Aus Gründen mache ich mir gerade einige Gedanken um Wahlprogramme. Dabei ist mir aufgefallen, dass ein paar der Schwierigkeiten, die mit einem Wahl- oder Regierungsprogramm verbunden sind, schlicht damit zu tun hat, dass ein solches Programm mehrere, sich teilweise widersprechende Funktionen erfüllen soll. Es steht also immer in einem Spannungsverhältnis, das sich nie ganz auflösen lässt.
Mir sind drei solche Funktionen – also Antworten auf die Frage, wozu ein Wahlprogramm eigentlich gut ist – eingefallen. Vielleicht gibt es noch mehr:
1. Das Wahlprogramm ist eine Momentaufnahme des andauernden Meinungsbildungsprozesses innerhalb einer Partei. Es hält fest, was die Positionen und Haltungen, die Kompromisse und Beschlusslagen zum Zeitpunkt X sind. Es ist damit ein identitätsstiftendes Selbstverständnis in Langform (in Abgrenzung zu konkurrierenden Parteien) – und letztlich auch ein historisches Dokument, das im Vergleich zu älteren Wahlprogrammen Auskunft darüber geben kann, wie sich Positionen und Selbstverständlichkeiten entwickelt und verschoben haben.
2. Es wäre schön, wenn das mit der zuerst genannten Funktion in eins fallen würde, dem ist aber nicht so: Das Wahlprogramm ist ein Regierungsprogramm, eine Blaupause und Baustelle für mögliche Koalitionsverträge und das darauf aufbauende Regierungshandeln. Der Fokus liegt hier stärker als in der ersten Perspektive auf dem, was auch tatsächlich umsetzbar ist, auf dem innerhalb einer Legislaturperiode machbaren – und stärker auf konkreten Projekten als auf allgemeinen Positionen. (Und da, wo es konkret wird, wird’s dann gerne ganz konkret und schnell sehr, sehr fachlich …)
3. Und schließlich ist ein Wahlprogramm auch ein werblicher Text. Es soll von potenziellen Wählerinnen und Wählern nicht nur verstanden werden, sondern auch als attraktiv empfunden werden. Es muss zur Kampagne passen, etwa im Hinblick auf Schwerpunktsetzungen. Es dient als Grundlage für Wahlwerbematerial und die Beantwortung von Wahlprüfsteinen. Mit all dem ist die Verlockung verbunden, Großes zu versprechen – was nicht immer mit Machbarkeit koinzidiert – und über anderes eher den Mantel des Schweigens zu hüllen.
Im Spannungsfeld zwischen Identitätsstiftung, vorweg genommener Legitimation zukünftigen Regierungshandeln und Wählerorientierung ist ein Wahlprogramm notwendigerweise ein vielschichtiger und facettenreicher Text. Auch wenn manche meinen, dass Wahlprogramme überhaupt nicht notwendig wären, sind – zumindest in debattenfreudigen Parteien wie den GRÜNEN – Programmparteitage auch deswegen spannend, weil hier nicht nur unterschiedliche Interessen innerhalb der oben dargestellten Dimensionen aufeinanderprallen (etwa unterschiedliche Schwerpunktsetzungen unterschiedlicher Strömungen), sondern, verknüpft mit Rollen und Rollenerwartungen, auch unterschiedliche Interessen daran, welche Funktion das Programm vor allem erfüllen soll. Ein den Wahlkampf organisierender Vorstand verbindet mit dem Programm andere Ansprüche als eine fachlich orientierte Arbeitsgruppe oder ein Mitglied einer Regierungsfraktion.
Warum blogge ich das? Unter anderem mit Blick auf den laufenden Programmprozess innerhalb der baden-württembergischen Grünen im Vorfeld der Landtagswahl 2016.