Fünf Anmerkungen zur Wahl in NRW

Journey of waiting XLII: glass paneNoch ist alles offen – 40 von 128 Wahl­krei­sen sind aus­ge­zählt – aber eini­ges lässt sich schon über die Wahl in NRW sagen:

1. Ganz gro­ßer Glück­wunsch an Bünd­nis 90/Die Grü­nen NRW, die einen über­zeu­gen­den Wahl­kampf hin­ge­legt haben, als ein­zi­ge kom­pe­tent mit dem Web umge­gan­gen sind, noch­mal drei Tage wach waren und auch hin­sicht­lich der Koali­ti­ons­op­tio­nen klar waren! 

2. Die schwarz-gel­be Bun­des­rats­mehr­heit ist weg, egal, was heu­te abend noch pas­siert. Dass wird es für die schwarz-grü­nen Koali­tio­nen in Ham­burg und im Saar­land nicht ein­fa­cher machen, wird aber auf jeden Fall eini­gen „Reform­pro­jek­ten“ der schwarz-gel­ben Bun­des­re­gie­rung vom „Natio­na­len Sti­pen­di­en­pro­gramm“ bis zur „Kopf­pau­scha­le“ gro­ße Stei­ne in den Weg legen. Gut so!

3. Die Mehr­heit in NRW hat sich klar gegen schwarz-gelb aus­ge­spro­chen. Oder, an ein­zel­nen The­men fest­ge­macht: es gibt zm Bei­spiel eine kla­re Mehr­heit für die Schu­le für alle. Die ver­teilt sich auf drei Par­tei­en. Unab­hän­gig davon, wie die Koali­ti­on am Schluss aus­sieht: die­se Inhal­te müs­sen Raum finden.

4. Die Fünf-Pro­zent-Hür­de ver­fälscht den Wäh­le­rIn­nen-Wil­len, das wird, je stär­ker die Volks­par­tei­en zu „Rui­nen“ wer­den (bei­de haben ja noch­mal ver­lo­ren) umso deut­li­cher. Wenn eine Mehr­heit davon abhängt, ob die Links­par­tei 4,9 oder 5,9% erreicht; wenn jede Stim­me für die Pira­ten letzt­lich deren Anlie­gen scha­det – dann stimmt etwas am Wahl­sys­tem nicht.

5. Ich glau­be, dass die­se Wahl mit Fug und Recht als ers­te bezeich­net wer­den kann, die maß­geb­lich durch Blogs beein­flusst wur­de – und zwar weni­ger durch die Par­tei­b­logs, son­derns sehr viel stär­ker durch Pres­se-Ersatz-Blogs, nament­lich durch die Ruhr­ba­ro­ne und durch Wir-in-NRW.

Wer mit wem in NRW (Update 3)

Green is colourful

Könn­te jemand ein Gesetz erlas­sen, das Koali­ti­ons­aus­sa­gen vor der Wahl verbietet?

Oder um mal kurz die Aus­schlüs­se aufzulisten:

  • Die CDU will mit der FDP, schließt eine Koali­ti­on mit den Grü­nen aus und wür­de wohl auch mit der SPD koalieren 
  • Die SPD will mit den Grü­nen, evtl. mit der LINKEN, evtl. mit der FDP, evtl. wohl auch mit der CDU 
  • Die Grü­nen wären – wenn die Inhal­te pas­sen – bereit, solan­ge es nicht Jamai­ka ist, oder eine Tole­rie­rung durch die LINKE 
  • Die FDP will wohl mit der CDU (pdf). Ande­re Optio­nen? Zumin­dest aus dem Saar­land wird zur Ampel gera­ten (oder kommt noch der Wes­ter­wel­le-Coup kurz vor der Wahl, sich doch wie­der nur auf schwarz-gelb festzulegen?) 
  • Die LINKE macht kei­ne kla­ren Aus­sa­gen, will aber einen Poli­tik­wech­sel und ver­weist auf Hes­sen. Sprich, rot-rot und rot-rot-grün sind nicht ausgeschlossen. 

