Die Zukunft vorherzusagen, ist bekanntermaßen schwierig. Das gilt umso mehr, wenn es um die ferne Zukunft geht. Dagegen lassen sich über die nahe Zukunft – also zum Beispiel das Jahr 2020 – recht zuverlässige Aussagen treffen. Mal abgesehen von dem Fall, dass ein unvorhersehbares Ereignis eintritt – schwarze Schwäne mit Gischt und Verwirbelung. (Es gab eine Zeit, in der die Zahl 2020 mal für die richtig weit in der Zukunft liegende Zukunft stand. Aber hey – heute sind das weniger als eineinhalb Jahre.)
Dass das Jahr 2020 halbwegs vorhersagbar ist – allen Beschleunigungsthesen zum Trotz – liegt an den Zyklen und Rhythmen, die sich in den letzten Jahrzehnten gar nicht so sehr verändert haben. Ein Gesetz zu machen, wenn’s nicht gerade darum geht, ganz eilig etwas durchzupeitschen, dauert von den ersten Ideen bis zum Inkrafttreten, mit Anhörungen und Lesungen etc. etc., ein bis zwei Jahre. Eine europaweite Ausschreibung für irgendein Infrastrukturprojekt oder eine größere Investition braucht sicherlich ein halbes Jahr – und bis das Ding dann gebaut oder installiert ist, kann ein Jahrzehnt vergehen. Ein neues medizinisches Verfahren, von den ersten Ideen bis zur Anwendung: auch das sind mindestens fünf bis zehn Jahre, über die wir hier reden, wenn nicht mehr (ja, das gilt auch für CRISPR). Neue Bildungspolitik in der Lehrerbildung kommt erst einige Jahre später in den Schulen an.
Selbst das gerne als Gegenbeispiel genommene, ach so disruptive Smartphone, 2007 plötzlich aus Apples Hand in die Welt gekommen, hat ja seine Vorgeschichte. Mobiltelefone fanden seit Mitte/Ende der 1990er Jahre weitere Verbreitung, Smartphones im Sinn von „mehr als nur telefonieren“ gab es seit Anfang der 2000er Jahre (Nokia und Symbian als Betriebssystem oder Blackberry waren damals die Geräte der Wahl), und selbst das tastenlose Bildschirmtelefon mit Touchscreen hatte einen technischen Vorlauf.
Es wird weiter große Massenmedien geben, die einen großen Teil der öffentlichen Aufmerksamkeit kanalisieren. Und es wird weiter schlecht kontrollierbare soziale Medien geben, möglicherweise wird dann aber nicht mehr Facebook die Plattform der Wahl sein. Ihre Effekte werden sich nicht großartig verändert haben.
Schwarze Schwäne beiseite gelassen, wissen wir, dass 2020 Angela Merkel weiter Bundeskanzlerin ist und mit einer großen Koalition regiert. Trump steht kurz vor seiner Wiederwahl, wenn er nicht vorher abgesetzt wurde. Großbritannien ist möglicherweise aus der EU ausgetreten, möglicherweise auch nicht – aber die EU gibt es weiterhin. China spielt weiterhin eine große Rolle, und der afrikanische Kontinent wird weiter ausgebeutet. 2020 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein wärmeres Jahr als 2018 sein, jedenfalls wird die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter steigen – auch hier gilt, dass Gesetze und technologische Neuerungen, sollte es sie denn bis dahin geben, nicht von heute auf morgen wirksam werden.
Es laufen noch Kohlekraftwerke, und die weit überwiegende Zahl der Autos, die im Verkehr sind, ist weder autonom noch elektrisch. Es mag mehr autonome Fahrzeuge als heute geben, aber innerhalb von eineinhalb Jahren werden sie nicht massiv und flächendeckend auftreten. Und das selbe gilt – mal abgesehen, vielleicht, von einzelnen Ländern wie Norwegen – für Elektrofahrzeuge.
2020 wird es kein Grundeinkommen geben, und die Arbeitszeit in Deutschland wird weiterhin bei knapp 40 Stunden pro Woche liegen. Die Schulzeit wird maximal 13 Jahre dauern, und das Abitur ist nach wie vor der Zugang zur Hochschule. Die Studierendenzahlen werden etwa so hoch sein wie heute, und wie in den letzten Jahren auch wird die überwiegende Mehrzahl der Studierenden im Bachelor-Master-System studieren.
Das Problem mit dem wachsenden Zulauf Rechtsaußen wird sich 2020 leider nicht gelöst haben. Und es wird weiterhin der Osten sein, der hier besonders anfällig ist – möglicherweise mit der einen oder anderen AfD-Mitregierung in Bundesländern, und leider wohl weiterhin mit einem rechtsaußen regierten Ungarn in der EU. Es ist möglich, dass weitere EU-Staaten nach rechts kippen. Die Schwedenwahl an diesem Wochenende beispielsweise könnte in diese Richtung ausgehen. Ebenso ist es gut möglich, dass Rechtsaußenparteien bei der Europawahl 2019 noch besser abschneiden als beim letzten Mal, und in der EU an Einfluss gewinnen werden.
Menschen werden weiterhin und in größerer Zahl vor Krieg und anderen Katastrophen fliehen und versuchen, aus Diktaturen und repressiven Staaten zu entkommen. Hier könnte sich, je nachdem, wie die EU in den nächsten eineinhalb Jahren reagiert, und wie sich Bewegungen wie die Seebrücke etablieren, möglicherweise tatsächlich etwas in Richtung mehr Humanität verändern – oder nicht. Je nachdem, wie viele Menschen hier weiter auf die Straße gehen, ist das eine oder das andere wahrscheinlicher.
Die Weltrevolution bleibt auch im 202. Geburtsjahr von Marx aus.
Diese Liste klingt jetzt halbwegs fatalistisch. Aber eigentlich macht sie nur deutlich, dass es erstens sinnlos ist, Zukunftsprognosen für die nahe Zukunft abzugeben, dass zweitens Zukunft gestaltbar ist, dazu aber meist – wenn nicht gerade Gelegenheitsfenster sich öffnen – sehr viel Geduld notwendig ist, bis aus einer Idee politische Mehrheiten und tatsächliche, gesellschaftliche Wirklichkeit werden. Die meiste Veränderung geht schleichend vor sich. Drittens: abgesehen von den bereits erwähnten schwarzen Schwänen – wenn sich dann doch einmal etwas ändert, dann ist es kaum vorhersehbar und kann rasant und ereignishaft passieren.
Warum blogge ich das? Weil ich mir nicht sicher bin, ob ich diese soziotechnische Trägheit allen Beschleunigungsdebatten zum Trotz eher beruhigend oder eher beunruhigend finden soll.