Anatol Stefanowitsch regte sich heute über, sagen wir mal, die technikbezogene Oberflächlichkeit der Menschheit auf. Also, dass z.B. sehr viel mehr Geld in Smartphoneschnickschnack fließt als in z.B. die bemannte Raumfahrt. Ich fasse seine Tweets mal zusammen:
Wir könnten längst auf dem Mars sein. Stattdessen lesen wir atemlose Nachrichten von einer Firmenzentrale namens „Spaceship Campus“. Und zwar der Firmenzentrale eines Konzerns für Unterhaltungselektronik, nicht etwa für Raumfahrt.
Dumm nur, dass diese Firmenzentrale längst Stahl‑, Glas- und Betonschrott sein wird, wenn uns klar wird, dass wir auf der Erde festsitzen. (Bzw., unsere Nachkommen, die dann zum Trost mit Bergen unseres Elektronikmülls spielen können.)
Aber viel wichtiger: Das neue iPhone, es wird vielleicht ein gekrümmte Display haben! Gekrümmt! Ist Wissenschaft nicht wundervoll?
Ich konnte dann nicht anders, als ihm zu widersprechen. Nicht, weil ich die Frage der Displaykrümmung des neuen iPhones besonders wichtig fände, sondern weil ich die Besiedlung anderer Planeten für ein ziemlich utopisches Vorhaben halte. Also für eines, das sich gut für – literarische – Utopien eignet (und natürlich noch viel besser für (New) Space Opera), das mir aber als Rettungskonzept für das Überleben der Menschheit doch höchst ungeeignet erscheint.
Was dann wiederum zu dem Vorwurf führte, dass Grüne ja mal Visionen gehabt hätten, jetzt aber Vorgärten haben. Was ich wiederum etwas unfair finde, weswegen ich jetzt diesen Blogpost schreibe.
Unfair finde ich das, weil die Flucht vom Planeten Erde nie zu den grünen Visionen gehört hat. „Raumschiff Erde“, dieser Begriff von, wenn ich das jetzt richtig in Erinnerung habe, Buckminster Fuller, trifft es schon eher. Zugespitzt gesagt: Kern grüner Politik ist ja gerade die Überzeugung, dass wir nur einen einzigen Planeten zur Verfügung „haben“, und dass wir uns deswegen dafür einsetzen, sorgsam mit diesem Planeten umzugehen. Aus purem, anthropozentrischem Egoismus heraus kommen dann sowas wie Nachhaltigkeit und eine Orientierung an planetarer Tragfähigkeit zustande. Weil ohne Erde alles Mist ist.
Ich finde es, nebenbei, auch unfair, weil ich Grüne – aller Realpolitik zum Trotz – nach wie vor als Partei mit Visionen wahrnehme. Aber das mag ein ganz bestimmter Innenblick sein und tut jetzt auch nicht wirklich etwas zur Sache.
Bevor jetzt das übliche Gejaule kommt: Nein, das heißt ganz und gar nicht, dass ich nicht Raumfahrtforschung für ein spannendes wissenschaftliches Feld halten würde und persönlich durchaus glaube, dass da – ungeachtet der auch hier vorhandenen Dual-Use-Problematik – mehr Geld rein fließen könnte. Ob der größte wissenschaftliche Mehrwert dabei durch bemannte Missionen erzielt wird, ist eine Frage, die diskutiert werden muss. Aber das mit den Prioritätensetzungen in der Forschung – und der damit verbundenen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik – ist ja eh nicht ganz einfach.
Ich lese gerne Science Fiction. Aber auch außerhalb davon finde ich Dinge wie die Frage danach, ob es auf den Monden Io oder Europa Leben in unter Eis liegenden Ozeanen oder an vulkanischen Geographien geben könnte, spannend. Und auch die Suche nach erdähnlichen Planeten in anderen Sonnensystemen fasziniert mich durchaus.