Unter Strich blei­ben damit (neben Allein­re­gie­run­gen …) die Optio­nen CDU-FDP, CDU-SPD, SPD-Grü­ne, SPD-LINKE, SPD-Grü­ne-LIN­KE und ganz evtl. SPD-Grüne-FDP

Wie sieht’s rech­ne­risch aus? Nach der neus­ten Umfra­gen (emnid, 24.03.2010) lie­gen die Par­tei­en bei CDU (38%), SPD (32%), Grü­ne (11%), FDP (8%) und LINKE (7%). Ohne mir jetzt das Wahl­recht genau­er anzu­schau­en, hie­ße das für die genann­ten Optio­nen derzeit:

  • CDU-FDP: 46%
  • CDU-SPD: 70%
  • SPD-Grü­ne: 43% 
  • SPD-LINKE: 39%
  • SPD-Grü­ne-LIN­KE: 50% 
  • (SPD-Grü­ne-FDP: 51%) 

Kann sich aber natür­lich bis zum Wahl­tag im Mai noch ändern. So sieht das für mich unan­ge­nehm nach einer gro­ßen Koali­ti­on aus. Die SPD muss also nur drum kämp­fen, dass CDU und FDP zusam­men kei­ne Mehr­heit bekom­men (wenn die oben dar­ge­stell­ten Aus­schlüs­se stim­men). Wer die gro­ße Koali­ti­on ver­hin­dern will, und gleich­zei­tig eine Alter­na­ti­ve zu schwarz-gelb in NRW haben will, muss dage­gen die Grü­nen stär­ken, und die LINKE und/oder die FDP davon über­zeu­gen, dass eine Regie­rungs­be­tei­li­gung zusam­men mit SPD und Grü­nen sinn­voll sein könnte.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die Dis­kre­panz zwi­schen den tat­säch­li­chen Mög­lich­kei­ten und den medi­al hoch­ge­jazz­ten Optio­nen inter­es­sant finde.

Update (28.03.2010): Eini­ge Kom­men­ta­to­ren haben ja schon ange­merkt, dass sie Rütt­gers nicht glau­ben, dass er schwarz-grün tat­säch­lich nicht machen wür­de. Auf der ande­ren Sei­te wur­de von Sig­mar Gabri­el rot-rot-grün aus­ge­schlos­sen. Ampel, schwarz-grün oder gro­ße Koali­ti­on? Oder doch Wahl­er­geb­nis­se, bei denen man­che gro­ße Augen machen, wie Gre­go­ry das vermutet?

Update 2 (04.05.2010): Die FDP hat inzwi­schen erklärt, dass sie nie, auf kei­nen Fall und über­haupt nicht mit Grü­nen und / oder SPD koalie­ren will. Ein Drei­er­bünd­nis mit der Lin­ken hal­te ich für unwahr­schein­lich. Nach den aktu­el­len Umfra­gen haben weder Schwarz-gelb noch Rot-grün eine Mehr­heit. Und Schwarz-grün auch nicht. Das kann sich noch ändern, klar. Aber bis­her scheint mir in NRW alles auf eine gro­ße Koali­ti­on hin­aus­zu­lau­fen. Zu ver­hin­dern nur mit star­ken Grünen!

Update 3 (05.05.2010): Apro­pos Schwarz-grün: Arndt Klo­cke macht noch­mal klar, dass die Hür­den dafür extrem hoch hängen:

«Es gehört zu unse­ren kla­ren Wahl­zie­len, dass Jür­gen Rütt­gers nach dem 9. Mai nicht län­ger Minis­ter­prä­si­dent von Nord­rhein-West­fa­len ist», sag­te Grü­nen-Lan­des­chef Arndt Klo­cke der «Rhei­ni­schen Post» (Don­ners­tag). «Eine Koali­ti­on mit Jür­gen Rütt­gers an der Spit­ze ist für uns Grü­ne nur sehr schwer vorstellbar.» 

