Als Vegetarier betrifft mich der Pferdefleischskandal nicht so wirklich. Könnte eine oder einer jedenfalls denken. Aber eigentlich ist der Pferdefleischskandal, wie die x Lebensmittelskandale davor, eher ein Symptom dafür, dass insgesamt irgendetwas nicht stimmt mit unserer hochindustrialisierten Lebensmittelindustrie – und, das muss mitgedacht werden, mit den Einkommensverhältnissen.
Ich habe mal nachgeschaut. Im Jahr 2012 habe ich monatlich etwa 260 Euro für „Haushalt“ ausgegeben. Das sind in meiner eigenen Statistik* vor allem Lebensmittel, aber auch Verbrauchsartikel wie Toilettenpapier, Geschirrspülmittel oder Shampoo. Dazu kommen Bargeldausgaben – vor allem für Kantinenessen beim Arbeiten und Verpflegung beim Pendeln. Das dürften nochmal um die 200 Euro pro Monat sein. Grob geschätzt gebe ich also monatlich 420 Euro für Lebensmittel aus. Für mich und zwei halbe** Kinder. Im Bioladen, und unterwegs eben – leider meist nicht sehr ökologisch – an Bahnhöfen und in Kantinen. Ich trinke keinen Alkohol, rauche nicht und esse kein Fleisch – all das würde vermutlich zu deutlich höheren Ausgaben führen, insbesondere dann, wenn ich an Bioqualität festhalte.
Sind 420 Euro viel oder wenig? Das kommt auf den Maßstab an. Für Miete und Nebenkosten zahle ich beispielsweise fast doppelt soviel (ja, Freiburg ist teuer). Bezogen auf meine monatlichen Einnahmen (netto) sind 420 Euro etwa ein Fünftel. In der Perspektive finde ich das akzeptabel.
Mit Blick auf Minijobs, Hartz-IV-Einkommen und den Niedriglohnbereich sind Ausgaben von 420 Euro für Lebensmittel für einen Haushalt vermutlich eher hoch.
Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und die laufende Wirtschaftsrechnung (LWR) des statistischen Bundesamts mögen dabei helfen, diese Zahlen einzusortieren. Das Haushaltsnettoeinkommen lag demnach im Jahr 2010 bei 2922 Euro. Für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren wurden durchschnittlich 305 Euro im Monat ausgegeben. Die erfassten Haushalte bestehen im Schnitt aus 2,0 Personen.
Das Statistische Bundesamt schlüsselt die Angaben allerdings noch weiter auf, nämlich nach Haushaltsnettoeinkommen:
Monatliches Nettoeinkommen (in Euro) | Haushalte insgesamt | unter 1300 | 1300 – 2600 | 2600 – 3600 | 3600 – 5000 | 5000 – 18000 |
Anteil an allen Haushalten | 100% | 9,1% | 26,5% | 19,7% | 21,4% | 23,3% | Personen je Haushalt | 2,0 | 1,1 | 1,6 | 2,2 | 2,7 | 3,0 |
Haushaltsnetto-einkommen | 2922 | 900 | 1936 | 3065 | 4222 | 6740 |
… pro Kopf | 1461 | 818 | 1210 | 1393 | 1564 | 2247 |
Ausgaben für Nahrungsmittel | 305 | 162 | 249 | 341 | 413 | 484 |
… pro Kopf | 152 | 147 | 156 | 155 | 153 | 161 |
Anteil Nahrung am Haushalts-nettoeinkommen | 10,4% | 18,0% | 12,9% | 11,1% | 9,8% | 7,2% |
Zahlengrundlage: Destatis, Fachserie 15, Reihe 1, 2010 (LWR/EVS Westdeutschland) – z.T. eigene Berechnungen
Diese Zahlen lassen nun zwei interessante Feststellungen zu. Zum einen sind die durchschnittlich pro Kopf getätigten Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren erstaunlich stabil. Das mag zum Teil ein Artefakt davon sein, dass in den „höheren“ Haushaltsnettoeinkommenskategorie vielköpfige Familien (eineinhalb bis zwei normale Einkommen, Kindergeld) mit kinderlosen Paaren mit sehr hohen Einkommen zusammengefasst sind. Das ließe sich zwar statistisch auseinanderrechnen, die dafür notwendigen Detaildaten liegen mir aber nicht vor (vermutlich gibt es entsprechende Berechnungen …). Jedenfalls steigt das Pro-Kopf-Haushaltsnettoeinkommen im Durchschnitt mit dem Haushaltsnettoeinkommen – und die Ausgaben für Lebensmittel bleiben pro Kopf nahezu stabil (147 Euro pro Monat in der niedrigsten Einkommenskategorie, 161 Euro pro Monat in der höchsten Einkommenskategorie).
