Die Folgen von Abstimmungen

The red door

Ein Land im Schluss­ver­kauf – und eine Ent­schei­dung, die schwer zu ver­ste­hen ist. Wenn ich mich etwas beei­le, schaf­fe ich es in den nächs­ten zwei Jah­ren doch noch, Urlaub in Groß­bri­tan­ni­en zu machen, solan­ge das Ver­ei­nig­te König­reich noch Mit­glied der EU ist, und Frei­zü­gig­keit etc. gel­ten. Es sei denn, die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit schafft die EU vor­her ab. Grenz­kon­trol­len sind ja auch inner­halb der Uni­on wie­der groß im Kommen.

Das Ver­ei­nig­te König­reich trat 1973 der EU bei – zwei Jah­re vor mei­ner Geburt. Für mich gehör­te es zu den All­täg­lich­kei­ten der Welt, mit denen ich auf­ge­wach­sen bin, dass die gro­ße Insel im Atlan­tik ein Teil der Euro­päi­schen Uni­on ist. Und auch, wenn ich bis­her erst zwei­mal dort war (ein­mal Schü­ler­aus­tausch, ein­mal eine wis­sen­schaft­li­che Kon­fe­renz), erscheint Groß­bri­tan­ni­en mir – mit all sei­nen Beson­der­hei­ten, sei­nem selt­sa­men Wahl­recht und dem Königs­haus – ver­traut. Egal, ob Sci­ence Fic­tion oder Pop Kul­tur, poli­ti­sche Theo­rie oder schwar­zer Humor, geleb­te Mul­ti­kul­tur oder Land­schafts­ar­che­ty­pen – mein Kom­pass zeig­te und zeigt zu den Briten.

Ent­spre­chend fin­de ich die Brexit-Ent­schei­dung doch recht trau­rig und unüber­legt. Ins­be­son­de­re kann ich nicht so recht nach­voll­zie­hen, was die 52 Pro­zent der Brit*innen, die für den Aus­stieg aus der EU gestimmt haben, dabei für Moti­ve hat­ten. Das ist den abge­ge­be­nen Stim­men ja hin­ter­her nicht mehr anzu­se­hen. Von dem, was bei mir ankam, war „Lea­ve“ vor allem auch eine rechts­po­pu­lis­ti­sche, natio­na­lis­ti­sche Kam­pa­gne, die vor der Ver­brei­tung von Unwahr­hei­ten nicht zurück­ge­schreckt ist, egal ob es um die Finanz­strö­me oder um Migra­ti­on ging. 52 Pro­zent für ein UKIP-Pro­jekt? Das lässt noch Düs­te­rers ahnen. 

Das Brexit-Refe­ren­dum hin­ter­lässt (inso­fern durch­aus ähn­lich wie die Bun­des­prä­si­den­ten­wahl in Öster­reich) ein pola­ri­sier­tes Land. Schott­land, Nord­ir­land und Lon­don haben mit doch recht deut­li­chen Mehr­hei­ten für den Ver­bleib des Ver­ei­nig­ten König­reichs in der EU gestimmt, Eng­land und Wales für den Aus­stieg (übri­gens nicht nur das länd­lich gepräg­te Eng­land). Es scheint auch so zu sein, dass Jün­ge­re deut­lich für den Ver­bleib*, Älte­re dage­gen mehr­heit­lich für den Aus­tritt gestimmt haben. Und – wie­der­um ganz par­al­lel zu Öster­reich – höhe­re Bil­dung und ein Ver­bleib in der EU kor­re­lier­ten eben­falls deutlich.

Ob denen, die abge­stimmt haben, die Kon­se­quen­zen ihrer Stimm­ab­ga­be klar waren, lässt sich durch­aus in Fra­ge stel­len. Es waren wohl eini­ge dabei, die hier eher die Pro­test­wahl im Sinn hat­ten, oder die nicht wirk­lich geglaubt haben, dass ein Aus­tritt aus der EU eben auch den Aus­tritt aus dem Wirt­schafts­raum, zunächst ein­mal das Ende der Per­so­nen­frei­zü­gig­keit für Brit*innen inner­halb der EU – egal, ob in Spa­ni­en oder in Ber­lin -, das Ende von Sub­ven­ti­ons­zah­lun­gen für den struk­tur­schwa­chen länd­li­chen Raum und die Land­wirt­schaft und das Aus für die EU-For­schungs­för­de­rung bedeu­tet (viel­leicht auch das Aus für das AKW Hin­k­ley Point C, wir wer­den sehen). Dass die Bör­sen recht deut­lich reagier­ten, dass der Kurs des Bri­ti­schen Pfunds erst­mal abge­stürzt ist, dass Schott­land jetzt erneut über die Unab­hän­gig­keit und eine eigen­stän­di­ge EU-Mit­glied­schaft dis­ku­tiert, dass der Frie­dens­pro­zess in Irland mög­li­cher­wei­se wie­der aus­ein­an­der­bricht, ja, dass es sogar in Lon­don inzwi­schen Stim­men gibt, die Unab­hän­gig­keit von Eng­land haben wol­len, dass David Came­ron zurück­tritt – das haben mög­li­cher­wei­se vie­le der Abstim­men­den nicht erwar­tet. Aber jetzt sind die Stim­men abge­ge­ben und las­sen sich nicht zurücknehmen.