Anders gesagt: eigent­lich geht es in NRW jetzt um eine klas­si­sche Rich­tungs­wahl: Rot-grün oder Schwarz-gelb. Und jede Stim­me für die CDU, die FDP – aber eben auch für die LINKE und die PIRATEN – macht es wahr­schein­li­cher, dass es zu Schwarz-gelb kommt (oder zur unge­lieb­ten Not­lö­sung „gro­ße Koali­ti­on“). Also: am Sonn­tag grün wäh­len für den Wech­sel in NRW!

Kurz: Kleines provokatives Gedankenexperiment kurz vor der BDK

Journey of waiting X: geometric stripesMor­gen und über­mor­gen fin­det in Ros­tock der grü­ne Bun­des­par­tei­tag („BDK“) statt. Ich habe mich ent­schlos­sen, dies­mal nicht hin­zu­fah­ren, obwohl es durch­aus span­nen­de The­men gibt. Eines davon ist die Fra­ge der grü­nen Posi­tio­nie­rung in den nächs­ten Jah­ren. Eine Teil­de­bat­te davon dreht sich um Jamai­ka bzw. um Lager, Flü­gel, Öff­nun­gen und das Bür­ger­tum. Ich gehe davon aus, dass auch vie­le Bun­des-Jamai­ka-Fans (bzw. Nicht-Aus­schlie­ße­rIn­nen einer sol­chen Koali­ti­on) dies vor allem aus stra­te­gi­schen Erwä­gun­gen her­aus tun, nicht aus dem Gefühl gro­ßer inhalt­li­cher Übereinstimmung.

Big wasp acrobat IDie­ses Gefühl wür­de ich jedoch ger­ne auf die Pro­be stel­len. Kurz vor der BDK und der Debat­te und Ent­schei­dung über grü­ne Eigen­stän­dig­keit, Koali­ti­ons­op­tio­nen und der­glei­chen mehr ver­dich­tet sich ja dan­kens­wer­ter­wei­se immer mehr die geplan­te Kabi­netts­zu­sam­men­set­zung und der Koali­ti­ons­ver­trag von Uni­on und FDP. Ob jetzt mit oder ohne Schat­ten­haus­halt – das aus mei­ner Sicht recht gru­se­li­ge Pro­gramm zeich­net sich eini­ger­ma­ßen klar ab.

More mini sunflowers IIIJetzt das Gedan­ken­ex­pe­ri­ment: ange­nom­men, wir Grü­ne wären mit am Ver­hand­lungs­tisch geses­sen. Am Bei­spiel der FDP und der CSU sehen wir, was Par­tei­en im Bereich von 7–14% bewe­gen kön­nen. Auch die grü­ne Ver­hand­lungs­macht dürf­te – wenn nicht mit gro­ßen Veto­mög­lich­kei­ten aus­ge­stat­tet – nicht ganz anders aus­se­hen. Inso­fern stellt sich mir die Fra­ge: Was wäre anders an Koali­ti­ons­ver­trag und Kabi­nett, wenn Grü­ne – in der jet­zi­gen, aktu­el­len Situa­ti­on – mit­ver­han­delt hät­ten? Oder heißt Jamai­ka auf Bun­des­ebe­ne (in den Län­dern sind Per­so­nal, Poli­tik­fel­der und auch Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen noch ein­mal eine ganz ande­re Fra­ge) letzt­lich Schwarz-gelb, wie wir es ken­nen, plus grü­ner Umweltministerin?

Jamaika im Politbarometer, und so

Einer der neus­ten Tweets von Rein­hard Büti­ko­fer aka „bue­ti“:

Inter­es­sant! Laut ZDF-Polit­ba­ro­me­ter 64% Gruen­waeh­le­rIn­nen fuer Jamai­ka auf Lan­des­ebe­ne, 15% dagg. Mal sehen, was Par­tei­lin­ke dar­aus macht. 

