Wer meine Tweets über den heutigen Tag verfolgt hat, hat gesehen, dass ich immer mal wieder in die Livestreams zur öffentlichen Präsentation des Stresstests zu Stuttgart 21 reingeschaltet und das Geschehen dort kommentiert habe.
Über weite Strecken war das inhaltlich nur so mittelspannend: Die S21-Gegnerschaft hat nochmal dargestellt, warum die Prämissen des Stresstests dem Schlichterspruch aus dem Herbst nicht gerecht werden, und dass der Vergleich zwischen der begrenzten und mit bestimmten Randbedingungen versehenen Modellierung von Stuttgart 21 mit dem jetzigen Kopfbahnhofszustand ohne Optimierung einer von Äpfeln und Obstbäumen ist. Die S21-Befürworterschaft – von der Bahn bis hin zum SPD-MdL Rivoir, der gerade versucht, dem BUND die Gemeinnützigkeit zu entziehen – hat erwartungsgemäß all das zurückgewiesen und behauptet, dass alles gut ist. Der Schlichter Dr. Heiner Geißler gab dabei nur eine begrenzt gute Figur ab, ließ sich immer wieder aus der Ruhe bringen, argumentierte parteiisch usw.
Bis dahin jedenfalls das vorläufige traurige Ende einer demokratischen Innovation. (Und ja: Geißler hat recht damit, dass das ganze fünf Jahre zu spät gekommen ist und es hoffentlich, selbst wenn in Stuttgart dadurch nichts gewonnen ist, dazu beiträgt, Bürgerbeteiligung bei Großprojekten frühzeitig groß zu schreiben).
Dann war ich eine Zeitlang mit anderen Dingen beschäftigt, um am späten Nachmittag wieder in den Stream einzuschalten. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass die Stresstest-Präsentation zu diesem Zeitpunkt schon abgehakt gewesen wäre. Aber nein: sie lief auch um 17 Uhr noch. Und zwar mit einer, so ich das beim Wiedereinschalten wahrnehmen konnte, endlosen und wenig einträglichen, auch wenig erträglichen Debatte über die Unterschiede zwischen „guter Qualität“, „Premium“ und „optimaler Wirtschaftlichkeit“.
Eine Schattendebatte – insofern fand ich das, was dann kurz vor 18 Uhr passierte, folgerichtig (auch wenn’s mich an Berichte aus StuPa-Sitzungen erinnerte): Das Aktionsbündnis erklärte, sich an der Debatte nicht weiter beteiligen zu wollen, sondern vielmehr jetzt aus der Sitzung heraus zu gehen, um in einer Sitzungsunterbrechung die weitere Haltung der Aktionsbündnis-Delegation zu klären.
Großes Hallo – und Geißler wurde damit gezwungen, eine Karte früher als von ihm geplant auszuspielen. Statt den Kompromissvorschlag den versammelten AkteurInnen erst auf den Nachhauseweg mitzugeben, gab es ihn – zur Überraschung aller, auch der live übertragenden Fernsehsender – dann schon für die Sitzungspause. Und hier war er dann eher Yoda – denn der von ihm verteilte Vorschlag besagt nichts anderes als eine komplette Umplanung: Statt acht Gleisen Tiefbahnhof nur vier, statt einem komplett abgerissenem Gleisvorfeld ein reduzierter Kopfbahnhof, der für den regionalen Verkehr zuständig ist, während der West-Ost-Fernverkehr durch den Tunnel laufen soll.
Ganz neu ist dieser Vorschlag in der Tat nicht; ähnliches wurde schon in den 1990er Jahren lanciert (u.a. in einem Text, der in den letzten Monaten immer wieder herausgegraben wurde, um Verkehrsminister Winne Hermann vorzuhalten, er sei doch auch schon einmal für Stuttgart 21 gewesen). Trotzdem ist dieser Vorschlag ein guter Kompromissvorschlag im besten Sinne des Wortes. Beide Seiten müssten sich hier aufeinander zu bewegen; auch in der gebauten Sache würde sich tatsächlich etwas ändern. Einige der gravierendsten Probleme mit Stuttgart 21 würden zumindest abgeschwächt. Es wäre mit dem Vorschlag möglich, an den aktuellen Bau- und Planungsstand anzuschließen. Und die – in der Stresstest-Präsentation nicht aufgelösten – Versäumnisse der Bahn in Richtung „S21+“ (also Sicherheit, Barrierefreiheit usw.) wären auch weitgehend vom Tisch.
