Kommunikationsguerilla produziert immer, immer, immer Verunsicherung. Und zerstört damit gesellschaftliches Vertrauen. Das ist unausweichlich. Trotzdem kann es legitim sein, zu dieser Form politischer Aktion zu greifen. Beispielsweise dann, wenn es darum geht, etwas scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen, an Institutionen zu rütteln, Menschen dazu anzuregen, nachzudenken und nicht einfach hinzunehmen, was ist. (Da hat Kommunikationsguerilla einiges mit Soziologie gemeinsam, aber das ist eine andere Geschichte).
Weil Kommunikationsguerilla Vertrauen zerstört, und weil, wenn es eines gibt, was in dieser Gesellschaft gerade fehlt, Vertrauen ist, bin ich so verärgert darüber, dass gestern jemand die Geschichte in die Welt gesetzt hat, dass aufgrund des tagelangen Wartens in der Kälte vor dem Berliner „Lageso“ ein Flüchtling gestorben ist. Ich gehöre zu den tausenden Menschen, die diese Geschichte geglaubt haben, und die sie weitergegeben haben.
Ich war durchaus skeptisch – aber die Autorin des ursprünglichen Facebook-Postings schien nach einem Klick auf ihr Profil respektabel (Spielleiterin bei einem Theater). Der Tonfall des langen Postings, seine ganze Emotionalität – all das wirkte authentisch (und war es möglicherweise auch). Viele Berliner*innen, Netzbekanntschaften, auch Menschen aus der dortigen Politik, teilten das Posting. Der Helferkreise „Moabit hilft“ postete eine Traueranzeige. Der RBB – also ein öffentlich-rechtlicher Rundfunksender – berichtete, wenn auch mit den üblichen Markern einer noch nicht zu Ende recherchierten Nachricht (Konjunktiv, wohl, …).
Und die Geschichte passte ins Bild, passte zu meinen Erwartungen. Das für die Registrierung von Flüchtlingen in Berlin zuständige Lageso hat einen extrem schlechten Ruf. Immer wieder habe ich – aus Helferkreisen, aus der Berliner Politik, aus den dortigen Medien – Berichten darüber gelesen und gesehen. Ewig in der Kälte wartende Flüchtlinge. Krankheiten. Unfreundliche bis feindlich gesinnte Security-Kräfte. Keine Versorgung mit Nahrungsmitteln, wenn nicht die ehrenamtlichen Helfer*innen sich darum kümmern würden. Keine Versorgung mit Kleidung und Unterkunft, wenn nicht die ehrenamtlichen Helfer*innen … eine Mischung aus Behördenwahnsinn, Staatsversagen und bewusster Hinnahme unhaltbarer Zustände zur Abschreckung durch den zuständigen CDU-Senator.
Und all das passte wiederum ins Bild, passte zu meinen Erwartungen, die sich im Lauf der letzten Jahre über Berlin verfestigt haben: Ein „failed Stadtstaat“, eine Stadt, die zwar immer noch arm, aber nicht mehr sexy ist, in der die staatliche Verwaltung schlicht nicht mehr funktioniert – weder in Schulen, noch in Bürgerämtern, noch überhaupt.
Und jetzt also – so das Facebook-Posting – ein Flüchtling, der mehr oder weniger in direkter Konsequenz und Kausalität dieses Behördenversagens gestorben sein soll. Die Autorin dieses Postings zitierte aus dem Chat mit dem Helfer, der sagte, dass er einen Rettungswagen gerufen habe, ein Chatausschnitt, der mit dem Tod des Flüchtlings und großen Emotionen endete.
Während gestern vormittag – inzwischen berichtete auch dpa – diese Geschichte noch halbwegs wahrscheinlich schien, kamen dann im Lauf des Tages Verunsicherungen dazu. In keinem Krankenhaus in Berlin war dieser Todesfall registriert. Der Einsatz des Notarztes tauchte nicht in den Protokollen der Sicherheitsdienste auf. Der Helfer habe sich verbarrikadiert, wolle mit niemanden reden, die Facebook-Autorin keine näheren Details herausrücken. Irgendwas stimmte nicht.
Heute morgen dann die Nachricht: Spät abends sei es der Polizei gelungen, mit dem Helfer zu sprechen. Die ganze Geschichte sei erfunden.