Johan­nes Wald­schütz vermutet:

@bueti da wer­den dann die Umfra­ge in Zwei­fel gezo­gen, über Aus­trit­te berich­tet und sin­ken­de Wahl­er­geb­nis­se pro­phe­zeit werden. 

Sven Kind­ler, neu­er grü­ner MdB, reagiert prompt mit:

@bueti @lefthandcph @danielmack Wür­de da eher der aus­führ­lichs­ten Grü­nen­wäh­ler­stu­die (intern) vor der #BTW09 ver­trau­en. 80% gg. Jamaika. 

Wor­um geht’s? Und wer hat recht? Aus­gangs­punkt der Debat­te ist die­se Befra­gung des ZDF-Polit­ba­ro­me­ters. Dem­nach gilt für Grünen-AnhängerInnen:

64 Pro­zent fin­den dies als Koali­ti­ons­op­ti­on auch für ande­re Bun­des­län­der gut, hieß es im ZDF-„Politbarometer“ am Frei­tag. 15 Pro­zent der Grü­nen-Anhän­ger hal­ten nichts von einer Jamai­ka-Koali­ti­on, die ihren Namen aus der Anspie­lung auf die Flag­ge des Insel­staa­tes in der Kari­bik (schwarz-gelb-grün) bekom­men hat­te. 20 Pro­zent ste­hen sol­chen Koali­tio­nen gleich­gül­tig gegenüber. 

Wei­ter unten wird das dann inso­fern rela­ti­viert, als die Wer­te für die Bun­des­ebe­ne deut­lich schlech­ter aus­fal­len. In der Ori­gi­nal-Pres­se­mit­tei­lung Okt. II heißt es dazu (Herv. von mir):

Eine Jamai­ka-Koali­ti­on auf Bun­des­ebe­ne wird mehr­heit­lich in der Bevöl­ke­rung abge­lehnt, bei den Anhän­gern der Grü­nen trifft sie aber auf 50 Pro­zent Zustim­mung, 32 Pro­zent fän­den sie schlecht (14 Pro­zent: egal). 

Klingt erst­mal beacht­lich. Dass unge­fähr 40 bis 50 Pro­zent der Wäh­le­rIn­nen von Bünd­nis 90/Die Grü­nen einem Jamai­ka-Bünd­nis auf­ge­schlos­sen gegen­über­ste­hen, habe ich auch anders­wo schon gehört. Aber 64%? Wie es Johan­nes oben vor­ge­schla­gen hat, möch­te ich die­se Umfra­ge­er­geb­nis­se ger­ne ein biß­chen in Fra­ge stel­len. Und zwar in drei Punkten:

