Ich bin ja froh, dass die Koalitionsverhandlungen nicht am Thema S21 geplatzt sind – das wäre für Baden-Württemberg miserabel gewesen. Aus grüner Perspektive ist der Kompromis, der jetzt erreicht wurde – Kostendeckel, Volksabstimmung (nur über S21) – schon ein bisschen krötenartig. Aber manchmal müssen Kompromisse wohl so sein.
Interessant an der Sache finde ich einen Punkt – nämlich den unterschiedlichen Umgang mit den Abstimmungsquoren seiten der Grünen und der SPD. Natürlich war auch uns Grünen vor der Wahl bekannt, dass die Landesverfassung demokratiefeindliche Quoren festschreibt. Ich glaube aber, wir sind einfach davon ausgegangen, dass es „natürlich“ im Falle eines Falles (klare Mehrheit, aber Quorum verfehlt) darum gehen wir, dass eine Landesregierung die Meinung der Bevölkerung respektiert.*
Hier aber – und das ist nun aus meiner Sicht das interessante, wenn es nicht einfach Taktik war – spalten sich Grüne und SPD. Während es für mich, und ich glaube, da spreche ich für viele Grüne, zum guten politischen Stil gehört, dass ein deutliches Abstimmungsergebnis auch akzeptiert wird, wenn die formalen Kriterien eines Volksabstimmungserfolgs nicht erfüllt sind, wenn also kein Drittel der Stimmberechtigten zugestimmt hat, scheint das bei der SPD anders zu sein. Dort gilt – den Berichten und einigen Medienechos zufolge – es schon fast als verfassungsfeindlich, wenn eine formal nicht erfolgreicher Volksabstimmung trotzdem politisch Berücksichtigung findet. Common sense vs. Gesetzestreue, Zutrauen zu den BürgerInnen vs. Angst vor direkter Demokratie – oder was steckt dahinter?
* Was ja übrigens im umgekehrten Fall – klare Mehrheit gegen S21-Ausstieg, aber Quorum verfehlt – auch nie zur Frage stand.
P.S.: Was ich mit unterschiedlichen Demokratieverständnissen meine, illustriert sehr schön dieser Satz von Nils Schmid im Interview mit SpOn (auf die Frage nach dem Quorum, und was passieren würde, wenn ein Volksentscheid daran scheitert):
Schmid: Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung auch dies akzeptieren würde. Die Hürden sind hier nun einmal so hoch wie in kaum einem anderen Bundesland. Aber wir müssen uns da an unsere Verfassung halten.
Argh! Sind alle SozialdemokratInnen so drauf?
P.P.S.: Ich muss jetzt doch noch die Vierfeldertafel zur Illustration reinbasteln:
Mehrheit für S21-Ausstieg | ||
Ja | Nein | |
Quorum erreicht | S21-Ausstieg | S21-Bau |
Quorum nicht erreicht | SPD: S21-Bau Grüne: warum eigentlich? |
S21-Bau |
Tja – die grüne Basis hat es in der Hand, den Koalitionsvertrag abzulehnen und NAchbesserungen zu fordern.
Kretschmann hat sein eigentlich besseres Blatt viel zu früh aus den Händen gegeben.
@smil: Ich war bei den Verhandlungen zu S21 nicht dabei, aber nach allem, was ich gehört habe, hat die SPD sich hinsichtlich der Sachfrage S21 extrem stur gestellt. Warum das bei irgendwelchen Nachverhandlungen anders laufen sollten (oder bei hypothetischen Verhandlungen CDU-Grüne), ist mir nicht klar. Insofern teile ich die Einschätzung nicht, dass Kretschmann sein Blatt zu früh aus den Händen gegeben hätte.
Ein Platzen der Koalitionsverhandlungen kann sich die SPD noch weniger leisten als die Grünen.
Es hätte durchaus Spielräume gegeben, die CDU zu zwingen, einer Verfassungsänderung betr. Volksentscheiden zuzustimmen (z.B. durch eine geänderte Fragestellung bei einem eventuellen VE).
Für die Grünen ist es ein Spiel mit dem Feuer, einen undemokratischen Volksentscheid durchzuführen.
@smil(e): Ich teile die Einschätzung weiterhin nicht. Der Volksentscheid ist undemokratisch, aber er ist das beste, was da überhaupt rausholbar war. Meiner Einschätzung der BaWü-SPD zufolge gäbe es da durchaus einige, die „notfalls“ auch eine Koalition mit der CDU eingegangen wären – insofern stimmt es nicht, dass die SPD sich ein Platzen noch weniger hätte leisten können als wir. Ich halte ja vieles von dem, was der Ex-SPDler @tauss hier geschrieben hat, für arg übertrieben und nur aus seiner jetzigen Position heraus erklärbar – ein bisschen was ist allerdings trotzdem dran.
