Die Schulz-Story von Markus Feldenkirchen – ich habe den Fehler gemacht, sie als Hörbuch zu kaufen und gemerkt, dass das einfach nicht mein präferierter Wahrnehmungskanal ist, aber das ist eine andere Geschichte – also: die Schulz-Story ist ein beeindruckendes Stück Journalismus, bis hin zu den wie nebenbei in den Text eingestreuten Erläuterungen zu Fachbegriffen und politischen Situationen. Sie lässt sich auf drei Ebenen lesen: als Text über die Person Martin Schulz, als Text über den Zustand der SPD, und als Text über einige Dysfunktionalitäten unseres politischen Systems.
Als Langzeitbeobachter des Kanzlerkandidaten Martin Schulz arbeitet Feldenkirchen das Portrait eines Politikers heraus, der scheitert. Schulz will bodenständig, emotional und intellektuell zu gleich sein. Er pocht auf Anstand und lässt Führungsstärke vermissen. Er ist in eine Situation geraten, die ihn tendenziell überfordert, die fremdbestimmt ist – und ab einem bestimmten Punkt scheint das Durchziehen-Müssen die Oberhand zu gewinnen. Da geht’s dann am Rand der Selbstverleugnung nur noch darum, oberhalb der 20%-Marke anzukommen.
Deutlich wird auch, wie anstrengend ein bundesweiter Wahlkampf ist – ein guter Teil des Buchs spielt in Zügen und Flugzeugen auf dem Weg von Termin zu Termin.
Wenn Feldenkirchens Buch auf dieser Ebene bleiben würde, wäre es ganz interessant, durchaus auch aufschlussreich hinsichtlich der Bundestagswahl 2017, aber doch irgendwie halbgar. Zum Glück gehört zu Feldenkirchens Langzeitbeobachung auch eine dichte Beschreibung des Politikbetriebs im Allgemeinen und der SPD im Besonderen.
Die SPD, die hier geschildert wird – genauer gesagt: die politische Führung der SPD; die „Basis“ kommt nur als Staffage für Parteitagsinszenierungen und Wahlkampfkundgebungen vor – ist eine einerseits eine gnadenlose Partei, andererseits aber auch eine orientierungslose Partei.
Schulz erscheint hier als Spielfigur zwischen Gabriel auf der einen und Scholz und Nahles auf der anderen Seite. Seine eigene Handlungsfähigkeit als Parteichef und Kanzlerkandidat ist begrenzt. Die eigentliche Steuerung liegt beim Apparat der Partei – was Schulz erkennt, aber hinnimmt – und bei einer zunehmenden Zahl an Berater*innen und Coaches. Die wiederum orientieren sich Feldenkirchen zu Folge vor allem an zwei Indikatoren: Umfragen und Medien.
Im Ergebnis kommt dabei ein Wahlkampf heraus, der nicht auf Schulz zugeschnitten ist, sondern teilweise wortgleich 2009 und 2013 bereits gescheiterte Botschaften wiederholt. Schulz ist nicht Herr seiner Worte. Seine zentralen Reden sind x‑fach glattgebügelte Teamarbeit, die Themen, die er setzen will – Europa! – , kann er nicht durchsetzen, seine Stärken darf er nicht ausspielen, sie werden ihm ausgeredet. Dass am Schluss ein an sich selbst zweifelnder Kandidat heraus kommt, der seine anfängliche Authentizität schnell verliert, verwundert da nicht.
Ob die Wahl 2017 anders ausgegangen wäre, wenn Schulz mehr er selbst hätte sein können? Feldenkirchen suggeriert das; allerdings bliebe die SPD die gleiche Partei. Der double bind zwischen mitregieren und mit verantwortlich sein auf der einen Seite und sich von Merkel absetzen müssen auf der anderen Seite wäre keinen Deut anders; ebenso bliebe der – das spricht Feldenkirchen selbst an – programmatisch ausgelaugte und ohne visionären Überdruck belanglose Zustand sozialdemokratischer Parteien im Europa des 21. Jahrhunderts. Diese großen Fragen hängen nicht an Einzelnen und sie hängen erst recht nicht an der werblichen Güte einer Kampagne.