  1. Als Grü­nen-Anhän­ge­rIn­nen wer­den hier – wenn ich das rich­tig ver­ste­he – Men­schen defi­niert, die ange­ben, bei der nächs­ten Bun­des­tags­wahl grün wäh­len zu wol­len. Par­al­lel dazu wäre es span­nend, zu sehen, wie es bei den­je­ni­gen ist, die bei der letz­ten Wahl tat­säch­lich grün gewählt haben. Inso­fern die Jamai­ka-Ent­schei­dung schon eine Aus­wir­kung auf die geäu­ßer­te Wahl­ab­sicht für den kom­men­den Bun­des­tag mit sich bringt, kann es daher auch sein, dass eini­ge, die am 27.9. noch grün gewählt haben, jetzt schon nicht mehr dabei sind (und ande­re dazu­ge­kom­men sind).
  2. Gemäß der Metho­dik des ZDF-Polit­ba­ro­me­ters wer­den dafür ca. 1250 zufäl­lig aus­ge­wähl­te Men­schen befragt. Sowohl in der poli­ti­schen Stim­mung als auch bei der Pro­jek­ti­on der For­schungs­grup­pe Wah­len liegt der Anteil für Bünd­nis 90/Die Grü­nen der­zeit bei 11 Pro­zent. D.h., die abso­lu­te Basis der Aus­sa­ge oben liegt bei ca. 140 Per­so­nen. Von die­sen sind ca. 89 „Jamai­ka“ auf Lan­des­ebe­ne nicht prin­zi­pi­ell abge­neigt. Offen bleibt, ob die Reprä­sen­ta­ti­vi­tät der Zusam­men­set­zung der Stich­pro­be ins­ge­samt auch für die Teil­men­ge „Anhän­ge­rIn­nen von Bünd­nis 90/Die Grü­nen“ gilt, ob die­se also reprä­sen­ta­tiv für die 4.643.272 Wäh­le­rIn­nen der Grü­nen sind. 
  3. Neben die­sen bei­den letzt­lich für jede Aus­sa­ge zu Anhän­ge­rIn­nen der Grü­nen gel­ten­den Kri­tik­punk­ten kann auch die ver­wen­de­te Fra­ge selbst kri­tisch betrach­tet wer­den. Soweit sich das ohne wei­te­re Recher­chen rekon­stru­ie­ren lässt, muss sie in etwa so gelau­tet haben: „Im Saar­land wol­len nun CDU, FDP und Grü­ne koalie­ren, die soge­nann­te Jamai­ka-Koali­ti­on. Fin­den Sie Koali­tio­nen zwi­schen CDU, FDP und Grü­nen auf Lan­des­ebe­ne gut, schlecht oder sind sie ihnen egal?“. Es wur­den hier also nicht ver­schie­de­ne Koali­ti­ons­op­tio­nen gegen­ein­an­der gestellt, son­dern spe­zi­ell die Jamai­ka-Koali­ti­on genannt. Unter den 64% (Lan­des­ebe­ne) bzw. 50% (Bund), die unter Grü­nen-Anhän­ge­rIn­nen nach die­ser Umfra­ge eine sol­che Koali­ti­on gut fin­den, kön­nen also durch­aus eni­ge sein, die rot-grün deut­lich bes­ser, schwarz-grün eben­falls um Wel­ten bes­ser fän­den, aber prin­zi­pi­ell z.B. jede grü­ne Regie­rungs­be­tei­li­gung gut finden. 

Abseits der metho­di­schen Krit­te­lei­en und dem gene­rel­len Rat, der­ar­ti­gen Aus­sa­gen gegen­über nicht all­zu gläu­big zu sein, ver­bin­det sich mit die­sen 64 Pro­zent aber auch eine prin­zi­pi­el­le Fra­ge, näm­lich die nach der inner­par­tei­li­chen Demo­kra­tie, bzw. der demo­kra­ti­schen Ein­fluss­nah­me auf die par­tei­li­che Mei­nungs­bil­dung. Auf dem Par­tei­tag in Ros­tock wer­den die unge­fähr 800 Dele­gier­te auch über Anträ­ge abstim­men, bei denen es dar­um geht, ob Grü­ne Jamai­ka auf Bun­des­ebe­ne wei­ter aus­schlie­ßen sol­len oder nicht. Die Dele­gier­ten ver­tre­ten die ca. 45.000 Par­tei­mit­glie­der. Gewählt wur­den sie auf Mit­glie­der­ver­samm­lun­gen der Par­tei, zu denen viel­leicht 10 % der jewei­li­gen Mit­glie­der kom­men. Dar­über, ob Grü­ne Jamai­ka aus­schlie­ßen oder nicht, ent­schei­den letzt­lich – neben öffent­li­chen Dis­kur­sen etc.* – for­mal ca. 800 Leu­te, die von ca. 4.500 Leu­ten bestimmt wur­den. Bleibt die Fra­ge, ob es sinn­voll oder sogar not­wen­dig ist, den 4.643.272 – 4.500 = 4.638.772 wei­te­ren Grün-Wäh­le­rIn­nen (Bun­des­tags­wahl 2009) auch eine Stim­me zu geben, in wel­cher Form auch immer. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich mir die 64% mal näher anschau­en wollte.