Und die angesprochenen Spielräume, um die CDU zu irgendwas zu zwingen, sehe ich nun beim besten Willen nicht.
Was dahinter steckt? Es steckt nichts als Trickserei dahinter. Die SPD- Landtagsfraktion um Schmid, Schmiedel und Drexler wollen das Projekt um jeden Preis und koste es was es wolle durchdrücken. Wenn die Grünen diese und andere Irrationaliäten dieser Leute nicht von vornherein zur Kenntnis nehmen, wird es ein verkatertes Aufwachen geben. Allein dass man der SPD ohne Not zugunsten des machtlosen Justizministeriums das Innenministerium überlässt ist in hohen Maß unpolitisch. Herr Gall wird die Parkschützer im Zweifel mit Wasserwerfern aus den Bäumen schiessen, wie es Schmid ja bereits angedeutet hat. Und er ist ein Fan der Mappus-Polizei, wie die nur vom Parteitag verhinderte Ablehnung des Untersuchungsausschusses bewiesen hat. Viel Spass, liebe Grüne! Gall wird ohne Zögern in der Innenministerkonferenz für VDS, Antiterrorgesetze etc. eintreten. Die grüne Glaubwürdigkeit wäre so bürgerrechtlich rasch endgültig dahin, zumal sich der grün angestrichene Teufel als neuer MP für alles aber auch nicht für Bürgerrechte interessiert. Wahrscheinlich kommt es aber gar nicht so weit: Ich glaube immer noch nicht, dass Kretschmann aus der SPD alle Stimmen bekommt. Mit der CDU können es die Drexlers wesentlich besser. Simonis, Ypsilanti & Co lassen grüßen. Und selbst wenn es klappen sollte: Auf volle 5 Jahre wette ich aber keinen Cent. Das Geld wäre verloren. Wetten?
Hm… Ist wirklich jemand davon ausgegangen, dass ein Volksentscheid allgemein akzeptiert werden würde, wenn das Quorum nicht erreicht wird?
Im Prinzip stimme ich Dir hier ja zu, aber irgendwie kommt mir das recht beliebig vor. So „Ist mir doch egal, was die Vorgaben sind, die Abstimmung gilt auch so“…
Gilt das auch für Satzungsänderungen bei den Grünen? Ich frage nur mal so für mein Demokratieverständnis…
@Florian Wilhelm: Ich kann dich beruhigen, bei grünen Satzungsänderungen gilt eine 2/3‑Regel. Aber das ist was anderes als das Quorum (das ja nicht sagt, es muss eine qualifizierte Mehrheit von xyz-Prozent erreicht sein, sondern es müssen so-und-so-viel-Prozent der Bevölkerung zur Wahl gehen und mit ja stimmen). Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch sachliche Gründe für ein Quorum gibt – aber nicht für eines, bei dem 33 Prozent der Wahlberechtigten in ganz normalen Sachfragen (geht ja nicht um Verfssungsänderungen oder so) mit ja stimmen müssen.
Nochmal zu den Spielräumen: eine knappe Niederlage (also nur z.B. 65 Prozent) bei einem Satzungsänderungsantrag auf z.B. einem grünen Parteitag wird die unterlegene Gruppe durchaus ermuntern, es bei nächster Gelegenheit nochmal zu versuchen.
Ganz einfach: Sich auf eine Strategie einigen, bei der am Ende ein VE steht, den die Pro-Seite gewinnen muß (ist auf BAA recht gut beschrieben).
Eine damit konfrontierte CDU müßte einer Verfassungsänderung zustimmen, wollte sie die Chance wahren, S21 bauen zu können.
Politik halt.
„Argh! Sind alle SozialdemokratInnen so drauf?“
Ich hoffe doch sehr, dass sich alle Sozialdemokraten an Recht und Gesetz und natürlich insbesondere an die Verfassung halten.
Aber das hatten wir ja schon einmal bei Twitter: während Du der Meinung warst, dass man sich die Gesetze, die man befolgen muss, nach Bedarf aussuchen kann, wenn es der „guten Sache“ dient, war ich der rechtsstaatlichen Auffassung, dass Gesetze nun einmal für alle da sind, auch und gerade für die Regierung.
@smile: Und welche SPD hätte sich darauf eingelassen? (Die wollen S21!)
@Christian S.: Ich erinnere mich da ein klein wenig anders dran – meine Position ist und war die, dass es zwar richtig ist, sich an Gesetze zu halten, dass es aber Situationen gibt, in denen es möglicherweise auch richtig sein kann, die Konsequenzen, sich nicht an ein Gesetz zu halten, in Kauf zu nehmen (weil z.B. ein Gesetz etwas von einem verlangt, was die Menschenwürde anderer verletzt).