Das sind spezifische Probleme der Sozialdemokratie, der ihr Milieu – bzw. die mehrere Milieus verbindende Klammer – abhanden gekommen ist. Und die aktuellen Umfragedaten deutlich unterhalb der 20%-Marke weisen darauf hin, dass das Ende dieser Geschichte noch nicht erreicht ist.
Apropos Umfragedaten: Feldenkirchens Buch ist eben drittens auch eine Beobachtung des politischen Systems der Berliner Republik. Einiges davon hat bei mir als Stuttgarter Fraktionsmitarbeiter durchaus Wiedererkennungseffekte ausgelöst. Der SPIEGEL-Journalist Feldenkirchen arbeitet die Resonanzbeziehung zwischen Politik und Medien, ständig in Beziehung zu einander, klar heraus. Der dritte im Bunde sind die Meinungsforschungsinstitute – hier nicht nur mit Wahlumfragen vertreten, sondern immer wieder auch mit Tests einzelner Botschaften und politischer Aussagen.
Damit weist die Schulz-Story auf Fragen zur Zukunft der Demokratie hin, wie sie auch bei dem Symposium zu Kretschmanns 70. Geburtstag vor ein paar Tagen erörtert wurden. Letztlich steht hier die Frage des nicht vorhandenen Rückkanals von den Wähler*innen zu den Parteien im Mittelpunkt. Umfragen und das ständige Schielen auf Medienberichte, auf die öffentliche Meinung sind Surrogat dafür, dem Volk aufs Maul zu schauen.
In einer 80 Millionen Menschen umfassenden Öffentlichkeit braucht es derartige Surrogate. Anders geht es nicht. (Ein Teil der Überraschung über den Erfolg von Martin Horn in Freiburg ist dadurch zu erklären, dass es hier eben keine Meinungsumfragen gab und bezüglich der „Stimmung“ in der Stadt viel im Nebel herumgestochert wurde.)
Dennoch wird am Beispiel der Schulz-Story deutlich, wie gefährlich es ist, Medienberichte und Umfragen erstens für bare Münze zu nehmen und zweitens die eigene Politik daran auszurichten. Dann entsteht so etwas wie ein Populismus der Mitte; samt Tendenz zur Ununterscheidbarkeit von Parteien im kleinsten gemeinsamen Nenner der „öffentlichen Meinung“. Letztlich sind sich Politiker*innen, Politikberater*innen und Journalist*innen lebensweltlich doch sehr nah, mit allen damit verbundenen Schließungen und Verzerrungen.
(Soziale Medien spielten für Schulz – diesbezüglich altmodisch – keine Rolle, das Social-Media-Team, das ab und an im Buch auftaucht, bleibt ein auf Unverständnis stoßender Fremdkörper. Hinsichtlich des eben beschriebenen Phänomens des Verbleibs in einer Blase sind soziale Medien jedenfalls auch keine Lösung.)
Ich nehme aus der Schulz-Story drei Punkte mit.
Erstens: erfolgreiche Wahlkämpfe beginnen am Tag nach der Wahl. Programm, Kampagne, Kandidat*in müssen auf einem Bild aufbauen, das politisch über lange Zeit erarbeitet wurde und nicht von heute auf morgen aufgerufen wird. Soviel Stimmigkeit muss sein.
Zweitens: wer sich schon der eigenen Parteizentrale gegenüber nicht durchsetzen konnte, und in einen Zirkel des permanenten Neustarts geraten ist, gesteuert von immer neuen Ratschlägen, unter Verleugnung eigener Instinkte und Themen: wie hätte der ein guter Kanzler werden können?
Drittens: vielleicht würde es der deutschen Politik (samt angeschlossenem Mediensystem) gut tun, ein wenig mehr Auseinandersetzung über unterschiedliche Visionen des guten Lebens zuzulassen. Dann würden jenseits des tagespolitischen Hickhacks größere Linien, Wertsetzungen und Interessen sichtbar. Talkshows sind dafür allerdings kein geeignetes Format.
Warum blogge ich das? Politikberatung!