Die popu­lis­ti­sche The­se, die sich dar­aus for­men lässt, wür­de unge­fähr wie folgt lau­ten: Hier wur­de ein in der direk­ten Demo­kra­tie nicht ange­mes­sen zu behan­deln­des The­ma auf eine Ja-Nein-Ent­schei­dung ver­kürzt. Die Stim­men für den Brexit waren zu gro­ßen Tei­len Stim­men unin­for­mier­ter Men­schen, denen die Kon­se­quen­zen des eige­nen Han­delns nicht klar waren, und die sich von ein­fa­chen Paro­len von UKIP und Boris John­son haben ein­fan­gen las­sen, die auf Jah­ren der Angst­ma­che­rei auf­bau­en konn­ten. Ähn­lich wie bei der FPÖ, mög­li­cher­wei­se ähn­lich wie bei Trump in den USA, ähn­lich wie bei man­chen Abstim­mun­gen in der Schweiz …

Wenn die­se The­se so stim­men wür­de, dann müss­te noch ein­mal ernst­haft über (direk­te) Demo­kra­tie und deren Vor­zü­ge und Nach­tei­le dis­ku­tiert werden. 

Aber auch ohne den impli­zi­ten Vor­wurf, dass ein gro­ßer Teil der Wähler*innen zu dumm zum wäh­len ist, lässt sich die Brexit-Abstim­mung zum Anlass neh­men, dar­über nach­zu­den­ken, wie direk­te Demo­kra­tie so gestal­tet wer­den kann, dass sie nicht auf Pola­ri­sie­rung und Spal­tung, son­dern auf das Fin­den von Lösun­gen, auf Kon­sens und Zusam­men­halt hin ori­en­tiert ist. Ein­fa­che Tools dafür gibt es kei­ne. Mög­li­cher­wei­se wür­den höhe­re Hür­den und Min­der­hei­ten­schutz­rech­te – sagen wir, die Not­wen­dig­keit einer 2/3‑Mehrheit, um an den staat­li­chen Grund­la­gen etwas zu ändern -, deli­be­ra­ti­ve Betei­li­gungs­ver­fah­ren und die Mög­lich­keit einer „Pro­be­ab­stim­mung“ (und damit einer Frist, die eige­ne Ent­schei­dung noch ein­mal zu über­den­ken) Über­ra­schun­gen, die die eine Hälf­te der Stimm­be­rech­tig­ten der ande­ren Hälf­te macht, vermeiden. 

Zurück zur kon­kre­ten Abstim­mung. Es ist aktu­ell völ­lig unklar, was bis 2020 dar­aus erwach­sen wird. Der Aus­tritt aus der EU ist ein län­ge­rer Pro­zess; der­zeit gibt es Streit zwi­schen den Insti­tu­tio­nen der EU (die nach dem Refe­ren­dum jetzt mög­lichst bald mit den Aus­tritts­ver­hand­lun­gen begin­nen möch­ten) und der bri­ti­schen Über­gangs­re­gie­rung (Came­ron hat in sei­ner Rück­tritts­er­klä­rung die Ent­schei­dung dar­über, ob es tat­säch­lich zu Aus­tritts­ver­hand­lun­gen kommt, in den Herbst und damit in die Hän­de sei­nes Nach­fol­gers – mög­li­cher­wei­se Boris John­son – gelegt). Das Refe­ren­dum ist nicht bin­dend. Ob jetzt das gro­ße Zurück­ru­dern beginnt, um gesichts­wah­rend doch in der EU zu blei­ben, wird sich zei­gen. Jeden­falls spal­ten sich mög­li­che Zukünf­te hier und heu­te auf, inso­fern kann der 23.06. tat­säch­lich als his­to­ri­sches Datum ange­se­hen werden. 

Zu den Unsi­cher­hei­ten gehört nicht nur die Fra­ge, ob der Aus­tritt des Ver­ei­nig­ten König­reichs aus der EU tat­säch­lich umge­setzt wird. Eben­so ist offen, was jetzt in und mit Schott­land pas­siert; die SNP hät­te am liebs­ten ein unab­hän­gi­ges Schott­land als Mit­glieds­staat der EU. Es ist offen, was in Irland und zwi­schen Nord-Irland pas­siert. Es ist offen (na gut, sehr unwahr­schein­lich), ob Lon­don sich zum unab­hän­gi­gen Stadt­staat erklärt und aus der bri­ti­schen Uni­on aus­tritt. Mög­li­cher­wei­se wird das Abstim­mungs­er­geb­nis die Ten­denz, Lon­don in der Selbst­ver­wal­tung zu stär­ken („devo max“), unterstützen. 