* Die här­tes­te Kri­tik an Jamai­ka kommt von Ex-Grü­nen, die jetzt bei der Links­par­tei sind, und die stärks­ten Fans sind Mit­glie­der der CDU, der FDP und mehr oder weni­ger kon­ser­va­ti­ve JournalistInnen.

Jamaika im Saarland – jenseits der Erregung

I. Plötzliche Erregung

Ich bin ein klein wenig erstaunt über die hef­ti­gen Debat­ten, die jetzt im grü­nen Feld sozia­ler Netz­wer­ke über die Ent­schei­dung der Saar­grü­nen dafür toben, Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen mit CDU und FDP auf­zu­neh­men. Viel davon läuft auf Twit­ter und Face­book, es gibt aber auch schon ers­te Blog­ein­trä­ge – Julia See­li­ger will das Saar­land ver­kau­fen, Jörg Rupp ver­schlägt es den Appetit. 

Erstaunt bin ich über die hef­ti­gen Debat­ten – und die har­te Kri­tik an der Ent­schei­dung von 78 % der saar­län­di­schen Dele­gier­ten – des­we­gen, weil sich in den letz­ten Wochen ja abge­zeich­net hat, dass rot-rot-grün und Jamai­ka im Saar­land min­des­tens gleich wahr­schein­lich sind. Inso­fern fin­de ich die Ent­schei­dung zwar falsch, ihre Deut­lich­keit hat mich auch über­rascht – fas­sungs­los bin ich dar­über aber nicht.

Bei der Bewer­tung die­ses zwei­ten Expe­ri­ments (nach Ham­burg) sind, mei­ne ich, min­des­tens zwei Ebe­nen zu unter­schei­den. Das eine ist der genaue Blick auf die loka­len Beweg­grün­de und Umstän­de, die Jamai­ka im „etwas grö­ße­ren Kreis­ver­band an der fran­zö­si­schen Gren­ze“ (Vol­ker Beck) mög­lich machen. Das ande­re ist die Ein­ord­nung die­ser Ent­schei­dung in einen grö­ße­ren Kon­text. Denn auch wenn Cem und Clau­dia die bun­des­po­li­ti­sche Rele­vanz der Ent­schei­dung ver­nei­nen, ist – auch abge­se­hen von kla­ren Kon­se­quen­ten etwa bezüg­lich der Bun­des­rats­mehr­hei­ten – doch davon aus­zu­ge­hen, dass Jamai­ka im Saar­land bun­des­weit nicht fol­gen­los bleibt.

II. Saarland

Zur ers­ten Ebe­ne gehö­ren per­sön­li­che Ani­mo­si­tä­ten zwi­schen Grü­nen und LINKE im Saar­land, dazu gehört das Ver­hal­ten von Oskar Lafon­taine, dazu gehö­ren auch die unsou­ve­rä­nen Reak­tio­nen von SPD und Links­par­tei. Dazu gehört der Koh­le­berg­bau und ein „eher“ mode­ra­ter CDU-Minis­ter­prä­si­dent, und dazu gehö­ren – so ist es jeden­falls zu hören – rela­tiv weit­rei­chen­de Zuge­ständ­nis­se in der Umwelt- und Bil­dungs­po­li­tik. Um zu erklä­ren, wie es im Saar­land zu Jamai­ka, zur grü­nen Ent­schei­dung für eine Koali­ti­on mit CDU und FDP, kom­men konn­te, ist es aber wohl auch nötig, auf die rela­tiv auto­kra­ti­sche Auf­stel­lung unse­res saar­län­di­schen Lan­des­ver­bands zu schauen. 