Verglichen damit sind zweitens meine grob 420 Euro (für einen Erwachsenen und zwei halbe Kinder, also für 2,0 Personen => 210 Euro pro Monat und Kopf) und der Anteil dieser Ausgaben an meinem Einkommen deutlich oberhalb des Durchschnitts liegt. Im Vergleich mit dem gesellschaftlichen Durchschnitt – und zwar unabhängig davon, ob ich mich mit allen Haushalten vergleiche oder nur mit meiner Einkommensgruppe – gebe ich also eher mehr für Essen aus als der durchschnittliche Haushalt (und weniger für Freizeit, Unterhaltung und Kultur). Und komme damit einigermaßen klar – aber vielleicht auch nur deswegen, weil mir diese Höhe an Ausgaben für Lebensmittel normal vorkommt.
Zum Vergleich: der Anteil für Nahrungsmittel, Getränke und Tabak im Hartz-IV-Regelsatz liegt bei 127 Euro (bezogen auf wie auch immer errechnete 133 Euro Ausgaben für Nahrungsmittel etc. im untersten Einkommensfünftel der Bevölkerung).
Womit wir beim Pferdefleisch in der Lasagne angekommen sind. 152 Euro pro Kopf und Monat sind pro Tag ziemlich genau 5 Euro (und 7 Cent). Und zwar als Durchschnitt, in dem auch Auswärtsessen etc. reingerechnet sind. (Nochmal der Vergleich: 4 Euro und 23 Cent im Hartz-IV-Regelsatz). Beides erscheint mir jetzt doch extrem niedrig. An Auswärtsarbeitstagen erst recht – um die 5 Euro kostet da allein schon das Kantinenessen, wenn ich noch 3 Euro für einen Kaffee und ein Croissant morgens und 2 Euro für irgendwas abends dazurechne, bin ich schnell bei doppelt so hohen Ausgaben. Aber auch an Tagen, an denen ich zuhause bin, klingen 5 Euro pro Kopf für mich nach einem sehr niedrigen Satz. So Pi mal Daumen brauche ich an einem beliebig herausgegriffenen Tag (hier nur für mich gerechnet) zum Beispiel:
1/3 Liter Milch => ein Liter Biovollmilch kostet 1,29 Euro => 0,43 Euro
1/3 Brot => ein Brot kostet 2,50 bis 3,50 Euro => 1,00 Euro
Margarine und Kaffee und Brotaufstrich und Eier und Salz und … reichen länger, sagen wir mal, zusammen => 1,00 Euro/Tag
100 g Emmentaler => 1,35 Euro
1 kleine Packung Tofu-Würstchen => 1,99 Euro
Kartoffeln (500 g) => 0,84 Euro
1 Orange => 0,40 Euro
1/2 Tafel Schokolade => 0,76 Euro
Zusammen sind das 7,77 Euro. Und da ist noch kein Geburtstagskuchen und kein etwas komplexeres Mittagessen dabei. Deutlich wird auch: teuer sind Käse, Tofu, Milchprodukte. Insofern fange ich an, mich zu wundern, wie Menschen mit deutlich geringeren Ausgaben für Essen hinkommen.
Damit sind wir beim Mindestlohn. Beziehungsweise bei der Frage, ob die Ausgaben für Nahrungsmittel vom Einkommen abhängig sind. Die Zahlen oben zeigen, dass ein höheres verfügbares Haushaltseinkommen nicht zu deutlich höheren Ausgaben für Lebensmittel pro Kopf führt – jedenfalls nicht in dem Maß, in dem das vielleicht zu erwarten wäre. Gleichzeitig gibt es im unteren Einkommensbereich – und erst recht da, wo Hartz-IV bezogen wird, oder wo es Aufstocker gibt – Haushalte, bei denen die (aus meiner Sicht niedrigen) Ausgaben für Lebensmittel einen mehr als relevanten Anteil an den Gesamtausgaben und am Einkommen ausmachen.
In der Debatte um Pferdefleisch in Tiefkühllasagne tauchen ja nun diese zwei Argumente auf – „sollen sie doch Kuchen essen“, also mehr Geld für Essen ausgeben, die VerbraucherInnen, und höherwertige Produkte kaufen – und die skeptische Frage, ob eine solche Forderung nicht die sozialen Realitäten ignoriert.
Das lässt sich nun nicht wirklich entscheiden. Aber mir scheint schon: auch Haushalte, die es sich leisten könnten, mehr für Nahrung auszugeben, tun dies nicht. Es scheint also – als ganz vorsichtige Interpretation der Zahlen oben – nicht alleine an den verfügbaren Geldmitteln zu liegen, dass VerbraucherInnen niedrigpreisige Lebensmittel konsumieren, und dafür scheinbar Lebensmittelskandale in Kauf nehmen. Discounter und Geizangebote werden auch von denen in Anspruch genommen, die das Geld dazu hätten, auf eine bessere Qualität zu achten.
Warum tun sie das? Ich erinnere mich noch gut, dass eine Bekannte mich ungläubig fragte, worin den der Skandal läge – wer eine Rindfleischlasagne für 1,99 Euro kaufe, müsse doch wissen, worauf er oder sie sich einlässt.
