anthropogenen Klimawandel zu tun.
Wenn aber, und das ist mein letzter Schlenker für heute, eigentlich eh alles Hybride sind: wie dann hingehen, und die einzelnen Bestandteile, die da zusammenwirken, in ihren Wirkungen und Beeinflussbarkeiten voneinander trennen? Orthodoxe Latour-AnhängerInnen werden jetzt erklären, dass das halt der große Fehler der Moderne ist, der Versuch, dies zu trennen, und ich das halt lassen soll; um darüber zu reden – und um analytische Aussagen treffen zu können – muss ich hier aber trennen, Netzwerke auseinandernehmen und (nicht zuletzt der disziplinären Anschlussfähigkeit in Richtung a. Techniksoziologie und b. Umweltsoziologie zuliebe) Unterscheidungen treffen. Und da stehe ich jetzt.
Warum blogge ich das? Um zum Nachdenken über diesen Umstand heute nicht noch eine dritte Tasse Kaffee trinken zu müssen.
„um analytische Aussagen treffen zu können – muss ich hier aber trennen“. Das macht Latour doch aber auch. Er schreibt Bücher (ohne derartige Trennungen vorzunehmen, würde er nicht bei Suhrkamp landen ;-), gliedert diese, rechnet bestimmte Aktionen bestimmten Akteuren zu u.s.w. Das alles aber vor dem Hintergrund, dass es ein (moderner) Beobachter ist, der das alles trennt und übersetzt. Letztlich müsste man ja auch die Unterscheidung zwischen Hybriden und Ordnung selbst wieder in Frage stellen. Für mich ist die wichtige Botschaft, stets mitzureflektieren, dass die Trennungen und Verbindungen zwischen verschiedenen Dingen oder Aktoren hergestellt wurden und nicht in der Sache liegen sowie: dass zwischen Ideen und Realitäten viele shades of grey liegen.
Liest sich ja alles wie ein schönes Stück künstlicher Autismus.
Aber, auch wenn ich nicht ganz verstehe, wieso du deinen Alltag so zerlegen möchtest – analytisch kann man doch alles trennen. So wie Weber es getan hat – man bildet Idealtypen und vergleicht die Realität daran – der Idealtypus der am ehesten an das Stück der Realität herankommt das du beobachtest ist der für dieses Stück gültige…
Ich denke aber, wenn du mit der Idee die du hier verfolgst weiterkommen willst brauchst du eine vernünftige Fragestellung – denn zum einfach-so-trennen ist das alles viel zu komplex und jede ‚Zerlegung‘ viel zu kontingent.
Schön, dass das hier direkt mal zu Reaktionen führt … danke dafür!
@Benedikt: dass Latour das so macht, sehe ich auch (und auch den Punkt „wichtige Botschaft“ würde ich teilen). Allerdings finde ich, dass es eine deutlich Diskrepanz zwischen Latours Rhetorik „wider die moderne Ordnung“ und seiner Praxis gibt. Und einfach das eine zu behaupten und das andere zu machen, finde ich, platt gesagt, irgendwie blöd (genauer: wenn schon Unterscheidung, dann hätte ich das gerne systematischer und begründeter als einfach so aus dem Bauch heraus).
@Amazeman: „künstlichen Autismus“ kannte ich bisher nicht, dafür „künstliche Dummheit“ (R. Hitzler). Nur um das klarzustellen: mir geht’s nicht darum, meinen Alltag zu zerlegen. Ich mache mir Gedanken um die Unterscheidungsfragen, weil ich für die Auswertung von Interviews gerne eine begründete externe Heuristik haben will (und wenn ich da zwischen Dingen und Zeichensystemen usw. unterscheide, eine Grundlage dafür haben will, diese Unterscheidungen zu treffen). Aber vielleicht hast Du auch recht, dass es da vor allem auf die Fragestellung ankommt, und dass der Versuch, ein derartiges Analyseraster bzw. eine derartige Heuristik abgekoppelt von meiner (durchaus existenten) Fragestellung zu entwickeln, vielleicht ein bißchen übertrieben ist.
Mit der Objektiven Hermeneutik gibt es eine und meiner Meinung nach die einzige, qualitative Analysetechnik die völlig frei an Phänomene herantreten kann. Das wird relativ oft benutzt und Anhänger erkennen darin viele Vorzüge – vielleicht ist das was für dich…
Ich persönlich halte die Objektive Hermeneutik aber für Scharlatanerie die einem soziologischen Pendant der Psychoanalyse darstellt…
Wenn ich Interviews untersuche, mache ich das anhand von Fragestellungen die bereits vor der Leitfadenerstellung gebildet wurden und von denen sich die Thesen ableiten lassen, die dann abgefragt werden. Aber schwierig ist es schon am ende nicht von der eigenen Herleitung geblendet zu werden…
Ich finde es gut, wenn ein Interview komplett in Studien (als Anhang) mitveröffentlicht wird, so dass ich als Leser nicht nur die Interpretation des Autoren zur Verfügung habe, sondern selbst interpretieren kann.
Und ansonsten: Soziologie als „künstlichen Autismus“ zu begreifen ist eine meiner Wortschöpfungen ;-) Was besseres kurzes und knappes ist mir bisher noch nicht untergekommen.
