Die Energie, die Annalena Baerbock und Robert Habeck mit ihren Bewerbungen für den grünen Bundesvorstand ausgestrahlt haben, ist nicht verblasst. Nein: es ist spürbar, dass sich in der grünen Bundesgeschäftsstelle jetzt etwas bewegt. Nicht nur, weil diese neu aufgestellt wird und Doppelspitze jetzt nicht mehr als Parallelstruktur, sondern als Team gedacht wird. Nein, auch der beginnende Grundsatzprogrammprozess – ein schreckliches Wort – strahlt diese Energie aus.
Letztlich geht es um nichts weniger als die ja auch von mir immer mal wieder eingeforderte Neuerfindung der Partei. Im Impulspapier des Bundesvorstands für das heute und morgen in Berlin stattfindende „Startkonvent“ für die Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms finden sich viele Umschreibungen der Herausforderungen und Anforderungen, die mit dieser Neuerfindung, für die „vierte Phase der Grünen“, verbunden sind.
Besonders spannend finde ich einen eher unscheinbaren Begriff. Dort heißt es nämlich auch:
Wir Grünen wollen Plattform sein. Uns geht es um eine Rückbesinnung auf das Politische. Politische Debatten sind keine Glaubenslehren, sondern Streitkulturen.
Neben dem sehr richtigen Anspruch, Politik wieder als Politik – und damit als Streit um Interessen – zu behandeln, taucht dort der Begriff „Plattform“ auf. Plattform kann ja mit verschiedenen Dingen assoziiert werden. Ich bin mal so frei und denke mir, dass Plattform sein wollen nicht nur auf Macron in Frankreich (und, das etwas bösere Beispiel: Kern in Österreich) anspielt. Da werden Parteien zu Plattformen einer Bewegung, nur noch lose zusammengebunden über charismatische Persönlichkeiten. Das hieße dann auch: Raum für die politische Auseinandersetzung bieten, ohne Parteilichkeit und die Mottenkiste der alten Volksparteien mit ihren ganzen Bindungen und Fahnen hervorzukramen.
Plattform sein zu wollen, ist, etwas abstrakter gesprochen, eine Selbstdefinition als Ort. Eine Plattform ist irgendetwas räumliches, erhöhtes, vielleicht mit Geländer und Aussicht. Sie kann betreten werden, und auf ihr kann – dann wird sie zur Bühne – öffentlich gespielt oder gestritten werden.
Aber ich assoziiere mit Plattform noch etwas anderes, vielleicht gar nicht gemeintes. Digitalisierungskritik als Gesellschaftskritik kennt den Begriff des „Plattformkapitalismus“ und meint damit die neuen, globalen Oligopole, die davon leben, als Plattform Dinge zu vermitteln. Wer etwas kaufen oder verkaufen will, macht das bei Amazon, weil alle bei Amazon sind. Damit bestimmt Amazon die Regeln des Spiels mit. Wer im Netz kommunizieren will, macht das auf der Plattform Facebook, weil alle bei Facebook sind. Damit bestimmt Facebook die Regeln des Spiels mit. Wer eine App sucht, findet sie in einem der Appstores der Mobiltelefonbetriebssystemhersteller. Wieder Plattform.
Vielleicht ist es vermessen, aber frei assoziiert könnte Plattform sein zu wollen politisch auch heißen: wer den politischen Diskurs sucht, wer darüber ringen will, in welche Richtung es geht, wer mitgestalten will – für den bieten Bündnis 90/Die Grünen eine Plattform, vielleicht sogar die Plattform.
Großer Anspruch also. Und sonst so? Das Impulspapier möchte aus dem Anfang der 2000er Jahre her rührenden derzeit gültigen Grundsatzprogramm der Partei übernehmen, dass der Mensch mit seiner Würde und Freiheit im Mittelpunkt grüner Politik steht. Der Mensch, die Menschheit – das ist die Ausgangsperspektive. Was insofern spannend ist, weil damit Naturschutz und Ökologie funktional werden und anthropozentrisch gedacht werden müssen: Naturschutz, Umweltschutz, Klimaschutz, eine – so das Impulspapier – radikalisierte ökologische Frage, aber eben von der Menschheit aus gedacht, und nicht von Eigenwerten der Natur her.
An den radikalisierten ökologischen Impuls schließen fünf weitere Impulse an, die jeweils vom Menschen aus gedacht sind. Diese sechs Themen werden morgen in Workshops diskutiert, aus ihnen heraus soll dann bis 2020 das neue Programm entstehen.
„Mensch als Kapital oder Kapital für den Menschen“ – Arbeits- und Sozialpolitik, soziale Sicherungssysteme, ein Update für die Kapitalismuskritik – neue soziale Leitplanken.
„Mensch und Maschine oder Mensch als Maschine“ – was machen wir mit der Digitalisierung, braucht es neue Formen der politischen Einhegung und Kontrolle?
„Der Mensch und das Leben“ – Wissenschaftsgesellschaft und Bioethik; hier steht auch die teilweise in der Presse schon diskutierte Aufforderung, nochmal zu hinterfragen und klar zu argumentieren, ob ein Abschied von der pauschalen Gentechnikkritik notwendig ist.
„Der Mensch in einer Welt in Unordnung“ – Sicherheit, Außenpolitik, Entwicklungspolitik in einer auf den ersten Blick chaotischer gewordenen Welt.
„Der Mensch und der Mensch und der Mensch“ – Vielfalt, Diversität, Einwanderung und Globalisierung.
Wer möchte, findet in diesem Impulspapier einiges kritikwürdiges. Ein Beispiel dafür ist die Frage, wie Feminismus und alle davon abgeleiteten Fragen von der Zeitpolitik bis zur Aushandlung der Geschlechterverhältnisse in diesem Menschenkatalog ihren Platz finden.
Gleichzeitig steht die Diskussion mit dem Papier ja erst am Anfang. Ich bin gespannt und freue mich auf den Auftakt und die Debatten heute und morgen. Das wird was!
Warum blogge ich das? Weil ich den Impuls für ein neues Grundsatzprogramm sehr wichtig und sehr grün finde.