Aber gerade deswegen, weil ich mich so halbwegs informiert fühle, sowohl was die utopischen Visionen angeht, als auch was den Stand der Wissenschaft in diesem Bereich angeht, bin ich sehr skeptisch, ob die dauerhafte Besiedlung eines anderen Planeten ein anstrebenswertes Ziel sein könnte.
Was mich in diesem Kontext sehr beeindruckt hat, waren einige Blogpostings von Charles Stross – dieses ist ein guter Einstieg. Stross ist ein SF-Autor, der nicht nur gute Bücher schreibt (z.B. über intragalaktischen Finanzbetrug), sondern auch interessante Blogeinträge produziert. Und dabei sehr schön auseinander nimmt, dass interstellare Raumschiffe kaum möglich sind. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass da irgendwelche Blechbüchsen mit Menschen an Bord durch die Gegend fliegen. Sonden – die vielleicht schon. Das hat was damit zu tun, dass das Weltall sehr groß ist, und es hat was damit zu tun, dass Konzepte wie Generationenraumschiffe (also eine Idee, wie mit sehr, sehr weiten Entfernungen umgegangen werden kann – nämlich indem ein paar Generationen an Bord eines sehr großen Raumschiffes leben und sterben, bis das Ziel erreicht wird) nicht nur auf bisher ungelöste Probleme wie die eines brauchbaren Antriebs stoßen, sondern auch sehr, sehr viele Menschen mitführen müssten, und wirklich sehr, sehr groß – und entsprechend ressourcenintensiv – sein müssten, um Wissen und Fähigkeiten einer technischen, global vernetzten Zivilisation mitzuführen. Mal ganz abgesehen von der Frage, wie demokratisch eine solche „Raumschiffbesatzung“ überhaupt sein könnte, und ob sie am (besiedelten?) Zielort überhaupt noch aussteigen wollte (wenn er sich denn als tragfähig für menschliches Leben erweist), wenn doch über mehrere hundert Jahre an Bord alles wunderbar funktioniert hat.
Aber gut, es ging in dieser Debatte gar nicht um interstellare Raumfahrt, sondern nur darum, einen anderen Planeten zu besiedeln. (Wobei die Frage einer autarken, auch ohne Nachschub von der Erde lebensfähigen menschlichen Kolonie sich genauso stellt, wenn es sich „nur“ um von mehr als ein paar AstronautInnen bewohnten Ring im Orbit oder ähnliches handelt. Und selbst ein Außenposten auf dem Mars, auf Europa oder auf der Venus (Stross schlägt die Venus vor, weil sie – in einer bestimmten Schicht ihrer Atmosphäre – eher lebenserhaltende Bedingungen bieten würde als der üblicherweise herangezogene Mars; wobei das „eher“ ein sehr hypothetisches „eher“ ist) müsste weitgehend auf sich gestellt existieren können. In einer Umwelt, in der es noch nicht einmal Sauerstoff gibt.
Für eine Forschungsmission sind das Bedingungen, die ich vielleicht umsetzbar finde. Selbst die Idee einer Einbahnstraßenmission ohne Rückkehroption hat einen gewissen Reiz.