Und dann sind die mög­li­chen Fol­gen der Fol­gen offen. Je nach­dem, wie hart die EU mit Groß­bri­tan­ni­en ver­han­delt, wird der Brexit abschre­cken oder Nach­ah­mer auf den Plan rufen. Schon heu­te kom­men ent­spre­chen­de For­de­run­gen aus aller­lei rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en (Wil­ders, FN, AfD, …). Die EU könn­te ohne Groß­bri­tan­ni­en schnel­ler vor­an­kom­men und stär­ker zusam­men­wach­sen, oder es könn­te das Ende der EU bedeu­ten, wie wir sie ken­nen. Auch für die aktu­el­len Ver­hand­lun­gen mit der Schweiz, die ja per Volks­ab­stim­mung gezwun­gen wur­de, die stär­ke­re Kopp­lung an die EU-Frei­zü­gig­kei­ten zurück­zu­neh­men, ver­heißt es mög­li­cher­wei­se nichts Gutes, wenn jetzt jeder Kom­pro­miss auch unter dem Fokus betrach­tet wird, was Groß­bri­tan­ni­en bekommt oder nicht bekommt.

Wie sehen die mit­tel­fris­ti­gen wirt­schaft­li­chen Kon­se­quen­zen eines Aus­tritts aus? Was pas­siert, wenn migran­ti­sche Arbeits­kräf­te aus Groß­bri­tan­ni­en nach Hau­se geschickt wer­den – Wissenschaftler*innen aus ganz Euro­pa, Ärzt*innen, aber auch Handwerker*innen aus Nied­rig­lohn­län­dern? Kann Lon­don das Finanz­zen­trum der EU blei­ben? Was hat das für Fol­gen für die glo­ba­le Wirt­schaft, wenn die City ihre Funk­ti­on ver­liert? Und wie wirkt sich Brexit auf inter­na­tio­na­le Abkom­men und auf die Ver­su­che aus, die gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen zu bewäl­ti­gen? Auch hier sehe ich aktu­ell zumin­dest ein Mehr an Unsicherheit.

Das ist – neben der Tat­sa­che, dass wäh­len Fol­gen hat – viel­leicht das Fazit, dass sich aus Brexit zie­hen lässt. Die Ent­schei­dung trägt auf jeden Fall dazu bei, die Zei­ten, in denen wir leben, inter­es­san­ter zu machen. Was bekann­ter­ma­ßen eher ein Fluch als etwas wün­schens­wer­tes ist.

War­um blog­ge ich das? Um eini­ge der Din­ge, die im Lauf des Tages da und dort dis­ku­tiert wur­den, zusammenzuführen.

* Ich fin­de es inter­es­sant zu beob­ach­ten, jeden­falls ist das mein Ein­druck, dass in letz­ter Zeit zuneh­mend Gene­ra­tio­nen­kon­flik­te the­ma­ti­siert wer­den. Und zwar durch­aus auch unter dem Mot­to: die älte­re Gene­ra­ti­on hat­te es gut – und die jün­ge­re steht jetzt mit einem oft pre­kä­ren beruf­li­chen Sta­tus vor den Scherben.

2 Antworten auf „Die Folgen von Abstimmungen“

  1. Ich fin­de es ziem­lich schlimm, dass der­zeit oft ein Gene­ra­tio­nen­kon­flikt her­auf­be­schwo­ren wird, wo es um Bil­dung geht und/oder um Ein­kom­men und/oder um Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit, alles The­men, die nicht direkt mit Alter kor­re­lie­ren, … gut Bil­dung ein wenig, da die Jün­ge­ren mehr­heit­lich ein wenig gebil­de­ter sind. … Und, so Bin­se wie wahr, haben meis­tens arme Enkel auch arme Groß­el­tern … und unter­stüt­zen, nach ihren Kräf­ten selbst arme Groß­el­tern die armen Enkel …

    1. Naja, die Aus­sa­ge ist ja nicht, dass es jedem Indi­vi­du­um der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on schlech­ter als jedem der älte­ren geht, son­dern dass Chan­cen – Teil­ha­be, Auf­stieg, Wohl­stand – sta­tis­tisch betrach­tet schlech­ter ver­teilt sind, ins­be­son­de­re, wenn die Gene­ra­ti­on 25–45 heu­te ihre wahr­ge­nom­me­nen Chan­cen mit denen ver­gleicht, die die jetzt in Ren­te gehen­de Gene­ra­ti­on hat­te, als sie so alt war.

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