Die Welt im Jahr 2020

New York LVII (Times Square)

Die Zukunft vor­her­zu­sa­gen, ist bekann­ter­ma­ßen schwie­rig. Das gilt umso mehr, wenn es um die fer­ne Zukunft geht. Dage­gen las­sen sich über die nahe Zukunft – also zum Bei­spiel das Jahr 2020 – recht zuver­läs­si­ge Aus­sa­gen tref­fen. Mal abge­se­hen von dem Fall, dass ein unvor­her­seh­ba­res Ereig­nis ein­tritt – schwar­ze Schwä­ne mit Gischt und Ver­wir­be­lung. (Es gab eine Zeit, in der die Zahl 2020 mal für die rich­tig weit in der Zukunft lie­gen­de Zukunft stand. Aber hey – heu­te sind das weni­ger als ein­ein­halb Jahre.)

Dass das Jahr 2020 halb­wegs vor­her­sag­bar ist – allen Beschleu­ni­gungs­the­sen zum Trotz – liegt an den Zyklen und Rhyth­men, die sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten gar nicht so sehr ver­än­dert haben. Ein Gesetz zu machen, wenn’s nicht gera­de dar­um geht, ganz eilig etwas durch­zu­peit­schen, dau­ert von den ers­ten Ideen bis zum Inkraft­tre­ten, mit Anhö­run­gen und Lesun­gen etc. etc., ein bis zwei Jah­re. Eine euro­pa­wei­te Aus­schrei­bung für irgend­ein Infra­struk­tur­pro­jekt oder eine grö­ße­re Inves­ti­ti­on braucht sicher­lich ein hal­bes Jahr – und bis das Ding dann gebaut oder instal­liert ist, kann ein Jahr­zehnt ver­ge­hen. Ein neu­es medi­zi­ni­sches Ver­fah­ren, von den ers­ten Ideen bis zur Anwen­dung: auch das sind min­des­tens fünf bis zehn Jah­re, über die wir hier reden, wenn nicht mehr (ja, das gilt auch für CRISPR). Neue Bil­dungs­po­li­tik in der Leh­rer­bil­dung kommt erst eini­ge Jah­re spä­ter in den Schu­len an.

Selbst das ger­ne als Gegen­bei­spiel genom­me­ne, ach so dis­rup­ti­ve Smart­phone, 2007 plötz­lich aus App­les Hand in die Welt gekom­men, hat ja sei­ne Vor­ge­schich­te. Mobil­te­le­fo­ne fan­den seit Mitte/Ende der 1990er Jah­re wei­te­re Ver­brei­tung, Smart­phones im Sinn von „mehr als nur tele­fo­nie­ren“ gab es seit Anfang der 2000er Jah­re (Nokia und Sym­bi­an als Betriebs­sys­tem oder Black­ber­ry waren damals die Gerä­te der Wahl), und selbst das tas­ten­lo­se Bild­schirm­te­le­fon mit Touch­screen hat­te einen tech­ni­schen Vorlauf.

Es wird wei­ter gro­ße Mas­sen­me­di­en geben, die einen gro­ßen Teil der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit kana­li­sie­ren. Und es wird wei­ter schlecht kon­trol­lier­ba­re sozia­le Medi­en geben, mög­li­cher­wei­se wird dann aber nicht mehr Face­book die Platt­form der Wahl sein. Ihre Effek­te wer­den sich nicht groß­ar­tig ver­än­dert haben.

Schwar­ze Schwä­ne bei­sei­te gelas­sen, wis­sen wir, dass 2020 Ange­la Mer­kel wei­ter Bun­des­kanz­le­rin ist und mit einer gro­ßen Koali­ti­on regiert. Trump steht kurz vor sei­ner Wie­der­wahl, wenn er nicht vor­her abge­setzt wur­de. Groß­bri­tan­ni­en ist mög­li­cher­wei­se aus der EU aus­ge­tre­ten, mög­li­cher­wei­se auch nicht – aber die EU gibt es wei­ter­hin. Chi­na spielt wei­ter­hin eine gro­ße Rol­le, und der afri­ka­ni­sche Kon­ti­nent wird wei­ter aus­ge­beu­tet. 2020 wird mit hoher Wahr­schein­lich­keit ein wär­me­res Jahr als 2018 sein, jeden­falls wird die CO2-Kon­zen­tra­ti­on in der Atmo­sphä­re wei­ter stei­gen – auch hier gilt, dass Geset­ze und tech­no­lo­gi­sche Neue­run­gen, soll­te es sie denn bis dahin geben, nicht von heu­te auf mor­gen wirk­sam werden. 