Aber für eine Kolonie? Eher nicht. Wer sich das vorstellen möchte, kann das ganze ja schon mal auf der Erde testen – nicht in kalifornischer Wüste oder der Antarktis, sondern, um es wirklich realistisch zu machen, in einem Container am Ozeangrund. Klingt nicht wirklich attraktiv, dürfte aber die Situation auf dem Mars (oder in einem Venus-Wetterballon) gut wiedergeben. Mit dem üblichen Koloniebild („frontier“ im amerikanischen Westen, Blockhütten und die unbegrenzte, unbewohnte Prärie, in der jeder* sein Glück machen konnte) hat das jedenfalls wenig zu tun. Es gibt hier sehr schöne, mehr oder weniger realistische Bücher (vom Roten und Blauen Mars bis zum Weißen Mars bis zur Marsstadt und dem Universum von Schismatrix+ …) – irgendwann tauchen dann aber immer terraformte Planeten auf, oder zumindest sehr große Käseglocken, unter denen das Leben fast wie auf der Erde stattfinden kann. Die müssen, um mal die realistischere Option zu nehmen, gebaut werden. Die Baustoffe dafür müssen irgendwie hergestellt werden. Das kostet nicht nur Energie (in der SF-Literatur werden hier gerne kleine, tragbare Fusionsreaktoren herangezogen, die es seit fünfzig Jahren in fünfzig Jahren geben wird), sondern benötigt auch Rohstoffe. Die entweder auf den Mars gebracht werden müssen (was wiederum unglaublich viel Energie benötigt, siehe unten), oder lokal gefunden werden müssen. Stahl, Glas, Zement ist alles noch irgendwie denkbar. Kunststoffe? Ohne Öl? Da wird es schon schwieriger. Ach ja, Sauerstoff. Und ob es z.B. auf dem Mars in nennenswertem Umfang Wasser gibt, das tatsächlich verwendet werden kann (also nicht in Gestein gebunden, nicht in Tiefen, die nicht erreichbar sind), ist heute auch noch eine offene Frage.
Menschen und vermutlich auch in einem erheblichem Umfang Material – von Nahrungsmitteln und hochintegrierten Produkten wie Computerchips bis zu den gerade genannten Rohstoffen – müsste auf den Mars (oder einen anderen Planeten) gebracht werden. Das dauert nicht nur sehr lange, sondern benötigt wiederum extrem viel Energie. Die NASA spricht davon, dass es heute 10.000 $ per pound (15.900 € pro kg) kostet, um Materie ins Orbit zu bringen (und dann ist das Zeug noch nicht auf einem anderen Planeten!). Das ambitionierte Ziel der NASA ist es, diese Kosten bis 2025 auf 100 $ per pound und bis auf 10 $ per pound (also 16 €/kg) im Jahr 2040 zu senken.
Vielleicht könnte viel, viel Forschungsgeld dazu führen, dass derartige Kosten sehr viel schneller sinken. Aber selbst mit 50 €/kg gerechnet sind das für eine durchschnittliche Person + Nahrungsmitteln* + Zeugs schnell ein paar 10.000 € bis 100.000 € – nur bis ins Orbit. Vom Orbit bis zum Mars (und, was exorbitant teuer wäre, ggf. zurück) sind es dann nochmal mehrere Tonnen Treibstoff pro Tonne Nutzlast. Die wiederum erhebliche Kosten verursachen (dabei geht es vor allem um das Beschleunigen am Anfang und das Abbremsen am Ende). Ach ja – Startfenster gibt es dabei auch nicht kontinuierlich, sondern durch die Planetenbahnen bestimmt nur alle paar Monate.
Und das ist nur das Geld. Der Treibstoff muss eine hohe Energiedichte haben. Was komplexe Herstellungsverfahren, unschöne Nebenwirkungen und ähnliches mehr mit sich bringt. (An dieser Stelle nochmal das Stichwort Nachhaltigkeit: Wir reden über eine Zukunft, in der Herstellungsprozesse, die viel Energie benötigen, vermutlich teurer sind als heute – und in der das großindustrielle Hantieren mit extrem giftigen oder radioaktiven Stoffen möglicherweise noch stärker als heute als problematisch angesehen werden wird …).
Ach ja, und dann sind da ja noch die Menschen, die auf dem Weg zum Mars hohen Beschleunigungen, langen Phasen der Schwerelosigkeit sowie hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt sind. WissenschaftlerInnen, die das auf sich nehmen? Das kann ich mir unter bestimmten Umständen vorstellen. KolonistInnen – eher nicht.