Zu S21: natürlich muss die Regierung sich an die Verfassung halten (da würde sogar ich zustimmen). Aber steht in der Verfassung, dass die Regierung, wenn eine Volksabstimmung aus formalen Gründen nicht erfolgreich ist, das Gegenteil machen muss? Nein.
P.S.: Siehe auch das P.P.S., das ich oben gerade noch eingefügt habe …
„Aber steht in der Verfassung, dass die Regierung, wenn eine Volksabstimmung aus formalen Gründen nicht erfolgreich ist, das Gegenteil machen muss? Nein.“
a. Die SPD ist mehrheitlich für S21 und für die Volksabstimmung und wurde dafür auch gewählt. Mir ist natürlich klar, dass Du es gerne hättest, dass die SPD wortbrüchig wird, aber wir müssen ja nicht jeden Fehler mehrmals wiederholen. Auch wenn die Grünen das gerne hätten. (Mit Grausen erinnere ich mich an die Merkelsteuer.)
b. Trickserei führt uns nicht weiter. Dass das Quorum zu hoch ist richtig. Es war eben ein Fehler von SPD und Grünen, alles auf eine Karte zu setzen und die Absenkung des Quorums auf 25% zu verhindern.
@Till: Weil die SPD sich nicht auf ein faires Verfahren einläßt, lassen sich die Grünen auf ein unfaires ein?
Die SPD ist Juniorpartner!
Die SPD hat aus Schwarz-Rot im Bund hoffentlich gelernt, dass sie sich nicht über den Tisch ziehen lassen darf. Das finden Grünen-Anhänger natürlich doof, aber auch die SPD lernt dazu.
Wenn die Minderheit der SPD gegen S21 ist, ist die Regierung insgesamt mehrheitlich dafür – aber das nur nebenbei. Ich könnte dir eine ganze Reihe kleinerer Punkte nennen, wo wir Grüne unsere Wahlversprechen nicht umsetzen können, weil die SPD nicht mitzieht. Aber eigentlich braucht’s ja nur deinen Punkt a.:
„a. Die Grünen sind mehrheitlich gegen S21 und für die Volksabstimmung und wurden dafür auch gewählt. Mir ist natürlich klar, dsss Du es gerne hättest, dass die Grünen wortbrüchig werden, aber wir müssen ja nicht jeden Fehler der SPD wiederholen. Auch wenn die SPD das gerne hätte.“
Und nu? Ist doch klar, dass weder wir noch die SPD uns in der Frage Stuttgart21 hundertprozentig durchsetzen können. Deswegen sind das Koalitionsvereinbarungen zwischen zwei Parteien, deswegen werden Kompromisse ausgehandelt (und ausgedealt). Den bei S21 finde ich gerade noch erträglich.
Was aber hätte die SPD verloren, wenn sie gesagt hätte, angesichts der Situation, dass die einen Hü und die anderen Hott wollen – machen wir doch einfach einen ergebnisoffenen Volksentscheid und vereinbaren, dass wir das Ergebnis auch dann anerkennen, wenn das 33%-Quorum, das beide Parteien für zu hoch finden, aber ohne CDU nicht senken können, nicht erreicht wird?
Abgesehen von @tauss’schen Tricksereien, die ich der SPD erstmal nicht unterstellen will, sehe ich nicht wirklich einen Grund, warum die SPD sowas nicht akzeptiert. Sondern sich dann an die Verfassung klammert, die eine solche Absprache meiner Meinung nach aber gar nicht verbietet. Außer eben ein komplett anderes Demokratieverständnis.
@Christian S.: Die Netzwerker Schmid, Drexler und Schmiedel haben die SPD intern schon derart über den Tisch gezogen, dass es einem schlecht werden kann.
Werter @till Sicherlich schreibe ich aus meiner heutigen Position heraus ‑aber eben auch aus Erfahrung.. Zudem kenne ich die Agierenden aus der Vergangenheit. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich heftigere politische Gegner als ausgerechnet in der bawü-Landtagsfraktion meiner eigenen Partei. Und was Herrn Gall anlangt täusche ich mich so wenig wie bezüglich der anderen Herrn um Drexler.
„Mir ist natürlich klar, dsss Du es gerne hättest, dass die Grünen wortbrüchig werden“
Das stimmt nicht. Die Grünen haben „Volksabstimmung“ plakatiert. Einfach das Wahlversprechen einhalten und gut isses.
„Was aber hätte die SPD verloren, wenn sie gesagt hätte, angesichts der Situation, dass die einen Hü und die anderen Hott wollen – machen wir doch einfach einen ergebnisoffenen Volksentscheid und vereinbaren“
Erstens ist das Trickserei; zweitens würde der Staatsgerichtshof uns das vermutlich um die Ohren hauen.
