Starke, ökologisch motivierte Nachhaltigkeit. Ein emanzipatorischer, linksliberaler Freiheitsbegriff. Nicht nebeneinander als zwei Säulen in einer Partei, sondern als gemeinsamer Antrieb der Partei. Passt das zusammen?
Vielleicht erst mal Begriffsklärung: Nachhaltigkeit verstehe ich so, dass damit ein Zielzustand gesellschaftlicher Entwicklung beschrieben ist, in dem zum einen Chancen zwischen den gleichzeitig lebenden Menschen gerecht verteilt sind, und zum anderen Chancen zukünftiger Generationen nicht beeinträchtigt, sondern gegenüber dem Status Quo erweitert werden. Chancen sind hier als Zugriffsmöglichkeiten auf ökologische, soziale und ökonomische Ressourcen – Kapitalsorten – zu vestehen. Dabei sind Ressourcen nicht beliebig austauschbar; dies betrifft insbesondere das Naturkapital. Daraus ergibt sich – im Sinne starker Nachhaltigkeitskonzepte – eine Priorität, ökologischen Ressourcen zu erhalten, was dann zu Überlegungen wie der planetaren „Tragfähigkeit“ führt. So definiert, umfasst Nachhaltigkeit soziale Gerechtigkeit, insofern diese als Chancen- bzw. als Teilhabegerechtigkeit verstanden wird.
Und Freiheit, in einer linksliberalen, emanzipatorischen Perspektive? Für mich stecken dahinter vor allem zwei miteinander verbundene Konzepte. Zum einen geht es um individuelle Freiheiten, wie sie sich nicht zuletzt in den Bürger- und Menschenrechten niederschlägt. Beispielsweise darum, die eigene Meinung unbehelligt äußern zu können. Das eigene Leben frei zu gestalten. Das meint das Verhältnis zu MitbürgerInnen, aber eben auch das Verhältnis zum Staat, als Abwehrrecht. Der Raum individueller Freiheiten soll maximiert werden. Mein Freiheitsverständnis geht aber darüber hinaus: Ich sehe den Staat in der Verantwortung, Freiheit zu ermöglichen. Dazu gehört es, den Raum der Freiheit zu schützen (und letztlich als Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse individuelle Freiheiten einzuschränken, wenn sonst die Freiheiten anderer beschränkt würden), dazu gehört es aber auch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Menschen ihre Freiheit überhaupt nutzen können, also eine emanzipatorische Perspektive der freien Entfaltung jedes Menschen. Das betrifft die Teilhabe an Bildung, das betrifft die Teilhabe an Demokratie, aber es betrifft eben auch einen gewissen sozialen Ausgleich, ein Verständnis für die materiellen Grundlagen von Freiheit. Formal die gleichen Rechte zu haben, die aber faktisch nur von einer kleinen Minderheit überhaupt genutzt werden können, wäre demnach eben kein Zustand der Freiheit. (Hier fände dann auch eine Grundeinkommensdebatte Anschluss …)
Die beiden Definitionsversuche mögen in ihren Details strittig sein. Ich denke aber, dass mit der einen oder anderen Abweichung, mit kleinerer oder größerer Reichweite und Radikalität, letztlich auch bei anderen ähnliche Konzepte hinter „Nachhaltigkeit“ und „Freiheit“ stehen.
Spannend wird es jetzt, wenn Nachhaltigkeit und Freiheit in einen Zielkonflikt geraten. Ein Beispiel dafür ist der Klimawandel. Dieser stellt nach allem, was wir darüber wissen, eine erhebliche Einschränkung der Chancen zukünftiger Generationen da. Er gefährdet damit das Ziel der Nachhaltigkeit. Eine an Nachhaltigkeit orientierte Politik muss also großen Wert darauf legen, den Klimawandel zumindest einzudämmen und seine Folgen abzumildern. Zentral für die Eindämmung ist die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, von weitergehenden Maßnahmen in Richtung Geo-Engineering mal nicht geredet. Daraus ergeben sich dann fast von selbst Instrumentenkataloge, die selbstverständlich in Märkte und in individuelle Freiheiten der Lebensgestaltung eingreifen, wenn sie denn mehr als schmückendes Beiwerk sein sollen.