Für das Saar­land kann eine Jamai­ka-Koali­ti­on zwei­er­lei bedeu­ten. Ent­we­der sie wird erfolg­reich, trägt auch in der poli­ti­schen prak­ti­schen Tat eine grü­ne Hand­schrift – dazu muss der Schwanz hier mit dem Hund wackeln, aber viel­leicht gelingt das ja – und sie führt die saar­län­di­schen Grü­nen aus dem zit­tern­den Leben an der 5‑Pro­zent-Hür­de ins Feld der eta­blier­ten Par­tei­en. Es besteht jeden­falls eine gehö­ri­ge Bring­schuld der neu­en Frak­ti­on und der poten­zi­el­len Regie­rungs­be­tei­lig­ten gegen­über den grü­nen Wäh­le­rIn­nen. Ein wich­ti­ger Aspekt sind hier die Per­so­nal­fra­gen, vor allem die Beset­zung der – dem Hören­sa­gen nach – zwei Minis­te­ri­en, die den Grü­nen wohl zuge­stan­den wer­den. Wenn da fähi­ge Leu­te außer­halb des saar­län­di­schen Fil­zes ran­kom­men, kann sich wirk­lich was bewe­gen. Ob es dazu kommt – da bin ich mit Blick auf die kom­mu­nal­po­li­ti­schen Vor­bil­der einer der­ar­ti­gen Koali­ti­on – zwie­ge­spal­ten. Ich glau­be aber, dass den saar­län­di­schen Grü­nen zumin­dest die Chan­ce ein­ge­räumt wer­den muss, auf tat­säch­li­che poli­ti­sche Erfol­ge hin­zu­ar­bei­ten. Mit dem Droh­po­ten­zi­al, immer auch zu Rot-rot-grün schwen­ken zu kön­nen, haben sie zumin­dest eini­ges in der Hand.

Die zwei­te Vari­an­te wäre das inhalt­li­che Schei­tern, eine Regie­rungs­be­tei­li­gung, die blass bleibt, das Feh­len grü­ner Akzen­te im schwarz-gel­ben Strom, oder, schlim­mer noch, das Schlu­cken unver­zeih­ba­rer Krö­ten in Kern­be­rei­chen der grü­nen Pro­gram­ma­tik. Bei der nächs­ten Land­tags­wahl wür­de eine der­ar­ti­ge Per­for­manz – begin­nend mit dem Koali­ti­ons­ver­trag als ers­tem Nadel­öhr – mit ziem­li­cher Sicher­heit die Grü­nen an der Saar unter fünf Pro­zent drü­cken und viel­leicht den Weg für eine rot-rote Koali­ti­on frei machen. Das hal­te ich nicht für wün­schens­wert, aber lei­der auch nicht für unmög­lich. Ich hof­fe, dass den saar­län­di­schen Grü­nen die­ser Erfolgs­druck bewusst ist. 

Ein Neben­ef­fekt eines der­ar­ti­gen Schei­terns könn­te sein, dass es zu grö­ße­ren per­so­nel­len und inhalt­li­chen Ver­än­de­run­gen im saar­län­di­schen Lan­des­ver­band kom­men könn­te. Das wäre, nach allem, was dar­über zu hören ist, nicht unbe­dingt nega­tiv – aber wür­de mit einem hohen Preis bezahlt.

III. Größerer Kontext

Eine eini­ger­ma­ßen sta­bi­le Jamai­ka-Koali­ti­on im Saar­land ist defi­ni­tiv ein Signal dafür, dass wir Grü­nen es ernst mei­nen damit, nicht auf immer und ewig Teil eines lin­ken Drei­er­la­gers sein zu wol­len, son­dern uns als eigen­stän­di­ge – lin­ke – Kraft ver­ste­hen, die, wenn inhalt­li­che Erfol­ge erzielt wer­den kön­nen, auch ein­mal mit der CDU oder der FDP Koali­tio­nen ein­ge­hen kann. Dass ist des­we­gen gar nicht so schlecht, weil die SPD uns lei­der immer noch nicht ernst nimmt. Die Son­die­rungs­ge­sprä­che in Thü­rin­gen und das unrühm­li­che Ver­hal­ten der dor­ti­gen SPD sind das bes­te Bei­spiel dafür. 