„Ich persönlich halte die Objektive Hermeneutik aber für Scharlatanerie die einem soziologischen Pendant der Psychoanalyse darstellt…“
Scharlatanerie würde ich die O.H. jetzt nicht nennen, aber verteidigen mag ich sie hier auch nicht, obwohl ich selbst durchaus qualitativ arbeite. Bei mir geht das aber eher in Richtung Grounded Theory (und da eher Strauss als Glaser). Richtig ist es jedenfalls, kritisch an das Objektivitätsversprechen der O.H. heranzugehen – die Idee, sich sorgfältig verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bewusst zu machen, macht Sinn; aus wenigen Textzeilen durch derartige Vergleiche zu ganzen Aufsätzen zu kommen, schon weniger …
Allerdings würde ich nicht sagen, dass die O.H. die einzige qualitative Analysetechnik ist, die völlig frei an Phänomene herantreten kann. Grounded Theory macht das – in unterschiedlichen Abstufungen zwischen Glaser und Strauss – ja durchaus auch, beziehungsweise plädiert ja dafür, mit einer Fragestellung, aber ohne vorherige Thesen an Phänomene heranzutreten und die Theoriebildung induktiv (bzw. abduktiv) aus der beobachteten / beobachtbaren Wirklichkeit her abzuleiten. Insofern würde ich auch nicht zustimmen, dass ein Leitfaden aus „Thesen […], die dann abgefragt werden“ bestehen sollte. Das ist mir zu geschlossen. Aber da sind wir schon weit weg von dem Blogeintrag oben.
Zur Veröffentlichung von Interviews in Anhängen: Huh, prinzipiell finde ich das ja auch gut, werde es aber höchst wahrscheinlich nicht machen – allein schon, weil der Transkriptions- und Editionsaufwand, um selbst damit arbeiten zu können, nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was für eine Veröffentlichung notwendig wäre. Dass tatsächlich ganze qualitative Interviews – und nicht nur Auszüge oder redigierte Formen davon (wie im Elend der Welt) veröffentlicht werden, habe ich bisher allerdings, soweit ich mich jetzt erinnern kann, auch noch nicht gesehen.
Hybrider Autismus..fortgeschritten!
Mensch! der du bist…Technologie won‚t save us.
Fühlst du etwas, keine Sorge. Hör auf so viel zu denken. Milchkaffee lecker. Mit Maschine, je nachdem welcher besser.
Nicht verlieren den Kontakt zur Umwelt, meint Freunde. Mit Scharlatarnerie nimmst du dich selbst nicht ernst in gesellschaftlicher Hinsicht. Genau, wie dein Freund einen Unterschied macht zwischen Natur und Technik. Gut, dass es ihn gibt, den Freund und den Unterschied. Wirklichkeit ergibt sich aus dem Gefühl und das kann niemals durch Technik ersetzt werden.
Spreche nun weiterhin dem roten Wein zu.
Grüße Su
Su, ich bin nicht sicher, ob ich den Kommentar richtig verstehe, aber erstens habe ich das oben geschrieben, weil es den Unterschied zwischen Natur und Technik eben nicht so einfach gibt, wie das erstmal scheint, und zweitens: wenn Wirklichkeit sich aus dem Gefühl ergibt und nicht durch Technik ersetzt werden kann: wäre es dann nicht trotzdem spannend, zu schauen, welche Rolle Technik zwischen Wirklichkeit und Gefühlen spielt?
Interessant: Man braucht nur „künstlicher Autismus“ bei Google einzugeben und schon ist man bei Till Westermeyer! Ich finde die Diskussion hier nicht unspannend, denn ist das analytische Zerlegen von komplexen Themen und Sachverhalten in Komponenten ist Forschungsgegenstand und Tool des Soziologen, und wer z.B. längere Zeit mit dem berühmten Vier-Funktionen-Schema von Talcott P. aus M. gearbeitet hat, weiß, wie es solch ein analytisches Instrumentarium dabei hilft, Struktur, Kultur und Funktionszusammenhänge zu entdecken, in Zusammenhänge zu bringen und dann dynamische Beziehungen am lebenden Objekt aufzuzeigen. Soziologen müssen wohl damit leben, das nach außen erstmal wie „künstlicher Autismus“ kommt, aber am Ende können eben tolle Ergebnisse stehen.
Umso schwieriger allerdings ist es, dann zu entscheiden, welches analytische Tool das richtige ist. Jedenfalls erscheint mir das grade ziemlich kompliziert – und Parsons (oder vergleichbares aus dem Feld der Techniksoziologie) etwas unterkomplex. Die richtige Mitte zwischen analytischer Einfachheit und Adäquanz ist gar nicht so schnell zu finden (Praxistheorie, Strukturationstheorie sowie pragmatistische Ansätze sind das, wo ich das gerade am ehesten sehe).
Für meine eigene Arbeit war Parsons keinesfalls unterkomplex – abgesehen davon, dass ich ihn kombiniert mit der Theorie der organisationalen Felder angewandt habe; mein Theorierahmen war eher sehr komplex. Aber welche analytischen Tools Du entwickelst und anwendest, sehen wir ja dann, oder? :-)
Ich bin ebenfalls höchst interessiert welche analytischen Tools für Deine Aufgabe zum Einsatz kommen werden.