Manches erhöht herstellerseitig Effizienzen, ohne zunächst den individuellen Alltag verändern zu wollen. Standards für energieffizientere Kühlschränke beispielsweise, oder das EU-Glühlampenverbot. Wobei – da würde vermutlich schon der eine oder andere angerannt kommen und etwas von „Verbotspartei“ rufen. Wie weit dürfen Bauvorschriften gehen? Was ist mit dem Verkehrsbereich – muss eine an Nachhaltigkeit orientierte Politik irgendwann nicht nur Anreize setzen, um klimafreundlichere Verkehrssysteme zu fördern, sondern auch mit Regeln und Verboten eingreifen? Oder Ernährung, selbstverständlich (V‑Day!) ein zentrales Element des individuellen Alltags – aber, je nach Quelle, durchaus nicht unrelevant für den Treibhausgasausstoß? Wie kann ein Staat Suffizienz voranbringen? (Und natürlich verfügen „Hersteller“ und andere MarktteilnehmerInnen in einer gewissen Weise ebenso über individuelle Freiheitsrechte, in die mit staatlichen Vorgaben eingegriffen wird …)
Ich befürchte, dass es keine generelle Lösung für diesen Widerspruch gibt. Ich halte es für richtig, dass wir unsere – bürgerrechtliche, gesellschaftspolitische – linksliberale, emanzipatorische Positionierung als Partei wieder stärker in den Vordergrund stellen. Aber leicht wird das allein schon deshalb nicht, weil da, wo wir regulierend eingreifen wollen (um nicht das böse Verbotswort zu verwenden …) ja nicht Bosheit oder die Lust daran, die Mitmenschen zu ärgern, dahinter steht, und auch nicht moralische Überheblichkeit, sondern das, was ich flapsig als den grünen Auftrag bezeichnen habe, die Welt zu retten, und was etwas weniger flapsig meint, dass wir nach wie vor die Partei sind, die in ihrem innersten Kern das Ziel hat, einen Zustand weltweiter Nachhaltigkeit herzustellen. Und in diesem innersten Kern werden wir nach wie vor und immer wieder mit schlechten Nachrichten konfrontiert – Gletscher und Eisberge schmelzen, internationale Konferenzen scheitern, frühere Entwicklungsländer „holen auf“ und schlagen Pfade ein, die ebensowenig nachhaltig sind wie die, auf denen der Westen weiterläuft. Da muss doch was passieren!
Wenn wir es gut hinkriegen, dann ist dieses Dilemma aus freiheitlichen Werten und Nachhaltigkeitsorientierung etwas, das uns in Bewegung halten kann. Das heißt aber auch, das wir den Streit darüber, welche Eingriffe angemessen sind und welche nicht vertretbar sind, aktiv und immer wieder führen müssen. Koexistenz – ihr kriegt eure liberale Gesellschaftspolitik, den Datenschutz und ein bißchen Marktwirtschaft, wir denken uns eine ganze Reihe guter grüner Verbote aus – wird nicht funktionieren. Wenn wir es im stetigen Streit zwischen liberaler und ökologischer Grundüberzeugung (und diese Spaltung ist definitiv nicht deckungsgleich mit den Flügeln!) hinkriegen, Lösungen zu finden, dann bin ich hoffnungsvoll, dass diese Konzepte auch an gesellschaftliche Mehrheiten anschlussfähig sein können, wenn sie vorher durch den Dampfdrucktopf der berechtigten innerparteilichen Kritik gegangen sind.
Warum blogge ich das? Weil ich das zwar schon kurz angesprochen habe (und auch immer mal wieder anspreche), es in mir aber nach wie vor rumort. Das Fazit bleibt: Wir müssen, um voran zu kommen, den grünen Grundwiderspruch (und ja, es ist einer, Leugnen hilft nichts!) akzeptieren und wieder produktiv nutzen, statt ihn wegzumoderieren. Nur so entsteht Neues. Auch wenn’s nicht einfach werden wird.
Der Grundwiderspruch zwischen Freiheit und Nachhaltigkeit(sregulation) mag auf einer sehr konkreten Ebene wie dem EU-Glühbirnen-Auslaufen so erscheinen. Aber ein Eingriff dient, wie du schreibst, eben immer der Erhöhung der Freiheitsgrade für alle. Das ist das verbindende Element. Und ich hab hier (http://gruen-links-denken.de/2013/in-freiheit-grun/) ja nicht geschrieben, dass wir ohne Verbote und Regulierung auskommen (Stichwort Tempo-30-Zone). Sondern dass wir mit unserer Grünen Erzählung hervorheben sollten, wie viel Freiheit wir mit den Eingriffen ermöglichen. Diese Karte spielen wir bisher nicht genug, sondern lassen uns auf die Eingriffe reduzieren. Mittelkommunikation schlägt Zielkommunikation, obwohl es andersrum sein sollte. In die gleiche Richtung geht ja auch die Kritik am Steuersystem.
Ich halte übrigens, side comment, den V‑Day für die schlechtere Variante der Förderung fleischloser Ernährung (wie auch den autofreien Tag für postfossile Mobilität). Die Alternative, die mit dem liberalen Alltagsverständnis der Menschen vereinbar und genauso wirkungsvoll wäre, sind gute, vielfältige vegetarische Angebote an jedem Tag der Woche.
Wenn Nachhaltigkeit etwas mit gerechtem Ressourcenzugriff zu tun hat, dann ist das aber eine Grundbedingung für die Freiheit, die Du ja „material“ definierst. Ohne Ressourcengerechtigkeit kann es keine Freiheit geben, wir hängern ja völlig davon ab. Freiheit wird in dieser Sicht, wenn ich nicht völlig falsch liege, zu einer Funktion der Nachhaltigkeit: F = F(N).