Ham­burg konn­te von der SPD noch als „Unfall“ abge­tan wer­den. Wenn es eine zwei­te grün-„bürgerliche“ Koali­ti­on auf Lan­des­ebe­ne gibt, ist zumin­dest das klar: mit der Eigen­stän­dig­keit mei­nen wir es schon ernst – wir sind nicht der gebo­re­ne Juni­or­part­ner der Sozi­al­de­mo­kra­tie. Ent­spre­chend muss mit Grü­nen auf Augen­hö­he ver­han­delt wer­den, wenn es um Regie­rungs­be­tei­li­gun­gen geht. Eben­so kann nicht auto­ma­tisch erwar­tet wer­den, dass Grü­ne ohne Rezi­pro­zi­tät z.B. Erst­stim­men­kam­pa­gnen für die SPD fahren.

Inso­fern ist Jamai­ka – trotz der oben erwähn­ten beson­de­ren loka­len Umstän­de – eben auch für die Grü­nen ins­ge­samt eine Weg­mar­ke (die von der grü­nen Anhän­ger­schaft durch­aus nicht nur nega­tiv auf­ge­nom­men wird).

Rich­tig ist aller­dings auch, dass die Ent­schei­dung im Saar­land – anders als eini­ge in der SPD das ger­ne sehen – eben kei­ne Vor­ent­schei­dung über wei­te­re Koali­tio­nen ist. Es geht nicht um ein neu­es bür­ger­li­ches Lager oder ähn­li­chen Quatsch, son­dern dar­um, in den Län­dern und auf Bun­des­ebe­ne von Fall zu Fall neu zu ent­schei­den – und vor der Wahl trans­pa­rent zu machen, wel­che Optio­nen mög­lich sind. Gera­de die ein­gangs erwähn­ten hef­ti­gen inner­par­tei­li­chen Debat­ten zei­gen, dass die star­ke Zustim­mung der saar­län­di­schen Grü­nen nicht auf die Par­tei ins­ge­samt ver­all­ge­mei­nert wer­den kann. 

Span­nend in die­ser Hin­sicht wird Nord­rhein-West­fa­len. Hier regiert schwarz-gelb mit einer defi­ni­tiv schlech­ten Per­for­manz, Minis­ter­prä­si­dent Rütt­gers fällt mit aus­län­der­feind­li­chen Sprü­chen auf. Wie die Grü­nen hier in den Land­tags­wahl­kampf gehen wer­den (gewählt wird nächs­tes Jahr, die Vor­be­rei­tun­gen der Lis­ten­auf­stel­lun­gen lau­fen der­zeit), ist um eini­ges rele­van­ter als Jamai­ka an der Saar. 

Aber auch in Baden-Würt­tem­berg (Wahl 2011) mit einer der­zeit unter­halb der 20%-Marke lau­fen­den SPD ist die­se Debat­te – und der genaue Blick dar­auf, was in Ham­burg und im Saar­land jen­seits schön­fär­be­ri­scher Spins tat­säch­lich mög­lich ist – sehr wich­tig. Gera­de, weil eini­ge der wich­tigs­ten Pro­pa­gan­dis­ten für Schwarz-grün aus Baden-Würt­tem­berg kom­men, müs­sen hier die inhalt­li­chen Hür­den für eine ent­spre­chen­de Koali­ti­on mei­ner Mei­nung nach beson­ders hoch sein, und muss beson­ders ernst­haft über­legt wer­den, wel­che ande­ren – mög­li­cher­wei­se auch unkon­ven­tio­nel­len – Gestal­tungs­per­spek­ti­ven vor­han­den sind. Das ist ein Gebot poli­ti­scher Glaubwürdigkeit.

War­um blog­ge ich das? Ist ja doch nicht ganz unwich­tig – gera­de, weil die ers­te Reak­ti­on vie­ler undif­fe­ren­zier­te Kri­tik war.