Wir wissen nicht, ob die Geschichte bewusst erfunden wurde. Ich kann mir – ohne die beteiligten Personen zu kennen! – mehrere plausible Szenarien vorstellen. Der psychische Zusammenbruchs eines Flüchtlingshelfers angesichts der Zustände, der zu einer Art Hilfeschrei führte. Vielleicht auch ein Sich-wichtig-machen mit einem Gerücht, das gar nicht öffentlich werden sollte. Oder aber die bewusste Erfindung einer Lüge zu politischen Zwecken, also Kommunikationsguerilla. Als Handlung einer Einzelperson oder einer ganz kleinen Gruppe, die von anderen geglaubt und weitergegeben wurde, oder sogar als Inszenierung, bei der ein größerer Personenkreis mitgespielt hat.
Ich ärgere mich darüber, diese Geschichte weitergegeben zu haben, und ich bin mir sicher, dass das anderen ähnlich geht. Und ich ärgere mich über alle, die näher dran waren, und die diese Geschichte weitergegeben haben, ohne eine sichere Quelle zu haben. Weil wir alle zusammen dazu beigetragen haben, dass hier Vertrauen verloren gegangen ist. Auch Vertrauen in Helferkreise – ein besonders großer Schaden.
„Crying wolf“ heißt das auf Englisch, die Geschichte von Peter und dem Wolf. Wer einmal lügt, … – es ist kontraproduktiv und schadet der Sache.
Denn: Stimmt denn das, was über die Zustände an der Lageso sonst so berichtet wird? Oder sind auch hier bewusste, politisch gewollte Übertreibungen im Spiel? Und was, wenn nun wirklich eintritt, was hier als Geschichte stattfand – wer glaubt das dann noch?
Wir leben in hektischen Zeiten. In unsicheren, aufgeheizten Zeiten, und in Zeiten, in denen viel an gesellschaftlichem Grundvertrauen verloren gegangen ist. Die schnellen Zyklen von Onlinemedien und sozialen Netzwerken mögen das ihre dazu beitragen. „Teilen“ anzuklicken, einen Link zu kopieren – das geht schnell. Ich werde damit in Zukunft vorsichtiger sein. Gleichzeitig sind soziale Medien eben keine Medien im journalistischen Sinne. Sie sind gedruckte Unterhaltung, also Konversation. Von jeder Facebook-Nutzer*in zu verlangen, sich in journalistischer Quellenkritik zu üben, zu recherchieren – das ist etwas viel verlangt. (Anders sieht es mit Online-Journalist*innen und auch mit allen, die ehrenamtlich mit Presse zu tun haben, aus.)
Insofern basieren soziale Netzwerke und die dort kursierenden Geschichten immer auch auf Vertrauen. Wenn wir etwas teilen, teilen wir es, weil wir es für glaubhaft halten. Und wenn andere vor uns es geteilt haben, dann entsteht eine Art Kette des Vertrauens. (Eine Kette, die anders als bei der mündlichen Weitergabe von Gerüchten das Original erhält und nicht konjunktiv abschwächt. Aus „habe gehört“ wird die Illusion von Unmittelbarkeit.) Sich diese Kette anzuschauen, zumindest das sollte jemand tun, bevor er oder sie eine Meldung weitergibt. Aber – siehe gestern – auch das kann zu Fehlurteilen führen. Wie gehen wir damit um?
(Und ich sage jetzt nichts zur Propaganda der anderen Seite. Auch da gibt es Erwartungshaltungen und Geschichten, die dazu passen – und die dann bereitwillig weitergegeben werden, und letztlich finstere Zustände zeichnen, und wiederum zu aufgeheizten Stimmungen und zu einer zugespitzten politischen Kommunikationssituation führen. Ich bin überzeugt davon, dass das einigen durchaus ins Bild passt. Genauso, wie auf dieser anderen Seite ein solcher Hoax sicherlich immwer wieder unter die Nase gehalten werden wird. Da wird etwas angefeuert – ausbaden müssen es letztlich alle, die für eine offene Gesellschaft stehen.)
Warum blogge ich das? Um meiner Verärgerung ein wenig Luft zu machen. Und als Reflektion darüber, wie das mit der Wahrheit in Zeiten heißer Kommunikation so ist.