Boris Palmer hat in einer sehr guten Rede deutlich gemacht, dass er es für sinnvoll hält, über diesen Kompromiss zumindest nachzudenken. Es sei klar, dass nicht alle S21-Gegner diesen teilen würden. Aber ernsthaft in Verhandlungen darüber zu treten und auf beiden Seiten Zugeständnisse in der Sache zu machen, könnte tatsächlich dazu führen, dass die Stadt befriedet wird – Geißlers Anliegen bei der Sache.
Auch ein weiteres Argument von Boris fand ich bedenkswert: Inhaltlich verantwortlich für den Vorschlag zeichnet nämlich SMA, also die schweizer Firma, die das Audit des Stresstests übernommen hat. Sowohl die vielen negativen Zwischenbemerkungen im Audit des Stresstests als auch das Renomee dieser Firma in der Fahrplan-Planung sprechen dafür, dass der Kompromissvorschlag damit Hand und Fuß hat.
Ein Geißler’scher Coup? Ich hatte am Bildschirm eher den Eindruck, dass Geißler fast verzweifelt versucht hat, irgendetwas zu tun, was doch noch in Richtung Schlichtungserfolg verstanden werden könne. Dass aus seiner Sicht der Vorschlag eher dazu dient, dem Aktionsbündnis eine Brücke zu bauen, Stuttgart 21 doch irgendwie mitzutragen, als eine ernsthafte Neuplanung zu erreichen. Wenn das so wäre, wäre das schade. (Oder noch böser gesagt: divide et impera).
Ich spekuliere hier, kann mir aber vorstellen, dass SMA nicht nur die bahntechnische Zuarbeit geleistet hat, sondern dass der Kompromissvorschlag aus Sicht von SMA sozusagen der zweite, fachlich fundierte Teil des Stresstest-Audits war – also ein Vorschlag, wie die im Stresstest weiterhin aufgezeigten Probleme bei besserer Betriebsqualität gelöst werden könnten. Zugespitzt: ein ingenieurtechnischer Kommentar zur deutschen S21-Debatte.
Die Resonanz auf Seite des Aktionsbündnisses auf den Vorschlag war unterschiedlich. Auch hier gab es einige, die ihn inhaltlich eher weggewischt haben, um K21 zu propagieren oder den Vorschlag nur als Vorwand für einen weiteren Baustopp sahen (der allerdings für eine ernsthafte Debatte, auch wenn Geißler das nicht so sehen wollte, sicher sinnvoll wäre). Dennoch: überwiegend war der Eindruck, der im Livestream und auch auf Twitter nachzuvollziehen war, einer, sich ernsthaft damit auseinandersetzen zu wollen – um des Friedens in der Stadt willen.
Und die andere Seite? Die scheint am städtischen Frieden nicht interessiert zu sein. Vielmehr wurde in recht arroganter Weise erklärt, der Kompromissvorschlag sei ein alter Hut, es sei entschieden und eh viel zu spät, noch irgendetwas zu ändern und ein solcher Vorschlag würde natürlich von der SPD in der Landesregierung nicht mitgetragen. Kurz: zwischen Bahn, CDU – auch die Stadt Stuttgart – und SPD passte kein Blatt Beton.
Dieses Desinteresse der S21-Pro-Seite daran, über eine mögliche sachliche Lösung überhaupt nur nachzudenken, desavouiert natürlich zum einen den Schlichter Geißler. Offensichtlich war er nur als geduldiger Moderator gefragt, aber nicht als einer, der versucht, eine inhaltliche Lösung zu finden. Was das über den Schlichtungsprozess insgesamt aussagt, darüber wäre noch nachzudenken. Der Schlag ins Gesicht des Schlichters ist aber – und das ist viel schlimmer – auch einer ins Gesicht aller Menschen, die die Hoffnung hatten, ein Verfahren wie das S21-Schlichtungsverfahren könne zu einem ernsthaften und vernünftigen Gespräch werden. Nein, Bahn, CDU und SPD haben ihre Scheuklappen kein einziges Mal abgesetzt, sondern laufen stur in Richtung Untertunnelung.
Auf mich macht das nicht den Eindruck, das hier mit offenen Karten gespielt wird, sondern lässt den Verdacht aufkeimen, dass den S21-BefürworterInnen nicht eine gute Lösung für den Bahnverkehr und für die Stadt am Herzen liegt, sondern dass es da andere Interessen geben muss. Vielleicht ist das auch Vorurteil meinerseits – aber Dialogfähigkeit haben diese Akteure jedenfalls definitiv nicht gezeigt. Wenn es in der Politik aber darum geht, materielle Kompromisse zu finden, dann haben sich Bahn, CDU und SPD in dieser Sache schlicht als politikunfähig erwiesen. Und auch das wirft kein gutes Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft.
Warum blogge ich das? Als eine Art ausgeweitete Zusammenfassung meiner heutigen Tweets.