Ich glaube, dass das nicht so ist. Verpackungsdesign und Werbung auch der Billigprodukte – zum Teil sogar gerade der Billigprodukte – suggerieren ja, dass hier für sehr wenig Geld qualitativ hochwertige Lebensmittel gekauft werden. Ich glaube, dass viele das nur allzugerne glauben. Und dass Skandale wie jetzt der um nicht deklariertes Pferdefleisch den Glauben an gut und günstig stören und deswegen so schnell zu öffentlicher Empörung hochkochen. Und ebenso schnell wieder vergessen sind.
Ach ja, Stichwort Mindestlohn. Aus dem Ganzen folgt für mich, dass wir auch im Lebensmittelbereich Preise haben sollten, die die Wahrheit sagen. Und dass wir – Regulation, ich weiß – einige der Umstände beseitigen sollten, die sehr billige Convienience-Produkte ermöglichen. Das fängt bei den Arbeitsbedingungen in Discountern und der Lebensmittelindustrie an, und hört bei der Massentierhaltung nicht auf. Das wird dazu führen, dass die Lebensmittelpreise im Durchschnitt steigen, und dass die Preise von konventionellen Produkten sich den Preisen von Bioprodukten annähern.
Wir sollten das wollen, auch wenn es erst einmal unbequem und unsozial klingt. Aber wir sollten dann auch auf die andere Seite schauen, auf die Seite der Kaufkraft. Das betrifft die Höhe der Hartz-IV-Sätze. Das betrifft einen ordentlichen Mindestlohn. Das bedeutet, aufzuhören, zu glauben, dass Arbeitsplätze, deren Einkommen nicht ausreicht, um davon Miete und Lebensmittel zu bezahlen, vollwertige Arbeitsplätze sind. Das bedeutet, aufzuhören, diese statistisch so zu zählen. Aber anders geht es nicht, wenn wir langfristig und nachhaltig Lebensmittelskandalen ein Ende setzen wollen.
Warum blogge ich das? Realitätscheck.
* Ich finde es hilfreich, einen Überblick darüber zu haben, wie viel Geld ich ausgebe. Deswegen habe ich – schon seit einigen Jahren – Tabellen, in denen ich meine Girokontobewegungen aufschreibe, unterteilt nach Kategorien wie Miete, Haushalt, Informationstechnik usw. Das ganze bei den Barausgaben zu machen, ist mir dann zuviel Aufwand, insofern gibt es da eine Unschärfe.
** Zwei Kinder, die die Hälfte der Zeit bei mir und die Hälfte der Zeit bei ihrer Mutter sind.
.@_tillwe_ Guter Artikel zum Thema „Wert des Essen und der Arbeit“! http://t.co/PIzOC3UKJj
Geschenkter Gaul, oder: von Pferdefleisch und Mindestlohn http://t.co/ayYDYwnh2J
@alex13wetter Ein besserer Text zu Lebensmittelpreisen und sozialer Gerechtigkeit ist hier http://t.co/W1qikuFJ9O
Ich stimme absolut zu, die Preise für viele Produkte sind einfach pervers niedrig und sagen viel darüber aus, welchen Stellenwert wir den verarbeiteten Lebewesen geben… Ich finde auch, dass Produkte wie Fleisch deutlich teurer sein müssten. Dass viele Menschen sich dann nicht mehr so oft Fleisch leisten können, ist zwar auch problematisch und muss diskutiert werden, ist für mich aber eher ein nachrangiges Problem.
[Werbe-URL gelöscht]
Geschenkter Gaul, oder: von #Pferdefleisch und #Mindestlohn http://t.co/fRqJonGuAL von @_tillwe_ Lesen.
Danke für den detaillierten und selbstoffenbarenden Realitätscheck! Der Zusammenhang von Pferdefleischskandal und Mindestlohn mag nicht jedem auf den ersten Blick einleuchten, aber Du stellst ihn überzeugend her.
Anmerken möchte ich, dass nicht nur die Billiglasagne skandalbefallen ist, sondern durchaus auch „Marken„produkte im zumindest mittleren Preissegment. (Und „Bio“ ja inzwischen in Form von Eiern auch irgendwie.)
Wobei sich die Frage stellt, wie viel an Markenprodukten Marke und wie viel Qualität ist. Zum Teil ist es ja nur eine andere Verpackung.
Zu den Eiern: wenn das hier stimmt, dann sind es Freiland-Eier, aber eben zum größten Teil gerade keine Bio-Eier. Auch wenn’s ein schönes Bashing-Ziel wäre.
Hey Till, guter Artikel. Hintergründe zur Problematik findet man in der aufbrausenden medialen Debatte momentan noch nicht so viel. Danke dir.
Hier noch ein Hinweis in eigener Sache. Wenn du über nachhaltiges Leben in der Textilbranche schreibst, dann möchte ich auf meinen Shop hinweisen: h t t p : / / w w w . d o – c h a n g e . c o m . Geht weg von der Profitgeilheit. Mit Mode Aufmerksamkeit für globale Probleme schaffen und damit soziale Verantwortung trendig machen. Meld dich gern, wenn du in dem Bereich etwas schreibst. Viele Grüße, Florian
[URL entlinkt, auch Werbung für die gute Sache ist Werbung]