Es lau­fen noch Koh­le­kraft­wer­ke, und die weit über­wie­gen­de Zahl der Autos, die im Ver­kehr sind, ist weder auto­nom noch elek­trisch. Es mag mehr auto­no­me Fahr­zeu­ge als heu­te geben, aber inner­halb von ein­ein­halb Jah­ren wer­den sie nicht mas­siv und flä­chen­de­ckend auf­tre­ten. Und das sel­be gilt – mal abge­se­hen, viel­leicht, von ein­zel­nen Län­dern wie Nor­we­gen – für Elektrofahrzeuge. 

2020 wird es kein Grund­ein­kom­men geben, und die Arbeits­zeit in Deutsch­land wird wei­ter­hin bei knapp 40 Stun­den pro Woche lie­gen. Die Schul­zeit wird maxi­mal 13 Jah­re dau­ern, und das Abitur ist nach wie vor der Zugang zur Hoch­schu­le. Die Stu­die­ren­den­zah­len wer­den etwa so hoch sein wie heu­te, und wie in den letz­ten Jah­ren auch wird die über­wie­gen­de Mehr­zahl der Stu­die­ren­den im Bache­lor-Mas­ter-Sys­tem studieren.

Das Pro­blem mit dem wach­sen­den Zulauf Rechts­au­ßen wird sich 2020 lei­der nicht gelöst haben. Und es wird wei­ter­hin der Osten sein, der hier beson­ders anfäl­lig ist – mög­li­cher­wei­se mit der einen oder ande­ren AfD-Mit­re­gie­rung in Bun­des­län­dern, und lei­der wohl wei­ter­hin mit einem rechts­au­ßen regier­ten Ungarn in der EU. Es ist mög­lich, dass wei­te­re EU-Staa­ten nach rechts kip­pen. Die Schwe­den­wahl an die­sem Wochen­en­de bei­spiels­wei­se könn­te in die­se Rich­tung aus­ge­hen. Eben­so ist es gut mög­lich, dass Rechts­au­ßen­par­tei­en bei der Euro­pa­wahl 2019 noch bes­ser abschnei­den als beim letz­ten Mal, und in der EU an Ein­fluss gewin­nen werden.

Men­schen wer­den wei­ter­hin und in grö­ße­rer Zahl vor Krieg und ande­ren Kata­stro­phen flie­hen und ver­su­chen, aus Dik­ta­tu­ren und repres­si­ven Staa­ten zu ent­kom­men. Hier könn­te sich, je nach­dem, wie die EU in den nächs­ten ein­ein­halb Jah­ren reagiert, und wie sich Bewe­gun­gen wie die See­brü­cke eta­blie­ren, mög­li­cher­wei­se tat­säch­lich etwas in Rich­tung mehr Huma­ni­tät ver­än­dern – oder nicht. Je nach­dem, wie vie­le Men­schen hier wei­ter auf die Stra­ße gehen, ist das eine oder das ande­re wahrscheinlicher.

Die Welt­re­vo­lu­ti­on bleibt auch im 202. Geburts­jahr von Marx aus.

Die­se Lis­te klingt jetzt halb­wegs fata­lis­tisch. Aber eigent­lich macht sie nur deut­lich, dass es ers­tens sinn­los ist, Zukunfts­pro­gno­sen für die nahe Zukunft abzu­ge­ben, dass zwei­tens Zukunft gestalt­bar ist, dazu aber meist – wenn nicht gera­de Gele­gen­heits­fens­ter sich öff­nen – sehr viel Geduld not­wen­dig ist, bis aus einer Idee poli­ti­sche Mehr­hei­ten und tat­säch­li­che, gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit wer­den. Die meis­te Ver­än­de­rung geht schlei­chend vor sich. Drit­tens: abge­se­hen von den bereits erwähn­ten schwar­zen Schwä­nen – wenn sich dann doch ein­mal etwas ändert, dann ist es kaum vor­her­seh­bar und kann rasant und ereig­nis­haft passieren. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich mir nicht sicher bin, ob ich die­se sozio­tech­ni­sche Träg­heit allen Beschleu­ni­gungs­de­bat­ten zum Trotz eher beru­hi­gend oder eher beun­ru­hi­gend fin­den soll.

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