Andersrum kann das aber auch gelten: N = N(F). Nachhaltigkeit als Funktion der Freiheit, also keine Nachhaltigkeit ohne Freiheit. Wenn nämlich Freiheit keine Grundlage von Nachhaltigkeit wäre, was für eine Nachhaltigkeit hätten wir dann? Ressourcengerechtigkeit… für wen? Und was ist eigentlich mit gesellschaftlicher Nachhaltigkeit, also dem Einhalten sozialer Belastungsgrenzen um Gesellschaft dauerhaft funktionsfähig zu halten? Ohne eine intakte Gesellschaft, ohne Kohäsion ihrer Mitglieder, ohne genügend „Sozialkapital“ funktioniert sie nicht und es gibt auch keine Freiheit mehr.
Ich vermute stark, dass wir Grünen Nachhaltigkeit als Funktion der Freiheit buchstabieren müssen und so den scheinbaren Widerspruch zwischen beiden in etwas anderes zu überführen: eine Form der Selbstreferenzialität. Ich denke jetzt an Spencer Brown (sorry, als alter Lumannianer!), denn wenn F = F(N) ist und N = N(F), dann haben wir F = F(N(F(N(F(N.…) = N. Das mag jetzt ein wenig abstrakt ausschauen, aber mir geht es darum, die große Aufgabe von uns Grünen klarzumachen: Wir sind die Partei, die Freiheit und Nachhaltigkeit in einen rekursiven Zusammenhang bringen, das eine erwächst aus dem anderen. Das reichert den Nachhaltigkeitsbegriff an, weil der damit in die Nähe der Menschenwürde rückt und ein „demokratische Begriff“ wird; zum anderen reichert es den Freiheitsbegriff an, weil der eingebettet wird in den größeren Zusammenhang von Natur und Gesellschaft.
Also packen wir es an!
„Freiheit und Nachhaltigkeit in einen rekursiven Zusammenhang bringen“ gefällt mir – auch wenn’s noch nicht ganz der griffige Claim für dieses Programm ist.
So widersprüchlich ist das gar nicht. Wenn du dich einmal in die Philosophie der Freiheit einliest, dann wirst du ganz schnell darauf stoßen, dass Freiheit eben genau da ihre Grenzen haben soll, wo die Freiheiten der anderen verletzt werden. Das ist als Goldene Regel in praktisch allen Religionen enthalten und ist auch in der Erklärung der Menschenrechte von 1789 zentral:
„Die Freiheit ist die Vollmacht, die jedem Menschen alles zugesteht, was den Rechten des anderen nicht schadet; ihre Grundlage hat sie in der Natur, ihre Richtschnur in der Gerechtigkeit, ihren Schutz im Gesetz, ihre moralische Grenze im Grundsatz: Tue keinem das an, was du nicht dir selbst zugefügt haben willst.“
Das wird im Freiheitsdialog heutzutage gerne unter den Teppich gekehrt. Freiheit ist dann die Freiheit, mit 240 über die Autobahn zu rasen und dabei andere zu gefährden oder als Investment-Heuschrecke ganze Staaten zu ruinieren. Im Kern müsst ihr als Partei eben stärker diese zweite Komponente von Freiheit vermitteln. Nicht die „egoistische Freiheit“ im Stil der neoliberalen Wirtschaftspolitik der FDP, in der ich eben tun und lassen kann, was ich will ohne Rücksicht auf Konsequenzen, sondern eben diesen Aushandlungsprozess von Freiheit. Dann löst sich auch der angesprochene Grundwiderspruch auf: Wenn meine Freiheit die Umwelt zerstört, dann besteht Regelungsbedarf. Ob das jetzt der Veggie-Day sein muss, ist natürlich ein anderes Thema. Bei der Atomkraft etwa greift das deutlicher – meine Freiheit, jetzt günstig Energie zu produzieren, verletzt klar die Rechte der nachfolgenden Generationen, die mit dem Atommüll umgehen müssen.
Ein bisschen verklausuliert (die Klammer „und letztlich als Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse individuelle Freiheiten einzuschränken, wenn sonst die Freiheiten anderer beschränkt würden“) habe ich die goldene Regel ja durchaus oben eingebaut. Einen Widerspruch – oder vielleicht besser: einen Zielkonflikt – sehe ich, unterhalb der im Wahlkampf leider nicht unwichtigen rhetorischen Oberfläche – dennoch, nämlich dann, wenn es nicht um den konkreten Schaden geht, den konkrete Mitmenschen erleiden könnten, sondern um – Stichwort Nachhaltigkeit – den möglichen oder sogar wahrscheinlichen Schaden zukünftiger Generationen (von einem nicht-anthropozentrischen Freiheitsbegriff mal gar nicht zu reden). Das ist dann so ähnlich wie die Unfähigkeit kleiner Kinder zum Bedürfnisaufschub. Warum soll ich eine Einschränkung meiner Freiheit hinnehmen, wenn es um Schäden geht, die 50 oder 100 Jahre in der Zukunft liegen (und möglicherweise sogar unsicher sind)? Da liegt die Schwierigkeit, das Ziel, Freiheit in Zukunft zu erhalten, heute zu vermitteln.