@tauss: Ich würde der SPD gerne die Gelegenheit geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Gewisse Vorurteile habe ich natürlich auch.
@Christian: Wir haben „Volksabstimmung“ plakatiert, weil wir für mehr direkte Demokratie sind. Und warum sollte der Staatsgerichtshof etwas dagegen haben, wenn Grüne und SPD sich als Regierung inhaltlich einigen, so oder so zu verfahren? Tut mir leid, ich sehe *da* keine juristischen Hintertüren.
@till Jedem seine Chance! Klar. Hoffe auch, dass ich mich irre ;)
Frage: Spielte die Baumschützer-Idee von der PRO S21 Abstimmung irgendwann eine Rolle? Halte die Idee unverändert zumindest für charmant ;)
Die SPD hat Euch einfach abgezogen:
Klick
@smile: Interessanter Text. Schauen wir mal, ob die SPD damit letztlich glücklich wird. Ich glaube es nicht.
@till Fühle mich durch diesen Text mehr als bestätigt. Wer sich da noch Illusionen macht ist nicht GRÜN sondern politisch GRÜN hinter den Ohren
http://21einundzwanzig.de/451/auf-ein-viertele-mit-schmiedel
@Till: Was ich immer noch nicht so richtig verstehe ist, warum man zwingend davon ausgeht, dass es eine Abstimmung „gegen“ S21 sein muss. Also warum die Fragestellung zwingend heißen muss „Wollen Sie, dass Stuttgart 21 nicht gebaut wird?“ Wenn die SPD so überzeugt von der demokratischen Qualität des Quorums ist – warum kann die Frage dann nicht einfach heißen „Wollen Sie, dass Stuttgart 21 gebaut wird?“
Ich vermisse diesen Aspekt irgendwie in der ganzen Debatte…
Ich kann nicht erkennen, wo hier ein Kompromiss vorliegt. Die SPD hat auf ganzer Linie gewonnen: Der Volksentscheid wird für die S21-Gegner nicht zu gewinnen sein, also wird S21 gebaut, was die SPD ja aus mir schleierhaften Gründen unbedingt will.
Ergebnis: Winfried Kretschmann wird dafür verantwortlich sein, dass die Parkschützer in einer Neuauflage des Schlossparkmassakers im Namen des „Rechts“ aus dem Weg geräumt werde. Dabei ist es egal, wer von der SPD den Innenministerposten bekommt.
Das Gastspiel der Grünen an der Macht wird nur von kurzer Dauer sein.
@thd: Erstens glaube ich nicht, dass die SPD da mitspielt. Und zweitens kann es sein, dass es nicht geht, weiss ich aber nicht genau. Es geht ja um den Stopp der Mitfinanzierung des Landes – wie da eine rechtlich zulässiger Volksabstimmung konstruiert werden kann, ist glaube ich nicht ganz einfach.
@Tichodroma: Kompromiss, weil die SPD noch viel mehr wollte. Sie wollte, dass die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm mit in die Volksabstimmung kommt (was jetzt nicht der Fall ist, und was es sehr schwierig gemacht hätte, für den Volksentscheid zu werben), und die Grünen haben einen Kostendeckel durchgesetzt. Letzters könnte letztlich entscheidender sein als der Volksentscheid.
@Till: Der Kostendeckel wird aber nicht verhindern, dass S21 gebaut wird. Es geht doch nur darum, ob das Land mehr als die ohnehin schon absurd hohen 4.5 Mrd. € zahlt. Im Zweifelsfall zahlt halt der Bund oder die Bahn.
Bei S21 kann es keinen Kompromiss geben. Entweder wird gebaut oder nicht.
Bund und Bahn sind aber auch ziemlich pleite. Ich glaube nicht, dass die, wenn es tatsächlich zu erheblichen Mehrkosten kommt, nicht doch nochmal über das Projekt nachdenken.
@Till: „Natürlich war auch uns Grünen vor der Wahl bekannt, dass die Landesverfassung demokratiefeindliche Quoren festschreibt.“
Bin ich richtig informiert, dass CDU und FDP erst 2010 einen Antrag im Landtag eingereicht hatten, mit dem das Quorum auf ein demokratiekompatibleres Maß gesenkt werden sollte – und dass die Grünen dies damals abgelehnt hatten? Und falls dem so sein sollte – warum wurde das gemacht, wenn man doch klar erkannt hatte, dass ein niedrigeres Quorum besser mit den eigenen Auffassungen von Demokratie zusammenpasst?
@christian Da muss ich jetzt ausnahmsweise mal den Grünen beispringen. Das Quorum wäre immer noch lachhaft hoch gewesen und war als Ablenkungsmanöver eine reine CDU-Show. Dem konnte man nicht zustimmen