(Disclaimer: Ich bin definitiv kein Experte für diese Fragen. Wenn mir jemand in den Kommentaren vorrechnen möchte, dass das alles ganz anders aussieht, oder ein „space elevator“ – wenn er denn jemals gebaut werden würde – all diese Probleme beseitigt, gerne. Aber ich finde es wichtig, zu akzeptieren, dass zwischen hier und „Leben auf dem Mars“ eben heute noch eine gehörige Portion Handwedelei liegt …)
Zusammengefasst: Auch wenn die Vorstellung schön ist, einen Planeten in Reserve zu haben, halte ich es für extrem unrealistisch, einen großen Teil der Ressourcen der Menschheit in das Vorhaben zu stecken, zehntausende von Menschen über Monate durch den Weltraum zu transportieren, damit diese in hochtechnischen Wohnwagenanhänger und ausbetonierten Erdhöhlen auf einem lebensfeindlichen Planeten ausharren müssen. (Oder noch drastischer: es für realistisch zu halten, zehntausende von Menschen zu finden, die jeweils sehr, sehr viel Geld auftreiben, um diese Reise ohne Wiederkehr mit dem Ziel Mars oder Venus antreten zu dürfen, weil sie dort auf eine bessere Zukunft als auf der Erde hoffen …).
Warum blogge ich das? Weil meine Devise ist: Statt Flucht vom Planeten Erde lieber volle Kraft voraus für den Erhalt des Planeten Erde!
* Entweder müssen hier Vorräte für – z.B. für eine Marsreise – mehrere Jahre mitgeführt werden, oder es muss eine komplette Landwirtschaft bzw. urban farming factory mitgeführt werden, die wiederum Masse hat.
Schön aufgezählt, die Probleme der interplanetaren Raumfahrt. Die Sache ist nur, dass es noch viel utopischer sein dürfte, unseren Planeten zu retten. Technische Probleme sind lösbar, das ist nur eine Ressourcenfrage. Die menschliche Natur aber, die einer Lösung unserer politischen Schwierigkeiten hier unten im Weg steht, die ändert sich so schnell nicht…
Bindende internationale Vereinbarungen zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes? Die auch noch eingehalten werden? Das ist wirklich mal ganz wilde Science Fiction…
Zunächst zwei Zitate als Denkanstoß:
„Dass es jemals ein System zum Transport von Passagieren geben wird, das eine Geschwindigkeit von, sagen wir, zehn Meilen pro Stunde überschreiten kann, ist extrem unwahrscheinlich.“ (Tredgold, 1825)
„Was die Idee betrifft, mit einem Dampfschiff direkt von New York nach Liverpool zu fahren, das ist reine Phantasterei. Sie könnten genauso gut eine Reise von New York oder Liverpool zum Mond planen.“ (Lardner, 1835)
Nachhaltigkeit und Energiesparsamkeit sind schöne und wichtige Ziele, aber wer ein Interesse daran hat, dass die Menschheit auch nur die nächsten 100 000 Jahre überlebt (also noch einmal halb so lang, wie sie bereits existiert, sollte sich nicht darauf verlassen, dass das mit Mülltrennung und Niedrigenergiehäusern zu schaffen ist. Auf je mehr Planeten wir die Menschheit verteilen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit ihrer fortgesetzten Existenz. Und selbst, wenn unterirdische Bunker auf dem Mars das beste sind, was wir hinbekommen — auf der Erde dürften unsere Behausungen langfristig auch nicht anders aussehen.
Mal abgesehen davon, dass sich auch das Wissen über known unknowns mit der Wissenschaft weiterentwickelt hat, was die Zitate aus dem 19. Jh. ein bisschen relativiert, finde ich die dahinterstehende Frage durchaus relevant: Ist es es Wert, sich um das Überleben einer Menschheit zu kümmern, der nichts besseres zugetraut wird als das Dahinvegetieren in unterirdischen Bunkern (egal auf welchem Planeten)? Oder wäre Aussterben hier nicht die bessere Variante? (Ich traue der Menschheit mehr zu, aber wer extreme Schritte unternehmen will, um das Überleben der Menschheit auch im Fall planetarer Katastrophen sicherzustellen, müsste m.E. schon begründen, warum das ultralangfristig so wichtig ist.)